Tod im Waaghof – Teil 1

Ihr Name war Kowsika

Am 12. Juni 2018 nimmt sich eine junge Frau in einem Basler Untersuchungs­gefängnis das Leben. Sie erstickt, weil sich vom Aufsichts­personal 15 Minuten niemand um sie kümmert. «Tod im Waaghof», Teil 1.

Von Anja Conzett, Daniel Faulhaber, Nivethan Nanthakumar (Text) und Isabel Seliger (Illustration), 27.03.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
0:00 / 19:06

Eine Warnung: Dieser Beitrag behandelt das Thema Suizidalität. Im Text werden Videoaufnahmen beschrieben, die das Geschehen zeigen. Anlaufstellen finden Sie am Schluss des Beitrags.

Es gibt Bilder, die einem bleiben. Die auch Wochen, Monate, Jahre später wieder aufflackern, plötzlich und voller Details, als hätten sie sich tief in alle Schichten des Bewusst­seins gebrannt. Manchmal, weil die Bilder von so heraus­ragender Schönheit sind. Meistens aber, weil sie unerträglich sind.

So wie diese Bilder.

Sie stammen von den Überwachungs­kameras einer Sicherheits­zelle im Untersuchungs­gefängnis Waaghof in Basel. Sie zeigen einen langen, schmalen Raum, weisse Keramik­platten an den Wänden, am einen Ende eine Dusche und eine Toilette, daneben eine schwere Metalltür. Am anderen Ende ein Fenster und ein Bett. Zwei Kameras zeichnen auf.

Die Frau im Bild hat aufgehört zu schreien. Sie schlägt nicht mehr um sich, atmet ruhig. Liegt nur noch da, auf der grünen Matratze aus Plastik, und starrt an die Decke. Den grauen Gefängnis­sweater mit der Nummer 14 hat sie ausgezogen, ihr Oberkörper ist nackt.

Sie sitzt auf. Bindet die schwarzen Locken zurück und schnürt sich das Oberteil um den Hals. Zieht zu. Legt sich wieder hin. Zieht die Decke über den Kopf. Zieht sie wieder weg. Starrt die Wand an.

Eine halbe Stunde geht das so.

Dann, um 12.33 Uhr, steht die Frau auf und erhängt sich mit dem Ärmel des Trainer­oberteils am Fensterknauf.

Die Überwachungs­kamera filmt jedes Detail, 2 Minuten lang, bis die Frau regungslos liegen bleibt; das Gesicht und die Brust in die Zimmerecke gepresst, halb am Boden liegend, den Rücken durchgedrückt, die Beine nach hinten gestreckt.

Mehr als 5 Minuten vergehen, bis drei Aufseher in die Zelle treten. Zwei schneiden das Kleidungs­stück durch, einer spritzt der Frau Wasser ins Gesicht. Ein Aufseher verlässt den Raum. Die beiden anderen folgen kurz danach.

Eine Aufseherin tritt ein. Sie zieht der Frau die Hose aus. Jetzt liegt sie flach auf dem Bauch, das Gesicht noch immer in die Ecke gepresst. Die Aufseherin geht. Die Metalltür fällt ins Schloss. Die Frau bleibt zurück. Alleine. Regungslos.

Es sind jetzt 10 Minuten vergangen, seit sich die Frau am Fenster­knauf erdrosselt hat, einem mond­förmigen Griff aus Metall.

Es dauert noch mal 10 Minuten, bis die Aufseherin mit zwei Kollegen zurückkommt und der Frau an den Hals greift, 12.53 Uhr, zum ersten Mal überprüft jemand die Lebens­zeichen, 13 Minuten nachdem die Aufseher den Raum erstmals betreten haben.

Sie drehen die bewusstlose Frau auf den Rücken. Stehen einen Moment um sie herum. Gehen. Kommen wieder.

12.50 Uhr, Notruf: «Wir sollten den Notarzt haben, 144, und eine Polizei­patrouille. Es geht um einen möglichen versuchten Suizid.» Die Einsatz­zentrale der Kantons­polizei will den Anrufer an die Sanität weiterleiten, aber der winkt ab. «Nein, einfach schicken», sagt der Anrufer, einer der Gefängnis­aufseher, die die bewusstlose Frau gefunden haben und dabei waren, wie sie vom Strang geschnitten wurde. «Ich kann nicht mehr sagen, als ich dir gerade erzählt habe.»

12.55 Uhr, Herzdruck­massage, 22 Minuten nach Beginn der Strangulation.

Um 13.04 Uhr treffen die Notärztinnen im Untersuchungs­gefängnis Waaghof ein. Für die Frau, die entblösst am Boden liegt und seit einer halben Stunde keine Regung mehr zeigt, kommt jede Hilfe zu spät.

Zwei Tage danach, am 14. Juni 2018 um 11.03 Uhr, stirbt sie auf der Intensiv­station des Universitäts­spitals Basel an den Folgen eines Gehirn­versagens durch Sauerstoff­mangel, ohne je wieder das Bewusstsein erlangt zu haben.

Tod im Waaghof

Eine junge Tamilin flieht in die Schweiz. Sie erhält nicht Schutz, sondern kommt ins Gefängnis. Dort erstickt sie vor den Augen mehrerer Aufseher. Wie konnte das geschehen? Zur Übersicht.

Sie lesen: Teil 1

Ihr Name war Kowsika

Teil 3

Plötzlich ist sie ganz still

Bonus-Folge

Podcast: «Sie hätte längst frei sein müssen»

Wer was wann genau tat oder unterliess – das ist seit Sommer 2018 Gegenstand strafrechtlicher Untersuchungen und mehrerer Recherchen in verschiedenen Medien. Im August 2021 mussten sich drei Aufseher und eine Aufseherin in Basel vor Gericht verantworten. Nach einem viertägigen Prozess wurden sie vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Unterlassung und Aussetzung freigesprochen. Zwar hätten die vier Beschuldigten die Sorgfalts­pflicht sehr wohl verletzt (und müssen deshalb einen Teil der Verfahrens­kosten tragen), doch der zwingende «hypothetische Kausal­zusammenhang» sei nicht erstellt – sprich: Man könne nicht mit Sicherheit sagen, dass die Frau überlebt hätte, wenn die Aufseher sie nicht 15 Minuten lang hätten liegen lassen.

Der Gerichts­mediziner sagte dazu vor Gericht aus, dass sich nicht mit Sicherheit sagen liesse, ob die Frau jemals wieder aufgewacht wäre, nachdem es bereits mehr als 5 Minuten gedauert hatte, bis man sie in der überwachten Sicherheits­zelle entdeckte. «Zwei, drei Minuten länger [am Strang; Anm. der Red.] und sie wäre vermutlich tot gewesen.»

Gegen einen fünften Angestellten, der im Auftrag einer privaten Sicherheits­firma für das Gefängnis tätig war, wurde keine Anklage erhoben: Er hätte die Zelle via Bildschirm überwachen sollen und bemerkte über 5 Minuten lang nicht, dass die Insassin im Begriff war, sich zu erhängen. Grund für die Nicht-Anklage: Der Angestellte sei «auch noch mit anderen Aufgaben» beschäftigt gewesen.

Die Aufarbeitung dieses Todes­falls ist damit längst nicht abgeschlossen, die zweit­instanzliche Verhandlung soll im Laufe dieses Jahres geführt werden.

Die Republik und «Bajour» haben sich die Untersuchungs­akten dieses Falls besorgt, sie studiert und die Geschehnisse rekonstruiert. Video­aufnahmen gesichtet, Polizei­rapporte untersucht, Einvernahmen gelesen und mit Angehörigen, Freundinnen und Bekannten der Verstorbenen gesprochen.

Und je genauer wir nachzu­vollziehen versuchten, wie es so weit kommen konnte, dass sich am 12. Juni 2018 eine junge Frau in einer Zelle des Basler Untersuchungs­gefängnisses Waaghof das Leben nahm, desto unerträglicher wurde das Bild und desto klarer die Tatsache, dass die vier Aufseher, die der Erstickenden 15 Minuten lang nicht halfen, bei weitem nicht die Einzigen sind, die sich im Zusammen­hang mit dem Tod der 29-jährigen Tamilin falsch verhalten haben.

Kowsika.

Ihr Name war Kowsika.

Der erzwungene Abschied aus Sri Lanka

Kowsika wird am 9. September 1988 als fünftes von acht Kindern in Point Pedro im Norden Sri Lankas geboren, eines der Geschwister stirbt bei der Geburt. Sie geht zur Schule bis zur zehnten Klasse, verhältnis­mässig lange, eine gute Schülerin. Als Kowsika 12 Jahre alt ist, verlässt der Vater Frau und Kinder. Ein Taugenichts mit Alkohol­problem, sagt Kowsikas Mutter über ihn.

Zur Familie gehören vier Mädchen und drei Buben. Das ist schlecht, denn für gewöhnlich sind es die Männer, die die Familie versorgen. Aber Kowsika, sagt die Mutter, sei anders gewesen als die anderen Töchter – «wie ein Sohn».

Sie meint damit: Kowsika ist die Tochter, die rausgeht, das sichere Haus verlässt, um Geld zu verdienen, die Familie zu ernähren.

In ihrer Freizeit bildet sie sich selbst weiter, besucht Kurse, lernt zu schneidern, liest viel. Gedichte und Bücher des tamilischen Lyrikers und Reformers Subramania Bharati, und vor allem Zeitungen, die sie von der Arbeit nach Hause bringt. Manchmal liest sie der Familie daraus vor.

Schon als Kind sei sie lebhafter gewesen als ihre Geschwister und die Kinder der Nachbarschaft, sagt eine ihrer Schwestern. Und obwohl Kowsika zwei Jahre jünger sei als sie, sei sie immer ihr Vorbild gewesen. Mutig, tapfer, wissbegierig, oft am Lachen. Voller Träume und Ideen.

In Trincomalee, an der Nordost­küste Sri Lankas, wo Kowsika ab 2001 mit ihrer Familie wohnt, arbeitet sie in einem Kosmetik­salon. Wenn eine Hochzeit ansteht, schminkt Kowsika die Braut in der Stube, wo sie mit ihrer Mutter und ihren kleinen Brüdern lebt.

Sie mag es, die Menschen schöner zu machen. Es ist ihr grösster Traum, eines Tages einen eigenen Salon zu betreiben. In ihrem Reise­dokument, mit dem sie das Land bald verlässt, steht «Profession: Beautician».

Am 24. Januar 2017, im Alter von 28 Jahren, verlässt Kowsika ihre Heimat für immer, sie war vergewaltigt worden. Mithilfe von 3,5 Millionen Rupien soll sich Kowsika ausser Landes in Sicherheit bringen, umgerechnet auf den damaligen Gegenwert sind das mehr als 22’000 Franken. Ein gigantisches Vermögen in einem Land, wo das durchschnittliche Jahres­einkommen rund 1300 Franken beträgt. Die Familie verkauft dafür ein Grundstück in Jaffna, nahe von Point Pedro, eines in Trincomalee und Schmuck­stücke der Mutter. Zusätzlich nimmt die Familie einen Kredit auf. Kowsika verspricht, alle Schulden zurück­zuzahlen. Aus Europa Geld nach Hause zu schicken.

Doch zuerst strandet sie in Dubai. Die genauen Umstände sind unklar. Ihrer Familie berichtet sie nur, dass der Schlepper für Unterkunft und Essen sorgt, sie mit anderen Flüchtenden auf dem Weg nach Europa untergebracht ist. Anfang Februar schreibt sie auf Facebook: «Auch einzelne Buchstaben haben eine Bedeutung. Auch einzelne Bäume spenden Schatten für ein ganzes Dorf. Verzweifle nicht, wenn du alleine bist.»

Ankunft in Basel – und jetzt?

Am 29. Mai 2017 stellt sie beim Migrations­amt in Basel ein Gesuch auf Asyl, knapp ein Jahr bevor sie sich im Untersuchungs­gefängnis Waaghof erhängt. Einen Pass hat sie, als sie in Basel vorstellig wird, nicht mehr. Dafür ein Visum von Malta. Damit ist sie über Italien in die Schweiz gereist. Den Pass habe sie dem Schlepper abgeben müssen, sagt sie dem Migrationsamt.

Sie verschweigt den Beamten, dass sie nicht nur in Italien war, sondern auch in Frankreich bei einem entfernten Verwandten. Der nahm sie kurz auf. Doch es war eng, dem Verwandten war es zu riskant, die Geflüchtete ohne Flüchtlings­status länger­fristig bei sich aufzunehmen. Sie zog zu einer Freundin, ebenfalls in Frankreich, auch dort konnte sie nicht lange bleiben, da die Freundin mit einem Mann wohnte, mit dem sie nicht verheiratet war.

So berichtete Kowsika es ihrer Familie in Sri Lanka. Diese Konstellation könnte zu Komplikationen führen, glaubte Kowsika, die aus traditionellen tamilischen Verhältnissen stammte. Den falschen Ruf zu haben, konnte sich eine Frau nicht leisten.

So landet Kowsika Ende Mai 2017 in Basel. Sie hat Bekannte in der Schweiz – auch zwei Onkel, doch das Verhältnis ist entfremdet. Kowsika erzählt der Familie in Sri Lanka, dass sie hofft, hier in der reichen Schweiz rasch Geld zu verdienen, um die Schulden der Überfahrt zu begleichen.

Doch am 18. August 2017 entscheiden die Migrations­behörden, dass sie auf Kowsikas Asyl­gesuch nicht eintreten. Am 5. September wird ihr der Entscheid mündlich eröffnet. Eine Dolmetscherin übersetzt. Kowsika muss das Land verlassen, gleichzeitig wird ein Einreise­verbot ausgesprochen. Auf die Frage des Basler Migrations­amts, ob sie verstanden habe, antwortet sie: «Ja.»

Und unter dem Titel «Rechtliches Gehör» gibt sie zu Protokoll: «Ich weiss nicht, was ich sagen soll.»

Das Scheitern einer europäischen Idee

Seit Jahren bilden Tamilinnen eine der grössten Flüchtlings­gruppen, die die Schweiz erreichen. In Sri Lanka sind sie eine Minderheit, die von der singhalesischen Mehrheits­regierung unterdrückt und in vielen Fällen politisch verfolgt wird. Das halten Uno-Sonderberichte in regelmässigen Abständen fest – und warnen davor, tamilische Flüchtlinge nach Sri Lanka abzuschieben. Trotzdem gilt Sri Lanka der Schweiz als «sicherer Herkunfts­staat», was den Vollzug von Wegweisungen dorthin erlaubt.

2013 schob die Schweiz zwei Tamilen nach Sri Lanka ab. Sie wurden dort noch am Flughafen festgenommen und später gefoltert.

In einem der beiden Fälle verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte die Schweiz im Januar 2017 zur Zahlung einer Genugtuung von 30’000 Euro. Im zweiten Fall kam es zu einer ausser­gerichtlichen Einigung.

Seither ist die Schweiz zumindest vorsichtiger geworden, wenn es um Abschiebungen von Tamilen nach Sri Lanka geht. Aber sie finden nach wie vor statt, manchmal mit verheerenden Folgen.

Als 2017 über Kowsikas Asylgesuch entschieden wird, ist sie eine von 840 Personen aus Sri Lanka, die in diesem Jahr in der Schweiz um Asyl baten. 67 Prozent werden vorläufig aufgenommen oder als Flüchtlinge anerkannt.

Kowsika hätte als tamilische Frau das Recht auf eine geschlechter­spezifische Prüfung ihres Asyl­gesuchs: Die Behörden müssten berücksichtigen, dass Frauen in ihren Herkunfts­ländern einem besonderen Risiko ausgesetzt sind, Gewalt und Unter­drückung zu erfahren. Rein inhaltlich hätte Kowsika wohl gute Chancen, dass ihr in der Schweiz Asyl gewährt würde.

Nur: Ihr Gesuch wird gar nie inhaltlich geprüft.

Kowsika ist mit einem maltesischen Visum in Europa eingereist. Gemäss Dublin-Abkommen bedeutet das, dass Malta für ihr Asylgesuch zuständig ist. Dorthin soll sie nun abgeschoben werden.

«In so einem Fall geht die Schweiz gar nicht erst auf das Asyl­gesuch ein», sagt Elena Liechti, Juristin von der Non-Profit-Organisation Asylex, die Asylsuchende rechtlich berät. Zwar hat die Schweiz jederzeit die Möglichkeit, aus humanitären Gründen auf ein Gesuch einzutreten. «Das ist aber sehr selten der Fall», sagt Liechti. In Griechenland oder Ungarn beispielsweise fehlten gemäss Europäischem Gerichtshof passende Einrichtungen für unbegleitete Minder­jährige. Bei solchen Ausschaffungen sei die Schweiz deshalb durch die Dublin-Verordnung gebunden, ohne Rücksicht auf das Einreise­land auf das Asylgesuch einzutreten.

Das Dublin-Abkommen geht auf das Jahr 1997 zurück. Damals war die EU mit ihren offenen Grenzen für Schengen-Mitglieds­staaten zwei Jahre alt und Jugoslawien im Begriff, in blutigen Konflikten zu zerbrechen. Über 700’000 Menschen flohen nach Westeuropa, und wenn ihr Asylgesuch in einem Land abgewiesen wurde, zogen sie weiter ins nächste. Um dieser Praxis Einhalt zu gebieten, hielt das Europäische Parlament fest, dass Flüchtlinge nur in dem Staat Asyl beantragen können, über den sie in den Schengen-Raum eingereist sind oder über den sie ein Visum erhalten haben.

Nicht berücksichtigt wurde dabei die Geografie.

Das Dublin-System gilt bei Expertinnen wie EU-Politikern längst als gescheitert. Denn es wirkt wie ein Schutz­schild für die reichen Staaten im Norden, zulasten der Grenz­länder im Süden und Osten Europas – vor allem aber zulasten der Asylsuchenden.

Flüchtlings­camps wie in Lampedusa, Moria und Idomeni sind das direkte Resultat des Dublin-Abkommens, genauso wie die gewaltsamen Pushback-Aktionen an den Grenzen Kroatiens, in der Ägäis oder im zentralen Mittelmeer.

Am stärksten spüren das die Menschen in Italien und Griechenland, aber auch in Malta ist die Situation für Geflüchtete oft desolat. Prekäre Unter­bringung, willkürliche Inhaftierungen, Abschiebung in nicht sichere Drittstaaten wie Libyen werden von der Menschenrechts­kommissarin des Europarates, der Uno-Flüchtlings­organisation UNHCR und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gleicher­massen kritisiert.

Kowsika hat nur eine Chance

Kowsika soll nach Malta ausgeschafft werden, wo sie weder Familie noch ein soziales Netz hat.

Es gibt nur einen einzigen Ausweg: Wenn Kowsika sich versteckt, 18 Monate lang nicht von der Polizei aufgegriffen wird und gleichzeitig belegen kann, dass sie in dieser Zeit die Schweiz nicht verlassen hat – dann wird die Schweiz formell und inhaltlich für ihr Asyl­gesuch zuständig.

Kurz nach der mündlichen Entscheid­eröffnung vom 5. September 2017 meldet das Staats­sekretariat für Migration Kowsika für einen Linienflug nach Malta an. Auf die Standard­frage, ob sicherheits­relevante Risiken wie Selbst- oder Fremd­gefährdung bestehen, heisst es in den Akten: «Nein».

Am 22. September 2017 postet Kowsika auf Facebook den Beitrag einer tamilischen Zeitung: Es geht um Depressionen und Stress­vermeidung.

Am 10. Oktober geht Kowsikas Flug, Abflug um 17.40 Uhr, Ankunft um 19.55 Uhr, vom Flughafen Zürich nach Malta Luqa International. Aber als das Flugzeug abhebt, fehlt eine Passagierin. Am nächsten Tag eröffnet das Staats­sekretariat für Migration eine Personen­fahndung.

Kowsika ist untergetaucht.

In einer früheren Version schrieben wir von «Herzrhythmus­massage», korrekt ist «Herzdruck­massage». Wir haben die Stelle korrigiert und bedanken uns für den Hinweis aus der Leserschaft.

Zu den Co-Autoren und zur Serie

Es ist nicht das erste Mal, dass Missstände im Untersuchungs­gefängnis Waaghof publik werden, als Daniel Faulhaber, damals Lokal­redaktor der Online­zeitung «Bajour», im Sommer 2021 zum ersten Mal von Kowsikas Fall hört. Er will der Sache auf den Grund gehen. Im Wissen, dass eine saubere Aufarbeitung alleine kaum zu bewältigen ist, kontaktiert er Republik-Reporterin Anja Conzett. Nach der Verhandlung gegen die vier Aufseher sind sie sich einig, dass die Geschichte, die sie erzählen müssen, lange vor Kowsikas Suizid­versuch begann. Sie führen erste Hintergrund­gespräche und treffen so auf den tamilisch­stämmigen Journalismus­studenten Nivethan Nanthakumar, der sich der Recherche anschliesst. Nanthakumar versucht, Kowsikas Angehörige ausfindig zu machen. Spricht mit Kowsikas Wegbegleitern in Basel, reist für Hausbesuche quer durch die Schweiz und telefoniert spätnachts nach Sri Lanka – monatelang, bis er sie findet und den Journalistinnen in der Folge Einsicht in die Untersuchungs­akten gewährt wird, deren Studium weitere Monate Recherche in Anspruch nimmt.

In den anderthalb Jahren seit Recherche­beginn hat sich für die drei Autorinnen einiges verändert. Daniel Faulhaber ist unterdessen beim «Beobachter», wo er vermehrt über Justiz­themen schreiben will. Anja Conzett hat ihre Fest­anstellung bei der Republik aufgegeben, um Vollzeit Jus zu studieren, und Nivethan Nanthakumar hat eine Ausbildung als Gerichts­dolmetscher begonnen.

Zu Anlaufstellen für Hilfe: Sie haben Suizid­gedanken? Reden Sie darüber!

Die Erfahrung zeigt: Menschen, die einen Suizid­versuch überlebten, waren froh, noch am Leben zu sein. Holen Sie sich bei Suizid­gedanken anonym Hilfe:

Plattform für psychische Gesundheit, speziell in der Corona-Zeit: Dureschnufe

Notfallnummern:
Dargebotene Hand: 143
Psychosoziale Beratung der Pro Mente Sana: 0848 800 858 (auch für Angehörige, Bürozeiten)
Elternberatung der Pro Juventute: 058 261 61 61 (24/7)
Elternnotruf: 0848 354 555 (24/7)

Suchmaschine für Therapeutinnen:
Psychologie.ch oder Psychotherapie.ch (Psychologen)
Psychiatrie.ch (psychiatrische Fachärzte)

Die Stiftung Pro Mente Sana bietet weitere Notfallnummern sowie einen «Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit» an, in dem ein sinnvoller Umgang mit psychischen Krisen im nächsten Umfeld geübt werden kann.

Sie lesen: Teil 1

Ihr Name war Kowsika

Teil 3

Plötzlich ist sie ganz still

Bonus-Folge

Podcast: «Sie hätte längst frei sein müssen»