Tod im Waaghof – Teil 2

Die Asche der Tochter

Kowsika hatte schon zu Hause in Sri Lanka Gewalt von Männern erfahren. Sie wollte nur weg, ihr Leben anderswo leben. Doch in der Schweiz trifft sie auf ein System, das sie in den Suizid treibt. «Tod im Waaghof», Teil 2.

Von Anja Conzett, Daniel Faulhaber, Nivethan Nanthakumar (Text) und Isabel Seliger (Illustration), 29.03.2022

Vorgelesen von Regula Imboden
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Eine Warnung: Dieser Beitrag behandelt das Thema Suizidalität. Im Text werden Video­aufnahmen beschrieben, die das Geschehen zeigen. Anlauf­stellen finden Sie am Schluss des Beitrags.

August 2021: Vier Aufseher stehen vor dem Basler Strafgericht, weil sie 15 Minuten warteten, bevor sie versuchten, das Leben der 29-jährigen Kowsika zu retten. Die grossen Abwesenden während der Verhandlung sind – die Angehörigen.

Da ist keine Mutter, die Gerechtigkeit für ihre Tochter fordert. Kein Vater, der um sein Kind weint. Und vom Staats­anwalt bis zu den Journalistinnen fragen sich alle: Warum gibt es in diesem Prozess keine Privat­klägerschaft?

Wo ist die Familie von Kowsika?

Rund ein halbes Jahr nach dem Prozess steht eine wacklige Verbindung nach Sri Lanka, ein unscharfes Bild aus einer beschlagenen Handy­kamera, die Stimme einer trauernden Mutter.

«Was ist mit meiner Tochter passiert, bevor sie starb?», fragt sie, mit schmerzerfülltem Gesicht und brüchiger Stimme.

Und die Schwester fragt: «Haben sie unsere Kowsika gefoltert? Im Gefängnis? Hat sie sich deswegen umgebracht?»

Tod im Waaghof

Eine junge Tamilin flieht in die Schweiz. Sie erhält nicht Schutz, sondern kommt ins Gefängnis. Dort erstickt sie vor den Augen mehrerer Aufseher. Wie konnte das geschehen? Zur Übersicht.

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Im Herbst 2017 hatte das Migrationsamt in Basel Kowsika mitgeteilt, dass es nicht auf ihr Asylgesuch eintrete und sie stattdessen nach Malta abschiebe. Denn formell war Malta für ihr Asylgesuch zuständig, nicht die Schweiz. Schliesslich war Kowsika mit einem maltesischen Visum nach Europa gekommen.

Aber Kowsika will nicht nach Malta. Sie kennt niemanden dort, was soll sie da?

Also taucht Kowsika unter. Achtzehn Monate lang muss sie in der Schweiz unentdeckt bleiben, dann ändern die asylrechtlichen Verantwortlichkeiten: Zuständig würde die Schweiz. Als Frau und Tamilin rechnet sich Kowsika gute Chancen auf Asyl aus. Sie muss nur durchhalten.

Es gelingt ihr neun Monate lang.

«Abtauchen ist ganz allgemein riskant», sagt Moreno Casasola von der Freiplatz­aktion Basel. «Und erst recht für Frauen.» Die Freiplatz­aktion wurde 1985 als Beratungs­stelle für tamilische Migranten gegründet und berät heute vor allem Sans-Papiers – Menschen, die nach abgewiesenem Asylgesuch in Nothilfe­strukturen landen, die nie bei einem Amt vorstellig geworden sind oder die – wie Kowsika – nach einem negativen Bescheid untertauchen.

Die Männer arbeiten dann vor allem auf dem Bau, in der Landwirtschaft, im Event­bereich: Schwarz­arbeit ist meist Schwerst­arbeit. Und dafür nimmt man lieber Männer.

Abgetauchten Frauen bleibt dagegen oft keine andere Option, als zu putzen – häufig in Privat­haushalten, wo sie zusätzlich Angehörige pflegen. Oder sie sind in der Sexarbeit tätig. Das macht sie verletzlicher als ihre männlichen Schicksals­genossen. «Es verstärkt die Abhängigkeit. Und führt mitunter auch zu sexueller Ausbeutung», sagt Casasola. Grössere Diaspora-Gemeinschaften seien engmaschige soziale Netze, die Solidarität begünstigen könnten, sagt Casasola weiter. Aber: «Über sie kann auch viel Kontrolle ausgeübt werden.»

Dies betrifft besonders Frauen.

Wie es Kowsika ergeht, als sie untertaucht, darüber gibt es keine lineare Erzählung. Viele, denen Kowsika in dieser Zeit begegnete, schweigen trotz Zusicherung von Anonymität. Manche aus Angst vor Repressionen, weil sie eine Sans-Papiers-Frau deckten. Andere wohl auch, weil sie ein schlechtes Gewissen haben. Vielleicht, weil sie sich für Kowsika verantwortlich fühlen. Vielleicht auch, weil sie Kowsikas Notlage ausgenutzt haben.

Die Informationen sind Bruchstücke, die sich zu einem lückenhaften Bild fügen. Sie kommen von Menschen, die Kowsika kennenlernten, bevor sie abtauchte, und mit ihr in Kontakt blieben bis zu ihrem Tod. Von Karuna zum Beispiel, einer Zimmer­genossin, mit der Kowsika im Bundes­asylzentrum Bässlergut in Basel einquartiert war, während beide auf ihren Asyl­entscheid warteten.

«Kowsika machte einen selbst­bewussten und zielstrebigen Eindruck», sagt Karuna. Sie habe viel von ihrer Familie gesprochen. Über die Gewohnheiten der Mutter, zum Beispiel, oder über die Beziehung zu ihrer Schwester.

Aber wie Kowsika in die Schweiz gereist war oder welche Pläne sie noch hatte – darüber habe sie nicht gesprochen. Karuna und Kowsika lebten nur einen Monat zusammen im Bässlergut. Dann wurde Karunas Asyl­gesuch angenommen. Und auf Kowsikas Gesuch nicht eingetreten.

Ein anderer Weggefährte erzählt, als Kowsika abgetaucht sei, habe sie in einem tamilischen Restaurant bei Basel gearbeitet, ohne Arbeits­bewilligung. Sie habe auch in tamilischen Haushalten geputzt und Betagte gepflegt. Irgendwann aber gehen in Basel Gerüchte um: Kowsika sei eine liederliche Frau, sie verführe die Männer, in deren Haushalten sie putzt.

Ausgerechnet. Kowsika, über die Mutter und Schwester sagen, sie habe sich nie für Männer interessiert.

Aber die Wahrheit spielt zu diesem Zeitpunkt keine Rolle. Kowsikas Ruf ist ruiniert, und ihr bleibt nichts anderes übrig, als Basel zu verlassen. Sie zieht nach Biel. Dort ist die Arbeits­situation nicht besser, erzählt sie der Familie. Auch dort soll sie als Haushalts­hilfe gearbeitet haben, berichten zwei ehemalige Weggefährten.

Kowsika schickt der Schwester und der Mutter Pakete mit Schokolade und Kleidern. Sie versucht auch, Geld zu schicken, um die Schulden bei den Schleppern abzuzahlen. Mehr als 300 Franken schafft sie nicht.

Die vollständigen Akten bestehen aus einem Blatt Papier

Offiziell taucht Kowsika im Sommer 2018 wieder auf. Am 9. Juni wird sie um 12.22 Uhr in einem Einkaufs­zentrum in Biel vom Sicherheits­dienst wegen Verdachts auf Laden­diebstahl festgehalten. Was sie gestohlen haben soll, ist nirgends dokumentiert, niemand stellt einen Strafantrag. Jedenfalls hat die Staats­anwaltschaft des Kantons Bern nie etwas von einer Kowsika gehört.

Die Stadtpolizei Biel, die der Sicherheits­dienst des Einkaufs­zentrums an diesem Samstag­mittag ruft, stellt schnell fest, dass Kowsika illegal in der Schweiz ist – und dass das Migrations­amt Basel für sie zuständig ist. Die Polizei bringt sie ins Regional­gefängnis Bern, von wo aus sie nach Basel gefahren werden soll.

Viel ist nicht dokumentiert von ihrem 35-stündigen Aufenthalt im Berner Gefängnis. Genau gesagt bestehen die vollständigen Akten – nach Angaben des Regional­gefängnisses – aus nur einem einzigen Blatt Papier. Es ist datiert, aber nicht unterzeichnet. Demnach beklagt sich Kowsika über Schmerzen in den Beinen, als sie ins Gefängnis gebracht wird. Im Übergabe­bericht des Gesundheits­dienstes des Regional­gefängnisses Bern steht, dass aufgrund der Sprach­barriere nicht genau nachvollzogen werden könne, woher die Schmerzen stammen: «Ev. von einem Sturz bei der Verhaftung. Hat 2× Irfen 400 mg erhalten.»

Laut Bundesverfassung hat jede Person, die verhaftet wird, das Recht, dass ihr in einer ihr verständlichen Sprache erklärt wird, warum sie ins Gefängnis muss und welche Rechte sie hat. Im Fall von Kowsika gibt es keinen Hinweis darauf, dass ihr dieses Recht gewährt worden wäre: Es ist in den Akten nicht dokumentiert, dass die Bieler Stadt­polizei einen Dolmetscher aufgeboten hätte, und Kowsika spricht, nachdem sie in der Schweiz neun Monate ausschliesslich in tamilischen Haushalten verbracht hat, kein Deutsch und nur sehr rudimentäres Englisch.

«Das Unterlassen der Informations­pflicht ist eine gängige Verfehlung», sagt das Team der Freiplatz­aktion Basel. «Genauso wie man es unterlässt, Menschen darauf hinzuweisen, dass sie das Recht auf Kontakt zur Aussenwelt und zu rechtlicher Vertretung haben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die aufgrund von Einreise­verboten oder fehlender Aufenthalts­bewilligung in Haft geraten, nicht wissen, wie ihnen geschieht.»

Die Schweizerische Strafprozess­ordnung hält zudem klar fest, dass Menschen nur inhaftiert werden dürfen, wenn ihnen eine Haft physisch und psychisch zugemutet werden kann. Im Jargon heisst das: Hafterstehungs­prüfung. Bei Kowsika wird gemäss den vollständigen Akten des Regional­gefängnisses Bern keine Hafterstehungs­prüfung gemacht.

Und das, obwohl gemeinhin bekannt ist, dass Geflüchtete oft traumatisiert sind. Besonders wenn sie aus Kriegs­gebieten stammen. Besonders wenn sie Frauen sind.

Frauen wie Kowsika.

Der Krieg in Sri Lanka

Kowsika kam 1988 zur Welt, da herrschte auf Sri Lanka seit 5 Jahren Krieg. Der Krieg dauerte insgesamt 26 Jahre, erst 2009 fand er offiziell ein Ende.

Die Ursprünge des Krieges, in dem wohl mehr als 100’000 Menschen starben, gehen weit zurück, bis in die Kolonialzeit, als die Briten die Insel beherrschten und als geopolitisch und strategisch wichtigen Standort nutzten. 1833 vereinten die britischen Kolonial­herren ohne Rücksicht auf die historischen Gegebenheiten Sri Lanka zu einer einzigen administrativen Einheit, obwohl die Insel seit jeher in verschiedene König­reiche unterteilt gewesen war.

Dabei wurden die mehrheitlich hinduistischen und christlichen Tamilen zu einer Minderheit gemacht. Parallel dazu entstand ein singhalesisch-buddhistischer Nationalismus, der glaubt, die Singhalesen seien das auserwählte Volk, erkoren, den Buddhismus zu schützen.

1948 entliessen die Briten Sri Lanka in die Unabhängigkeit. Sie übertrugen die Macht der singhalesischen Mehrheit. Im gleichen Jahr wurde mehr als 700’000 Tamilinnen die Staatsbürger­schaft aberkannt, rund 11 Prozent der Bevölkerung verloren das Bürger­recht. Als 1956 Tamilisch nicht mehr als Landes­sprache anerkannt war, formierte sich unter Tamilen politischer Widerstand.

1976 werden die Liberation Tigers of Tamil Eelam gegründet, besser bekannt als Tamil Tigers. Sie gehen mit Gewalt gegen die sri-lankische Regierung vor: Sie legen Bomben, sprengen sich selbst in die Luft, zwingen Kinder als Soldaten in den bewaffneten Kampf. Der Staat reagiert mit aller Härte. In den 1980er-Jahren herrscht auf Sri Lanka offener Krieg, Tausende fliehen. Auch in der Schweiz kommen die ersten tamilischen Flüchtenden an.

Um die Jahrtausend­wende haben die Tamil Tigers zahlreiche tamilische Gebiete unter Kontrolle. Sie bauen eine Selbstverwaltungs­struktur auf, rüsten ihre Streitkräfte auf mit Flotte und Luftwaffe.

2008 starten die Truppen der sri-lankischen Regierung eine Gross­offensive und erobern Anfang 2009 Kilinochchi, die administrative Hauptstadt der Tamil Tigers. Hundert­tausende fliehen in sogenannte «no fire zones». Doch die singhalesische Regierung bombardiert diese systematisch, wie journalistische Recherchen aufdecken. In den letzten Monaten des 26-jährigen Kriegs gibt es zahlreiche Massaker, Tausende Menschen werden durch Bombardements und ausser­gerichtliche Tötungen umgebracht.

Die Massaker sind bis heute nicht als Völkermord anerkannt. Die singhalesische Regierung streitet ab, Kriegs­verbrechen begangen zu haben.

2009 endet der Krieg offiziell. Aber die Gewalt geht weiter. Die singhalesische Regierung lässt Kritikerinnen entführen und foltern. Ganze Familien verschwinden bisweilen. Die Uno schreibt in aktuellen Berichten über Akte staatlicher Folter und sexueller Gewalt gegenüber Tamilinnen, die bis heute andauern.

Gewalt, die auch Kowsika erfahren hat.

Als Kowsika in Basel um Asyl bittet, gibt sie an, dass sie von der singhalesischen Armee festgenommen wurde. Es war eines Nachts Ende Dezember 2016, Kowsika fuhr mit ihrem Mofa wieder einmal spät von der Arbeit nach Hause, als sie angehalten wurde. Drei Tage lang, sagt sie den Migrations­behörden in der Schweiz, sei sie in einem Raum festgehalten und vergewaltigt worden. Sie habe die Männer gekannt, sagt sie dem Migrations­amt. Sie hätten sie nicht zum ersten Mal angehalten.

Der Stützpunkt ihrer Peiniger lag direkt an ihrem Heimweg. Für die Familie war klar: Kowsika musste weg. Sri Lanka war für sie nicht mehr sicher.

Einen Monat später verliess Kowsika das Land. Etwas über 18 Monate später wurde sie vom Regional­gefängnis Bern nach Basel überstellt – gefesselt mit Handschellen. Eine 29-jährige Frau, die in der Schweiz Schutz suchte, weil sie in ihrer Heimat mehrere Tage lang von uniformierten Männern vergewaltigt worden war. Die sich hier nichts hatte zuschulden kommen lassen, ausser keine Aufenthalts­bewilligung zu haben. Sie wurde für einen dreieinhalb­stündigen Transport in Handschellen gelegt und von Uniformierten abgeführt. Höchswahrscheinlich ohne dass ihr jemand in ihrer Sprache verständlich gemacht hatte, was mit ihr geschehen würde.

«Haben sie Kowsika gefoltert?», fragt uns die Schwester im Videocall.

Die Mutter fragt: «Warum war Kowsika im Gefängnis?»

Am 9. Juni 2018, am Tag ihrer Verhaftung und fünf Tage vor ihrem Tod, schickt Kowsika die letzte Nachricht an ihre Schwester. «Macht euch keine Sorgen», schreibt sie über den Facebook-Messenger. «Ich schaue, dass ich endlich Arbeit finde und Geld schicken kann für das Kind.»

Sie meint das Kind ihrer Schwester Kowsela, das in jenen Tagen zur Welt kommen soll. Doch die frohe Botschaft eines gesunden Kindes vernimmt Kowsika nicht mehr. Als Kowsika tagelang nichts von sich hören lässt, machen sich Kowsela und die Mutter Sorgen.

Am 18. Juni, vier Tage nach Kowsikas Tod, macht die Mutter gerade Frühstück, der kleine Bruder putzt die Wohnung und Schwester Kowsela sitzt mit dem Baby auf dem Sofa, als frühmorgens zwei Freunde der Familie vor der Wohnungstür in Trincomalee stehen. Sie erzählen, was sie auf der Website Lankasri gelesen haben, einer Plattform, die über Schicksale von Exil-Tamilinnen schreibt: «Frau nimmt sich in Schweizer Gefängnis das Leben.»

Die Mutter weiss sofort: Das ist ihre Tochter. Kowsika.

Jetzt sitzt die Mutter in einem Internetcafé in Trincomalee, über die Lautsprecher ist ein Schluchzen zu hören. «Sie war meine Tochter», sagt die Mutter. «Warum musste sie denn ins Gefängnis, sie hat doch nichts Böses gemacht? Das Gefängnis in der Schweiz ist doch für Verbrecher – für gefährliche Menschen. Warum war Kowsika im Gefängnis?»

Es hatte Monate gedauert, die Verwandten von Kowsika zu finden. Prozess und Anklage­schrift hatten nur ihren Namen und ihre Staats­angehörigkeit preisgegeben, mehr nicht. Hinzu kamen harte Covid-Lockdowns in Sri Lanka, immer wieder Stromausfälle, Unruhen, das Land befindet sich in der schlimmsten Wirtschafts­krise seiner Geschichte. Aber im Winter 2021 stand endlich eine wacklige Verbindung nach Trincomalee.

Während in der Schweiz schon ein eisiger Wind durch die Strassen bläst, herrschen in der Hafenstadt im Nordosten 30 Grad. Die Handykamera ist beschlagen.

Die Situation aber ist glasklar: Kowsikas Familie wurde vom Schweizer Staat in verschiedenen Belangen unzulänglich und inkorrekt informiert.

Wie die Behörden versagten

Das Migrationsamt Basel hatte Namen und Adresse der Mutter von Kowsika in den Akten. Aber bei der Familie meldet sich in den Tagen nach Kowsikas Tod weder die Basler noch eine andere Schweizer Behörde. Stattdessen schickt die Schweizer Botschaft in Sri Lanka dem Staats­sekretariat für Migration in Bern eine Mail: Darin verlinkt sie den gleichen Artikel, von dem an diesem Tag auch die Mutter hört und in dem sie sogleich ihre Tochter erkennt.

Das Staats­sekretariat für Migration antwortet der Botschaft in Sri Lanka knapp: «Medien­anfragen hatten wir bisher keine dazu.»

Am 14. Juni 2018 berichten Schweizer Medien über den Suizid einer sri-lankischen Staats­angehörigen im Basler Waaghof. Am Tag darauf werden zwei Onkel von Kowsika bei der Basler Staats­anwaltschaft vorstellig. Kowsikas Mutter habe sich bei ihnen gemeldet und um Auskunft über den Todesfall gebeten. Die Mutter habe seit dem 9. Juni nichts mehr von der Tochter gehört.

Am 19. Juni um 14 Uhr wird Kowsikas Verwandten in der Schweiz ihr lebloser Körper vorgeführt. 10 bis 15 Minuten Zeit bekommen sie für die Verabschiedung. Die anwesenden Polizei­beamten bestätigen den Suizid und sprechen gegenüber den Onkeln davon, dass es Video­aufzeichnungen gebe. Sie raten den Verwandten jedoch davon ab, sie anzusehen – die Bilder seien «nicht schön». So berichtet es jemand, der damals im Raum war.

Am nächsten Tag schreibt die Familie der zuständigen sri-lankischen Behörde, dass sie davon ausgeht, dass es sich bei der Verstorbenen um Kowsika handle.

Einen Tag später, am 21. Juni 2018, schreibt die der Staats­anwaltschaft angegliederte Kriminalpolizei Basel-Stadt der Mutter und der Schwester in Sri Lanka auf Englisch:

T. Kowsika, geboren am 09.09.1988, hat am Dienstag, 12.06.2018 in ihrer Zelle im Gefängnis Waaghof einen Selbstmord­versuch begangen. Sie hat versucht sich zu erhängen. Mit schweren Hirnschäden wurde sie in das Universitäts­spital Basel transferiert. Dort verstarb sie am Donnerstag, 14.06.2018 (Kopie des Totenscheins ist dem Brief angehängt).

Mehr steht nicht über die Umstände ihres Todes.

Knapp drei Wochen später wird Kowsikas Asche nach Sri Lanka überstellt. Für den Transport verrechnet der Schweizer Staat der trauernden Familie eine Gebühr von 60’000 sri-lankischen Rupien – damals rund 380 Franken, fast drei Monatslöhne. Viel Geld für die Familie, die bei den Schleppern immer noch hoch verschuldet ist.

Am 13. August 2018 schreibt Kowsikas Mutter in holprigem Englisch einen Brief an die Schweizer Botschaft an der Gregory’s Road 63 in Colombo.

Sehr geehrter Herr,

(…)

Meine Tochter ist vor über einem Jahr in die Schweiz gegangen. Sie hat einen sehr unterstützenden und selbstbewussten Charakter. Sie ist selbstbewusst und in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern. Ich kann nicht akzeptieren, dass sie Suizid beging, denn es entspricht ihr nicht, das zu tun.

Ich gehe davon aus, ich bin davon überzeugt, dass es eine Vorgeschichte gibt – etwas mit den Umständen rund um ihren Tod nicht stimmt. Ich bitte Sie daher, den Hergang des mysteriösen Todes meiner Tochter zu untersuchen und wenn möglich von den betreffenden Behörden eine Entschädigung für unsere Familie zu erwirken.

Ohne meine geliebte Tochter leide ich jeden Tag. Sie ist alles für mich. Ich vermisse sie schmerzhaft. Bitte unternehmen Sie das Nötige, um Gerechtigkeit herzustellen.

Ihnen dankend,

die Mutter des Opfers.

Zwei Monate später antwortet die Botschaft, dass man sehr betroffen sei und aufrichtiges Beileid anerbiete. Die Botschaft habe den Brief gelesen und verstehe die Schwierigkeiten und Fragen. Eine Entschädigung «für den Tod ausländischer Staats­angehöriger» sei allerdings nicht vorgesehen.

Die Botschaft schreibt, das General­sekretariat von Sri Lanka habe um folgende Dokumente gebeten: den Untersuchungs­bericht der Polizei, die Autopsie, die Todesurkunde.

Mit keinem Wort erwähnt die Botschaft gegenüber der Familie, dass die Staats­anwaltschaft Basel zu diesem Zeitpunkt bereits eine Straf­untersuchung eingeleitet hat. Weiter verschweigt sie, dass im Fall einer Anklage die Möglichkeit einer Staatshaftungs­klage im Raum steht, die eine Verbliebenen-Entschädigung für allfälliges staatliches Fehlverhalten vorsieht – unabhängig von der Staats­angehörigkeit der Verbliebenen.

Die Mutter und die Schwester werden genauso wenig darüber informiert, dass die Basler Staats­anwaltschaft später Anklage gegen vier Aufseher erhebt – und dass die Familie im folgenden Prozess das Recht hätte, als Privat­klägerin aufzutreten.

Erst am 3. Februar 2020, mehr als eineinhalb Jahre nach Kowsikas Tod, meldet sich der Erste Basler Staatsanwalt telefonisch bei Kowsikas Onkel in der Schweiz. Er sagt ihm, er werde ihm eine schriftliche Ankündigung über den Abschluss des Straf­verfahrens zukommen lassen. Sie sei für Kowsikas Eltern bestimmt.

Der Onkel antwortet in gebrochenem Deutsch, wie der Staats­anwalt in einer Notiz festhält, dass er nur selten Kontakt zu den Eltern von Kowsika habe.

Trotzdem informiert der Staatsanwalt die am Verfahren teilnahme­berechtigte Mutter nicht über den Abschluss der Unter­suchung und die anstehende Gerichts­verhandlung. Das ist ein klarer Verstoss gegen die Europäische Menschenrechts­konvention, wonach Angehörige angemessen an Straf­verfahren zu beteiligen sind.

Dass die Aufseher, in deren Obhut sich Kowsika zum Zeitpunkt ihres Suizid­versuchs befand, erst nach 10 Minuten den Notruf verständigten und eine Viertel­stunde lang keine lebens­erhaltenden Massnahmen ergriffen, erfahren Mutter und Schwester erst drei Jahre nach Kowsikas Tod. Nicht von offiziellen Vertreterinnen des Schweizer Staates, sondern von drei Journalisten, die sich an einem trüben Winter­morgen aus einem Sitzungs­zimmer in Basel über eine wacklige Internet­verbindung bei ihnen melden.

Die Familie wurde drei Monate im Dunkeln gelassen

Es ist nicht alltäglich, dass man als Journalistin plötzlich selbst zur Akteurin in einer Geschichte wird. Manchmal lässt es sich nicht vermeiden, weil das, was man während der Recherche herausfindet, die Umstände nachhaltig ändert. Das war hier der Fall.

Wir hatten während der Recherchen den Rechtsanwalt Philip Stolkin interviewt – als Experten für Staatshaftungs­klagen im Kontext von Suizid in Haft. Denn er hatte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einen Fall gegen den Schweizer Staat gewonnen, der in der Verhandlung gegen die vier Aufseher mehrmals zitiert wurde.

Nachdem wir mit Kowsikas Mutter und Schwester gesprochen und die Dokumente geprüft hatten, die sie von der Schweiz erhalten hatten, riefen wir erneut bei Stolkin an, um seine Einschätzung zu hören.

Stolkins Antwort war unmissverständlich. Er wurde noch am gleichen Tag Anwalt von Mutter und Schwester, klagte sich zusammen mit seinem Kollegen Bernard Rambert erfolgreich in das bereits in Berufung gegangene Verfahren ein. Und wir, die drei Autoren dieses Beitrags, sind in diesem Neben­verfahren als Zeugen für die fehlerhafte Information der Familie in Sri Lanka aufgeführt. Nicht in unserer Funktion als Journalisten, sondern weil es unsere Pflicht als Bürgerinnen ist.

Zu den Untersuchungs­akten sind wir jedoch nicht als Zeuginnen gekommen, sondern als Journalistinnen. Nachdem sie vom Schweizer Staat drei Jahre lang über die Umstände zu Kowsikas Tod im Dunkeln gelassen wurden, wünschten sich Mutter und Schwester ausdrücklich, dass sämtliche Unterlagen, die mit Kowsikas Fall zu tun haben, mit Republik und «Bajour» zur freien Verwendung geteilt werden.

In den Akten haben wir auch nach Antworten gesucht auf die Fragen der Mutter: Warum musste Kowsika ins Gefängnis? Oder genauer: mit welcher rechtlichen Begründung? Unter welchem Hafttitel wurde sie überhaupt im Untersuchungs­gefängnis Waaghof festgehalten?

Während des Prozesses blieb diese Frage ungeklärt. War Kowsika in Untersuchungs­haft? In Ausschaffungs­haft? Oder in Dublin-Ausschaffungs­haft?

Die Akten liefern keine klare Antwort. Sie liefern mehrere. Wenn man sie zählt, dann kommt man insgesamt auf fünf verschiedene Hafttitel, also auf fünf verschiedene Begründungen, warum Kowsika im Gefängnis war.

Keine Antwort, aber eine Erkenntnis: Irgendetwas stimmt hier nicht.

Zu den Co-Autoren und zur Serie

Es ist nicht das erste Mal, dass Missstände im Untersuchungs­gefängnis Waaghof publik werden, als Daniel Faulhaber, damals Lokalredaktor der Online­zeitung «Bajour», im Sommer 2021 zum ersten Mal von Kowsikas Fall hört. Er will der Sache auf den Grund gehen. Im Wissen, dass eine saubere Aufarbeitung alleine kaum zu bewältigen ist, kontaktiert er Republik-Reporterin Anja Conzett. Nach der Verhandlung gegen die vier Aufseher sind sie sich einig, dass die Geschichte, die sie erzählen müssen, lange vor Kowsikas Suizid­versuch begann. Sie führen erste Hintergrund­gespräche und treffen so auf den tamilisch­stämmigen Journalismus­studenten Nivethan Nanthakumar, der sich der Recherche anschliesst. Nanthakumar versucht, Kowsikas Angehörige ausfindig zu machen. Spricht mit Kowsikas Wegbegleitern in Basel, reist für Haus­besuche quer durch die Schweiz und telefoniert spätnachts nach Sri Lanka – monatelang, bis er sie findet und den Journalistinnen in der Folge Einsicht in die Untersuchungs­akten gewährt wird, deren Studium weitere Monate Recherche in Anspruch nimmt.

In den anderthalb Jahren seit Recherche­beginn hat sich für die drei Autorinnen einiges verändert. Daniel Faulhaber ist unterdessen beim «Beobachter», wo er vermehrt über Justiz­themen schreiben will. Anja Conzett hat ihre Festanstellung bei der Republik aufgegeben, um Vollzeit Jus zu studieren, und Nivethan Nanthakumar hat eine Ausbildung als Gerichts­dolmetscher begonnen.

Zu Anlaufstellen für Hilfe: Sie haben Suizid­gedanken? Reden Sie darüber!

Die Erfahrung zeigt: Menschen, die einen Suizid­versuch überlebten, waren froh, noch am Leben zu sein. Holen Sie sich bei Suizid­gedanken anonym Hilfe:

Plattform für psychische Gesundheit, speziell in der Corona-Zeit: Dureschnufe

Notfallnummern:
Dargebotene Hand: 143
Psychosoziale Beratung der Pro Mente Sana: 0848 800 858 (auch für Angehörige, Bürozeiten)
Elternberatung der Pro Juventute: 058 261 61 61 (24/7)
Elternnotruf: 0848 354 555 (24/7)

Suchmaschine für Therapeutinnen:
Psychologie.ch oder Psychotherapie.ch (Psychologen)
Psychiatrie.ch (psychiatrische Fachärzte)

Die Stiftung Pro Mente Sana bietet weitere Notfallnummern sowie einen «Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit» an, in dem ein sinnvoller Umgang mit psychischen Krisen im nächsten Umfeld geübt werden kann.

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