Tanger, Marokko.

«Die EU kann europäisches Recht nicht durchsetzen»

Die Zahl der Migranten in Europa nimmt wieder zu. Dass rechte Parteien das zum Skandal machen können, haben sich viele Regierungen selbst zuzuschreiben, sagt der Migrations­forscher Bernd Kasparek. Er fordert: «Man muss auch zeigen, dass die Integration dieser Menschen gelingen kann.»

Ein Interview von Lukas Häuptli (Text) und Michael Danner (Bilder), 15.11.2022

Vorgelesen von Egon Fässler
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Italien schlägt Alarm wegen Flüchtlingen im Mittel­meer, die EU und die Schweiz wegen Flüchtlingen auf dem Balkan. Woher rührt dieser Alarmismus?
Das ist eine gute Frage. Ich halte es für einen kalkulierten Alarmismus. Nehmen wir Italien: Die Rechtsaussen-Regierung hat ja bereits im Wahlkampf angekündigt, dass sie Flüchtlings­booten aus Afrika die Landung in italienischen Häfen verweigern werde. Das macht sie jetzt. Hier ist der Alarmismus Programm. Italien sendet ein politisches Signal, und dieses Signal ist leider allzu symptomatisch für die gesamte europäische Flüchtlings­politik. An den Aussen­grenzen der EU und des Schengen-Raums werden Flüchtende an vielen Orten abgefangen und zurück­geschickt. Der Zugang zu Europa und zu Asyl­verfahren in Europa wird Schutz­suchenden verweigert. Es ist völlig unbestritten, dass das gegen europäische Grundrechte verstösst.

Aber gibt es zurzeit tatsächlich wachsende Migrations­bewegungen in Richtung Europa?
Das Bild ist unübersichtlich. Überraschender­weise gibt es nicht viele gesicherte Angaben dazu, oft fehlen in den entsprechenden Meldungen belastbare Zahlen. Alles in allem scheint aber klar, dass zurzeit mehr Menschen unterwegs sind – nach Europa, vor allem aber auch innerhalb von Europa. Zahlreiche stammen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak, migrieren durch den Balkan und wollen nach Österreich, Deutschland oder Gross­britannien. Unklar ist, wie viele von ihnen neu angekommen sind und wie viele sich schon länger in Europa aufgehalten haben.

Zum Gesprächspartner

Monika Keiler

Bernd Kasparek, 42, ist Kultur­anthropologe und arbeitet am Institut für empirische Integrations- und Migrations­forschung der Humboldt-Universität Berlin. Er ist Gründungs­mitglied des Netzwerks für kritische Migrations- und Grenzregime­forschung Kritnet. Seine Forschungs­schwerpunkte sind europäische Migration und Grenzregimes. 2017 erschien Kaspareks Buch «Europas Grenzen: Flucht, Asyl und Migration», 2021 sein Buch «Europa als Grenze. Eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex».

Grossbritannien meldet eine wachsende Zahl albanischer Staats­angehöriger, die über den Ärmel­kanal ins Land wollen.
Die Migrations­geschichte zeigt: Es gibt innerhalb von Europa immer wieder derartige Bewegungen. In Gross­britannien sorgt das jetzt für ganz viel Aufregung, und der angeschlagenen britischen Regierung kommt diese Aufregung gerade recht. Entscheidend für das gesamte Bild der Migrations­bewegungen in Europa ist das Phänomen nicht.

Politikerinnen vor allem aus Deutschland warnen vor Flüchtlings­strömen wie im Jahr 2015.
Die Migrations­bewegungen von heute sind mit denjenigen von 2015 nicht vergleichbar. In den ersten acht Monaten des laufenden Jahres sind weniger als 200’000 Personen bei irregulären Grenz­übertritten in die Europäische Union aufgegriffen worden. 2015 waren es mehr als eine Million. Ich habe den Eindruck, dass die Regierungen verschiedener europäischer Staaten mit ihrem Alarmismus ein Zeichen setzen wollen. Das Zeichen heisst: Wir sind gegen Flüchtlinge gerüstet. Das ist auch der Grund, weshalb die Migration in Politik und Medien zurzeit ein derart grosses Thema ist. Paradox ist allerdings, dass Europa gleichzeitig mehrere Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen hat und damit gezeigt hat, was mit dem entsprechenden politischen Willen möglich ist.

Was ist der Grund für die wachsenden Migrations­bewegungen?
Es gibt hier nicht den einen Grund. Ein Faktor ist das Abklingen der Pandemie. Mobilität wird wieder einfacher. Daneben gibt es ganz verschiedene Gründe – wie oft in der Migration. Die Türkei verschärft wegen der anstehenden Wahlen gerade ihre Politik gegen Flüchtlinge, vor allem gegen syrische Flüchtlinge. Deshalb verlassen viele von ihnen das Land, einige machen sich nach Europa auf. In Griechenland gibt es Anzeichen, dass die Behörden Schutz­suchende nur noch zum Teil registrieren und sie weiter in Richtung Balkan ziehen lassen. Kroatien wiederum ist in den letzten Wochen davon abgerückt, Flüchtende an der Grenze abzufangen und sie mit Push­backs zurück nach Bosnien zu schicken. Auch da wird die Durchreise einfacher.

Choucha, Tunesien.

Zu den Bildern

Die Bilder zu diesem Beitrag stammen vom deutschen Fotografen Michael Danner. Sie sind Teil der Serie «Migration as Avant-Garde» und entstanden zwischen 2008 und 2017. Mit seiner Arbeit dokumentiert Danner neue Wege, auf denen Migranten ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben verfolgen. Angetrieben vom Wunsch, ihrer Existenz einen Sinn zu verleihen, bringen sie neue Perspektiven in unsere Gesellschaft ein.

Es scheint, dass innen­politische Entwicklungen in den jeweiligen Ländern für die Änderungen ausschlag­gebend sind.
Ja, das ist so. Und das ist auch der Grund dafür, dass eine einheitliche europäische Flüchtlings­politik immer wieder scheitert. Es gibt zu viele national­staatliche Interessen. Aber lassen Sie mich zu den Migrations­bewegungen noch etwas anderes sagen: Auch hier gibt es immer wieder unerwartete Entwicklungen. Informationen und Gerüchte, vor allem in den sozialen Medien, spielen dabei oft eine grosse Rolle.

Europäische Ministerinnen, unter ihnen die Schweizer Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter, machen Serbien für die Zunahme der Migration verantwortlich. Das Land habe die Visum­pflicht für Staats­angehörige aus Tunesien, Burundi, Kuba und Indien aufgehoben, weshalb Angehörige dieser Staaten vermehrt nach Serbien und von da in den Schengen-Raum eingereist seien. Was ist von dieser Erklärung zu halten?
Gemäss meinen Informationen passierte das tatsächlich, aber nicht in einem solchen Ausmass, dass man da von einer grösseren Migrations­bewegung sprechen könnte. Und vor allem: Die Visum­freiheit für einige dieser Länder stammt noch aus der Zeit des Kalten Kriegs.

Einige Ministerinnen äusserten auch den Verdacht, hinter dem Entscheid Serbiens stehe Russland. So wolle Wladimir Putin Europa destabilisieren, das sei Teil seiner hybriden Kriegs­führung.
Ich halte von dieser Theorie nicht viel. Auch Russland ist nicht imstande, globale Migrations­bewegungen zu steuern. Wer ist dazu überhaupt fähig? Niemand, sonst hätten das andere Staaten längst getan. In Tat und Wahrheit sind sie nur sehr schwer lenkbar. Was ich für fatal halte: Die Behauptung, dass Migration zur Destabilisierung Europas instrumentalisiert werde, ist gerade sehr en vogue. Sie wurde heran­gezogen, als die Türkei 2020 ihre Grenze zu Griechenland öffnete. Sie wurde heran­gezogen, als Belarus 2021 Schutz­suchende visumfrei einreisen und an die Grenze zu Polen bringen liess. In beiden Fällen nahm die Migration in die EU zwar tatsächlich zu, aber nie in einem Ausmass, das zu einer Destabilisierung Europas führte.

Was ist das Fatale daran?
Die Europäische Union will das Konzept der instrumentalisierten Migration in die europäische Gesetz­gebung einbringen. Sie schlägt in einer Verordnung vor, dass in Fällen von instrumentalisierter Migration ein verschärftes Asylrecht zur Anwendung kommt. Dieses sieht längere Verfahren vor, aber auch einfachere Möglichkeiten zur Inhaftierung von Schutz­suchenden. Das halte ich für äusserst bedenklich. Es ist ein Versuch der EU, zentrale Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlings­konvention zu schwächen.

Die Genfer Flüchtlings­konvention wird an der europäischen Aussen­grenze bereits jetzt verletzt – mit systematischen Pushbacks.
Ja, das geltende Recht wird immer wieder gebrochen. Aus der Genfer Flüchtlings­konvention lässt sich ableiten: Allein der Umstand, dass eine Person schutz­bedürftig scheint, verpflichtet die europäischen Staaten dazu, dieser Person Zugang zum Asyl­verfahren zu gewähren. Diese Verpflichtung ist in Europa in mehreren höchst­richterlichen Urteilen bestätigt worden. Mit anderen Worten: An der EU-Aussen­grenze müssen alle Migrierenden einen Asyl­antrag stellen können. Und all diese Anträge müssen sorgfältig auf eine Schutz­bedürftigkeit geprüft werden.

Eine Untersuchung kam kürzlich zum Schluss, dass die EU-Grenz­behörde Frontex nicht nur von systematischen Pushbacks wusste, sondern sie auch vertuschte.
Ja, es ging um die Pushbacks 2020 in der Ägäis. Frontex setzte sich da auf den rechts­widrigen Standpunkt, bei den Flüchtenden sei gar kein Schutz­bedürfnis zu prüfen. Vielmehr handle es sich um illegale Migranten. Dazu kam die Theorie, dass die Flucht­bewegungen Teil der sogenannten «hybriden Kriegs­führung» des türkischen Staatschefs Recep Erdoğan seien. Auch da tauchte die Behauptung der Instrumentalisierung der Migration auf. Deshalb schienen Frontex harte Gegen­massnahmen – eben Pushbacks – angebracht. Die Untersuchung zeigte im Übrigen auch, wie schlecht der europäische Rechtsstaat funktioniert. Weder der Verwaltungs­rat der Grenz­behörde noch das Europäische Parlament oder die EU-Kommission konnten sich gegen die Verantwortlichen von Frontex durchsetzen. Es brauchte am Schluss den Verdacht, dass diese sich strafbar gemacht hatten, damit man Einblick in die Behörde erhalten und die Vorwürfe untersuchen konnte. Das ist für den europäischen Rechts­staat eine sehr schlechte Erkenntnis.

Die Pushbacks in der Ägäis waren kaum Einzelfälle, oder?
Nein. Wie eingangs erwähnt, gab und gibt es illegale Pushbacks in Italien, Spanien, Griechenland, Kroatien, Polen, Ungarn und in weiteren Ländern. Die Entwicklung hat vor etwa 5 Jahren eingesetzt. Seither führen zahlreiche EU-Mitglieds­staaten systematisch Pushbacks durch. Sie versuchen nicht einmal, diese zu vertuschen. So entstand der Druck auf die EU. Immer mehr Staaten sagten: Das ist die richtige Politik. Und dafür wollen wir die Unterstützung Europas. Deshalb stand Frontex vor der Wahl: Gebieten wir dieser Politik Einhalt? Oder schützen wir sie und machen wir uns der Verletzung von europäischen Grund­rechten mitschuldig? Leider entschied sich die EU-Behörde für das Zweite.

Jetzt fordert das EU-Parlament von Frontex Reformen. Ist das nicht ein erster Schritt in die richtige Richtung?
Ich bin nicht sehr zuversichtlich. Selbst wenn Frontex sagt: Wir haben Fehler gemacht, wir müssen das Verhältnis zwischen Sicherheit und Grund­rechten neu ausbalancieren, wir setzen uns dafür ein, dass an europäischen Grenzen europäisches Recht durchgesetzt wird. Selbst dann würden die Mitglieds­staaten, die Pushbacks durchführen, sagen: Das interessiert uns nicht. Diese Staaten erlauben Frontex gar keinen Zugang zu ihrem Territorium mehr. Das haben wir bereits im Sommer 2021 gesehen, als Polen Schutz­suchende nach Belarus zurückdrängte. Auch da sagte die polnische Regierung: Wir brauchen Frontex nicht, wir machen das allein. Das ist das Problem der Europäischen Union: Sie kann europäisches Recht nicht durchsetzen. Dazu bräuchte es eine starke Union. Und eine starke Union gibt es nicht.

Warum haben die einzelnen Staaten die Macht auf ihrer Seite? Ist das noch immer eine Folge des Flüchtlings­jahrs 2015?
Das glaube ich nicht. Natürlich war 2015 ein ausser­gewöhnliches Jahr mit einer ausser­gewöhnlichen Migration. Aber viele europäische Staaten haben diese Heraus­forderung gut gemeistert und letztlich mehr als eine Million Menschen integriert. Gerade die Zivil­gesellschaft spielte dabei eine heraus­ragende Rolle. Das Problem ist, dass damals viele europäische Regierungen sagten: Solche Migrations­bewegungen darf es nie mehr geben. Damit verschafften sie der europäischen Rechten ein Thema, mit dem diese ständig mobilisieren konnte. Seither ist die Frage der Migration jederzeit als Skandal abrufbar. Das geschieht auch in diesen Tagen. Es gibt ein paar Anzeichen, dass mehr Menschen migrieren, und schon ist ganz Europa in Aufregung. Hätte man Migration im öffentlichen Diskurs nicht ständig problematisiert, wäre es nie so weit gekommen.

Berlin.
Sculeni, Rumänien.

Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass auch in Zukunft wieder sehr viele Menschen nach Europa migrieren.
Ja. Die Welt wird mobiler und gefährlicher, wahrscheinlich migrieren in den nächsten Jahren noch viel mehr Menschen nach Europa. Aber man muss auch zeigen, dass die Integration dieser Menschen gelingen kann, wie das 2015 der Fall war und wie das heute mit den Flüchtenden aus der Ukraine der Fall ist.

Was halten Sie von der Idee, dass Schutz­suchende nicht nur an Europas Aussen­grenzen Asyl­anträge stellen können, sondern auch in Lagern der Uno-Flüchtlings­behörde UNHCR oder auf Botschaften europäischer Staaten? Das eine ist schon möglich, das andere wurde in der Schweiz (erfolglos) gefordert. Beides würde den Flüchtenden gefährliche Migrations­wege ersparen.
Grundsätzlich finde ich die Ideen nicht schlecht. Allerdings muss man darauf hinweisen, dass in den sogenannten Resettlement-Programmen des UNHCR nur verhältnis­mässig wenige Menschen Aufnahme finden. Und beim Botschafts­asyl sehe ich ganz praktische Probleme: Wie kann eine Botschaft konkrete Verfahren durchführen? Dafür bräuchte es vor Ort sehr viel Personal und sehr viel Know-how. Wichtig aber scheint mir: Die Schaffung neuer Zugänge zum europäischen Asyl­system darf nicht zum Abbau herkömmlicher Zugänge führen. Es darf also nicht sein, dass die europäischen Staaten mit dem Verweis, es gebe ja Resettlement und Botschafts­asyl, an Europas Grenze noch mehr Flüchtende abweisen.

Im europäischen Asyl­system gibt es auch bei der Dublin-Verordnung Probleme. Der Schweiz wird vorgeworfen, sie lasse Migrierende einfach durchs Land reisen und verstosse damit gegen die Verordnung. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?
Was soll man dazu sagen? In Europa wendet kaum noch ein Land die Dublin-Verordnung vollständig an. Dublin heisst ja: Im Dublin-Raum ist derjenige Staat für das Verfahren eines Asyl­suchenden zuständig, durch den dieser nach Europa gereist ist. Deshalb muss der Betroffene in diesen Staat überstellt werden. Aber schauen Sie sich die Statistiken an. Heute werden höchstens noch ein paar tausend Personen überstellt. Im Übrigen lässt nicht nur die Schweiz Migrierende durchreisen, sondern wie erwähnt auch Kroatien. Das Land hat dafür sogar spezielle Visa geschaffen.

Ist das schleichende Ende von Dublin ein Problem?
Ich denke, Dublin selbst ist ein grundsätzliches Problem, auch wegen der ungleich verteilten Lasten. Die allermeisten Asyl­suchenden müssten ja in Staaten an der EU-Aussengrenze überführt werden, vor allem nach Griechenland und Italien. Da wiederum bräuchte es für die Schutz­suchenden riesige Flüchtlings­lager und eine entsprechend grosse Bürokratie. Diese Lager gab es übrigens ja auch. In ihnen herrschten aber völlig menschen­unwürdige Verhältnisse. Allein deshalb war Dublin kein guter Ansatz.

Europa setzt seit Jahren auf eine Asyl- und Migrations­politik der Abschreckung. Wie lange geht das noch gut? Schliesslich wird das Europa von morgen auf Arbeits­kräfte aus Asien, Afrika und Südamerika angewiesen sein.
Schon das Europa von heute ist auf diese Arbeits­kräfte angewiesen. Nehmen wir Polen: Zwar trifft die polnische Regierung härteste Massnahmen gegen Flüchtlinge. Gleichzeitig ist sich die Regierung bewusst, dass ihr Land wirtschaftlich auf Migration angewiesen ist. Deutschland hat das gleiche Problem: Es gibt einen unglaublichen Bedarf an ausländischen Arbeits­kräften, der kaum noch auf dem europäischen Binnen­markt gedeckt werden kann. Auch deshalb will die deutsche Regierung für unbesetzte Stellen auf Flughäfen 2000 Arbeits­kräfte aus der Türkei anwerben. Oder nehmen wir Griechenland: Die griechische Regierung bemüht sich zurzeit, mit Pakistan und Bangladesh Abkommen für Arbeits­kräfte in der Land­wirtschaft und im Bau­gewerbe abzuschliessen. Gleichzeitig schiebt die Regierung Flüchtende aus Pakistan und Bangladesh ab. Das ist paradox.

Choucha, Tunesien.

Macht die Arbeits­migration Europas Grenzen durchlässiger?
Nicht zwangsläufig. Die europäischen Staaten wollen für die ausser­europäischen Arbeits­migranten keine unbedingten Aufenthalts­rechte. Diese Migrantinnen dürfen nur für eine bestimmte Zeit hierbleiben, und sie dürfen ihre Familien nicht mitnehmen. Es gibt dafür den entlarvenden Begriff der «zirkulären Migration». Das heisst: Wir holen Arbeits­kräfte nach Europa. Nach getaner Arbeit aber müssen diese Arbeits­kräfte Europa wieder verlassen. Da werden die gleichen Fehler gemacht wie in der europäischen Migrations­politik der Fünfziger- und Sechziger­jahre des letzten Jahr­hunderts. Man muss leider ein weiteres Mal Max Frisch zitieren: «Wir riefen Arbeits­kräfte, und es kamen Menschen.»

In Anbetracht der Globalisierung, aber auch in Anbetracht der globalen Migrations­bewegungen: Werden wir irgendwann mit Kopfschütteln auf das Europa des 21. Jahrhunderts mit all seinen Grenzen zurückblicken?
Schauen wir mal. Die Globalisierung hat ja auch schon bessere Zeiten gesehen. Vielerorts gewinnt die National­staatlichkeit wieder an Bedeutung. Trotzdem aber besteht Hoffnung – auch wenn man einen Blick in die Migrations­geschichte wirft. Vor vielen hundert Jahren zum Beispiel bestimmten Städte, wer sich in Städten aufhalten darf und wer nicht. In historischen Quellen liest man etwa von Festnahmen wegen illegalen Aufenthalts und von Abschiebungen von München nach Frankfurt am Main. Diese territorialen Befugnisse der Städte sind heute völlig undenkbar. Uns ist klar: So engmaschig funktioniert Migrations- und Gesellschafts­politik nicht. Deshalb besteht die Hoffnung, dass man irgendwann zurückschaut und sagt: Das Europa der Grenzen war ein völliger Anachronismus – ein Anachronismus, den wir glücklicher­weise überwunden haben.

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