Binswanger

Wer hat Angst vor Mindest­löhnen?

Die Schweiz profitierte lange Zeit von einer ausgewogenen Lohn­entwicklung. Das ist vorbei. Auch deshalb gibt es Streit über Krankenkassen­prämien und Wohn­kosten. Und der könnte die Wahlen mitentscheiden.

Von Daniel Binswanger, 11.03.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
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Wir erlebten gerade den schneeärmsten Februar seit Beginn der Messungen – und jetzt müsste ein Klima-Wahljahr kommen. Es gibt eine gereizte Debatte um Zuwanderung und Flüchtlinge – und die kantonalen Wahlen lassen die SVP hoffen, dass sie mit dem Thema wieder punkten kann. Die Parlaments­debatte um Krippen­subventionen sowie die Reform des Sexual­strafrechts setzen Gleich­berechtigung und Frauen­rechte ganz zuoberst auf die Agenda.

Dennoch sollte es nicht überraschen, wenn der kommende Wahlkampf am stärksten von einem ganz anderen Thema dominiert wird: dem guten alten Klassenkampf.

Verteilungs­politische Fragen drängen mit immer grösserer Macht in den Vordergrund. Das fing an mit den Debatten um die Krankenkassen­prämien im letzten Spätherbst und setzt sich heute fort mit der Diskussion über die sich akut verschärfende Wohnungsnot. Es ist nicht so, dass es sich um bisher nicht bekannte Themen handeln würde. Doch vor dem Grund­rauschen der anziehenden Inflation und der steigenden Energie­preise bekommen diese finanziellen Belastungen eine neue Brisanz. Das verfügbare Einkommen der Durchschnitts­schweizerinnen sinkt. Und die Ausgaben­posten, die für diesen Miss­stand verantwortlich sind – Prämien, Mieten, Krippen –, stehen immer mehr im Fokus.

Diese Entwicklung erscheint zunächst überraschend, auch angesichts des Krieges in der Ukraine, aber vor dem Hintergrund der aktuellen volks­wirtschaftlichen Lage ist sie nichts als sinnfällig. Vor kurzem ist der «Verteilungs­bericht 2023» des Schweizerischen Gewerkschafts­bundes (SGB) veröffentlicht worden. Er führt eindrücklich vor Augen, dass sich in den letzten Jahren ein dramatischer verteilungs­politischer Paradigmen­wechsel vollzogen hat in unserem Land.

Der Punkt, den der SGB-Bericht macht, ist simpel: Seit der Einführung der Personen­freizügigkeit und der flankierenden Massnahmen war die Lohn­entwicklung für lange Jahre insofern positiv, als die unteren Einkommen sich überproportional gut entwickelten und die Lohn­unterschiede – wenn man von der Explosion der allerobersten Top-Gehälter einmal absieht – sich im Gegensatz zum europäischen Umland insgesamt verringerten.

So hatten in den Jahren 2010 bis 2016 die untersten 10 Prozent der Lohn­bezüger einen Reallohn­gewinn von 9,6 Prozent, während die obersten 10 Prozent 6 Prozent zulegten.

In der Periode von 2016 bis 2022 verkehrte sich diese Entwicklung jedoch: Die untersten 10 Prozent der Lohn­bezügerinnen haben 1,8 Prozent Reallohn verloren. Die obersten 10 Prozent hingegen gewannen 5,4 Prozent hinzu. Die Lohn­schere geht wieder auf.

Das führt schliesslich dazu, dass die verfügbaren Einkommen der unteren und mittleren Lohnklassen seit 2020 am Sinken sind. Diese Menschen werden ärmer: Die Real­einkommen nehmen ab, während die Fixkosten rapide steigen. Wer seine Miete überwiesen und seine Krankenkassen­prämie bezahlt hat, verfügt über immer weniger Geld zum Leben – jedenfalls gilt dies für über 50 Prozent der Bevölkerung. Das geht nicht spurlos an den Wählern vorbei.

Welche Massnahmen könnten jetzt ergriffen werden? Ein Ansatz wäre es natürlich, die grössten Ausgaben­posten für Privat­haushalte – also Kranken­versicherung, Miete und gegebenenfalls auch Kinder­betreuung – besser unter Kontrolle zu bringen. Politische Initiativen, die den gemein­nützigen Wohnungsbau oder die Prämien­verbilligungen ausbauen wollten, gab es ja schon einige. Die beste systemische Lösung ist es allerdings, für bessere Einkommen im Niedriglohn­sektor zu sorgen. Genau dies versucht nun auch die Linke.

Schon seit einiger Zeit findet ein seltsames politisches Tauziehen um Mindest­löhne statt. Nachdem eine Volksinitiative zur Einführung eines nationalen Mindestlohnes 2014 deutlich gescheitert war, hat die Linke auf kommunaler und kantonaler Ebene die Initiative ergriffen mit dem Ziel, lokale Mindest­löhne einzuführen. Dahinter steht nicht nur das politische Kalkül, dass das Vorhaben in den teuren Städten oder Stadtkantonen auf grössere Sympathien stösst. Nicht nur die Lebens­kosten, sondern auch die Wertschöpfungs­möglichkeiten unterscheiden sich regional sehr stark. Differenzierte Mindest­löhne sind deshalb im Grundsatz sinnvoll.

Die bürgerlichen Parteien sind für höhere Mindest­löhne jedoch gar nicht zu haben und führen nun allerlei verblüffende Argumente ins Feld. Da in vielen Sektoren bereits Mindest­löhne in den Gesamtarbeits­verträgen fest­geschrieben sind, wollen sie per Bundes­gesetz verordnen, dass kantonale oder kommunale Mindest­löhne die national geltenden Gesamtarbeits­verträge, die in der Regel tiefere Mindest­löhne festschreiben, nicht übersteuern können.

Es entbehrt weiss Gott nicht der Ironie: Normalerweise verstehen sich die bürgerlichen Kräfte als Hüterinnen des Föderalismus und verteidigen mit allen Mitteln die Souveränität der Kantone gegen die vermeintliche Übergriffigkeit des Bundes. Zuletzt wurde dieses Argument gegen die geplanten, vom Bund zu leistenden Subventionen für Krippen ins Feld geführt – schliesslich sei vorschulische Betreuung eine Gemeinde- und Kantons­aufgabe.

Bei der Lohnpolitik ist aber plötzlich alles anders: Offenbar muss unbedingt der Bund bestimmen, wie viel eine Kellnerin oder ein Coiffeur in Zürich oder Genf verdienen soll. So wurde es von National- und Ständerat im Dezember beschlossen und die Landes­regierung damit beauftragt, eine entsprechende Vorlage auszuarbeiten.

Besonders absurd dabei ist, dass Gesamtarbeits­verträge privat­rechtliche Vereinbarungen sind. Sie werden geschlossen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, also zwischen Interessen­vertretern ohne direkte politische Legitimation. Diese Vereinbarungen sollen demokratische Entscheide der Schweizer Kantons­regierungen oder Gemeinderäte übersteuern können? Es wäre ein offensichtlicher staats­politischer Skandal.

Das beeindruckt die bürgerliche Ratsmehrheit aber nur mässig: Je tiefer die Löhne, desto besser! Da muss die Demokratie hinten­anstehen.

Eine andere Frage ist es natürlich, ob Mindest­löhne ökonomisch auch wirklich Sinn machen. Es ist eine der klassischen Debatten unter Volks­wirtschaftlern: Sind gesetzliche Lohn­untergrenzen sinnvoll, weil sie den Konsum stützen und für sozialen Ausgleich sorgen, oder sind sie schädlich, weil sie verhindern, dass die Löhne dem Gleichgewichts­preis auf dem Arbeitsmarkt entsprechen – und damit zu höherer Arbeitslosigkeit führen? Dazu sind im Wesentlichen zwei Dinge zu sagen.

Erstens haben Mindest­löhne einen potenziell negativen Effekt hauptsächlich auf die Jugend­arbeitslosigkeit. Wenn sie zu hoch sind, können sie auch dazu führen, dass junge Arbeitskräfte davon abgehalten werden, eine Ausbildung zu machen. Das ist der Grund, weshalb etwa die in Zürich jetzt beschlossene Lohn­regelung für Arbeit­nehmerinnen bis 25 nur dann gelten soll, wenn sie bereits eine Ausbildung haben. Zweitens kann das Argument der drohenden Arbeits­losigkeit in der aktuellen Situation nicht ins Feld geführt werden.

Zum einen ist fraglich, wo das natürliche Gleichgewicht für den Schweizer Arbeitsmarkt liegen soll, weil aufgrund der Zuwanderung ein quasi unbegrenztes Rekrutierungs­potenzial gegeben ist. Wer die Mindest­löhne erhöht, sorgt wohl in der Tat dafür, dass es zum Beispiel im Gastgewerbe weniger Stellen gibt. Sofern diese aber ohnehin zu einem grossen Teil durch zugewanderte Arbeit­nehmerinnen besetzt werden, dürfte ein Mindestlohn an der Arbeitslosigkeit der aktuellen Wohn­bevölkerung wenig ändern.

Tiefe Löhne führen in der Tendenz zu einer Ausweitung des Stellen­angebotes und befeuern die Zuwanderung. Es ist absurd, dass die einwanderungs­feindliche Rechte mit allen Mitteln für tiefe Löhne kämpft. Für Billig­arbeitskräfte zeigt man sich migrations­politisch dann plötzlich völlig offen.

Zum anderen ist die Lage auf dem Schweizer Arbeitsmarkt so entspannt wie schon lange nicht mehr. Der Fachkräfte­mangel macht sich bemerkbar, die Arbeitslosen­zahlen sind auf einem Tiefststand. Das Letzte, was wir grade fürchten müssen, ist eine hohe Arbeitslosigkeit.

In der Stadt Zürich wird es jetzt zu einem interessanten Abstimmungs­kampf kommen. Hilfswerke, Gewerkschaften und linke Parteien haben eine kommunale Initiative lanciert, die den Mindestlohn auf 23 Franken pro Stunde heben wollte. Vom Gemeinderat angenommen wurde schliesslich ein Gegen­vorschlag, der die Untergrenze sogar auf 23.90 Franken anhebt. Gegen diesen Beschluss haben FDP, SVP und GLP nun das Referendum ergriffen. Die Zürcher Stimm­bevölkerung wird also über einen Mindest­lohn abstimmen, der schon bald per Bundes­beschluss wieder relativiert werden könnte.

Interessant ist, dass Die Mitte den Mindestlohn unterstützt – und sich damit sozial­politisch von der anderen Mittepartei, den Grünliberalen, nach links absetzt. Die Mitte hat bei den Zürcher Kantonsrats­wahlen ein verblüffendes Comeback hingelegt, die GLP hat, gemessen an den Erwartungen, schwer enttäuscht. Ein erstes Anzeichen dafür, dass dieses Jahr Verteilungs­fragen entscheidend sind?

Was auch immer im Herbst die Agenda bestimmen wird: Es wäre fatal, wenn die bisher so erfreulich ausgewogene Schweizer Lohn­entwicklung aus dem Gleichgewicht käme und sich die Schere weiter öffnen würde. Die bisherigen lohnpolitischen Instrumente sind nicht mehr in der Lage, für eine gesunde Entwicklung zu sorgen. Es ist politischer Gestaltungs­wille angezeigt.

Illustration: Alex Solman

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