Vom ungehinderten Aufstieg zum Monopol
Wie Google schon aus Klassenzimmern Daten abschöpft und eine Plattform-Monokultur geschaffen hat. Und warum das trotz Kartellrecht möglich war. Treffen mit Medienprofessorin José van Dijck und Computerwissenschaftler Cory Doctorow. «Do not feed the Google», Folge 2.
Von Lukas Hess, Daniel Ryser, Ramona Sprenger (Text) und Jussi Puikkonen (Bilder), 14.01.2023
Vorgelesen von Dominique Barth
Der grosse Bullshit war schon vor Jahren aufgeflogen. Wachstum. Zum Wohle aller. Die Märkte, Trickle-Down-Effekt, so schöne Wortschöpfungen, die nichts meinten. Also nichts Angenehmes für die Massen. Aber wen interessieren die schon. Die wirklich Reichen, die Kapitalisten, die Plattformheinis, die es geschafft hatten, aus der Welt ein vereintes Irrenhaus zu machen, die weltverbindende Einheit der durchdrehenden Hassblasen, die sie mit ihren Scheisscodes gegründet hatten, diese neuen Könige des Untergangs verteidigten ihren Besitz wütender als je zuvor.
«Der grösste Zaubertrick, den Google bis heute abgezogen hat», sagt Cory Doctorow, «ist, dass sie uns davon überzeugt haben, dass sie Wunderkinder sind, eine Art Zauberer von Oz. Dabei sind sie doch etwas ganz anderes.» Doctorow ist Science-Fiction-Bestsellerautor aus Los Angeles, Berater der Electronic Frontier Foundation und Professor der Computerwissenschaften in England.
«Für die Verfahren, Klagen, die diversen Urteile, Rekordstrafen wegen Verstössen unter anderem gegen das Kartellrecht, dafür gibt es tatsächlich ein Wort. Aber dieses Wort ist nicht Zauberei», sagt Doctorow. «Das Wort dafür lautet Falschspielerei.»
Falschspieler: Das seien sie.
Ein wichtiger Punkt, der mit Blick auf Google viel zu wenig Aufmerksamkeit bekomme, sagt Cory Doctorow, einer der besten Kenner von dem, was heute als Big Tech bezeichnet wird, «ist der Fakt, dass Google praktisch nie ein eigenes erfolgreiches Produkt auf den Markt gebracht hat».
Wie meinen Sie das, Herr Doctorow?
«Sie haben eine Suchmaschine geschaffen. Sie haben einen ziemlich guten Hotmail-Klon geschaffen und mit Chrome einen gruseligen Browser, der uns pausenlos ausspioniert. Aber die meisten grossen Inhouse-Projekte waren riesige Flops: Google Video. Die sozialen Netzwerke Google+ und Orkut. Ein riesiger Friedhof abgestürzter Projekte. Und dieses Versagen wird viel zu wenig gewürdigt.» Dabei sei dieser Punkt wichtig, um zu verstehen, wie Google ein Internetmonopol mit einem Umsatz von 250 Milliarden Dollar habe werden können.
Serie «Do not feed the Google»
Der diskrete Überwachungsgigant: Wir zeichnen nach, wie der Google-Konzern zur Bedrohung für die Demokratie wurde – und die Schweiz zu seinem wichtigsten Standort ausserhalb des Silicon Valley. Gespräche mit Internet-Expertinnen aus den USA, den Niederlanden, Deutschland und Kanada. Zur Übersicht.
Sie lesen: Folge 2
Vom ungehinderten Aufstieg zum Monopol
Folge 3
Die Entzauberung von Google
Folge 4
Wenn ethische Werte nur ein Feigenblatt sind
Folge 5
Half Google, einen Schweizer auszuspionieren?
Folge 6
Auf dem Roboterpferd in die Schlacht
Folge 7
Gewinne maximieren, bis sie weg sind
Folge 8
Google und die Schweiz – eine Liebesgeschichte
Folge 9
Google im rot-grünen Steuerparadies
Folge 10
Inside Google Schweiz
Bonus-Folge
Podcast: Warum sind alle so verschwiegen?
«Sie nennen sich Ideenmaschine, führen eine eigene Forschungsabteilung und nennen die ambitionierten Projekte ‹Moonshots›», sagt Doctorow. Moonshots: Das ist frei nach John F. Kennedy und dem Apollo-Programm. Google-Gründer Larry Page sagte 2014: «Wenn du das Leben von 100 Millionen Menschen veränderst, dann bist du nicht erfolgreich. Das bist du erst, wenn du das Leben von einer Milliarde Menschen veränderst.»
«Sie sind überzeugt davon, dass sie gut darin sind, Dinge zu erfinden», sagt Computerwissenschaftler Doctorow. «In Wirklichkeit ist Google ein Unternehmen, das fast unbegrenzten Zugang zu den Kapitalmärkten hat. Damit haben sie all jene Unternehmen gekauft, in denen Leute tatsächlich gute Ideen hatten. Das ist ihr Modell: Google hat einfach Hunderte Konkurrenzunternehmen aufgekauft. Und all das wäre bei einer Anwendung des historischen Kartellrechts niemals möglich gewesen.»
Big Tech habe Bewährtes in eine Schicht aus Technologie eingewickelt und behauptet, die Verbote der echten Welt würden in der digitalen Welt nicht gelten. «Und jedes grosse Technologieunternehmen wird das auch weiter tun, bis wir es mit dem Kartellrecht gezähmt haben», sagt Doctorow. «Wenn man das Kartellrecht angewandt hätte, so wie man es vor dem Aufstieg von Big Tech angewandt hat – ein Aufstieg, der zeitlich exakt mit der US-Präsidentschaft von Ronald Reagan zusammenfiel, der das Kartellrecht aushebelte –, dann wäre Google heute ein Unternehmen neben vielen anderen, ein Unternehmen mit einer Suchmaschine und einem Hotmail-Klon.»
José van Dijck: «Ein riesiger Datenschatz»
In den Niederlanden erhalten die Kinder an den Schulen Google-Laptops. Darauf befindet sich Google-Software – genauer gesagt sind es die für den Staat, also die Schulen, kostenpflichtigen Lernprogramme von «Google for Education». Um die Programme benutzen zu können, braucht jedes Kind ein Login, einen Gmail-Account. Ein Login in das Google-Universum. Dort produzieren die Kinder dann Daten. (Die kanadische Tech-Aktivistin Bianca Wylie sagt, in Toronto habe es noch nicht einmal eine öffentliche Ausschreibung gegeben, weil Google den Schulen die Lernplattform «Google Classroom» umsonst abgegeben habe.)
«Daten sind die Währung von Google, der Treibstoff der Datenindustrie», sagt José van Dijck, Professorin für Medien und Digitale Gesellschaft an der Universität Utrecht. «Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren nutzen im Bildungssystem die Google-Hardware, die Google-Software. Google verstrickt Kinder von klein auf in sein nahtloses System, wo sie zu Konsumenten und gleichzeitig Datenerzeugern werden. Ein riesiger Datenschatz von unschätzbarem Wert.»
Neben dem Generieren von Daten, sagt José van Dijck, bedeute dieses Eindringen ins Bildungssystem mit «Google for Education», dass Bildung in eine globale digitale Infrastruktur integriert werde. Lehren und Lernen, ein riesiger Markt von Big Tech, werde durch Plattformen wie Google beeinflusst und verändert, weil Google fertige Lehrkonstrukte anbiete, die eine enge Anbindung der Schülerinnen und Schüler an das Plattformangebot erforderten und die Autonomie von Lehrpersonen aushöhlten. Die Kontrolle über pädagogische Entscheide und Beurteilungen verlagere sich somit von den Lehrkräften zu Algorithmen. Käme «Big Brother» heute zurück, zitiert van Dijck den britischen Historiker Timothy Garton Ash, «wäre er eine Private-Public-Partnership».
José van Dijck ist international eine der gefragtesten Ansprechpartnerinnen, wenn man wissen will, wie das Unternehmen Google aufgebaut ist, wie es funktioniert und wie es jedes Jahr Hunderte Milliarden von Dollar umsetzt. 2015 präsidierte van Dijck als erste Frau die Königliche Akademie der Wissenschaften. 2021 erhielt sie den Spinoza-Preis, die höchste wissenschaftliche Auszeichnung der Niederlande. Van Dijck ist ein internationaler Star in der Welt der Wissenschaft. Ihr Forschungsschwerpunkt: digitale Plattformen und deren alles umspannender Einfluss auf unser Zusammenleben.
Google, das ist ursprünglich eine Suchmaschine. So hat es 1998 angefangen. Heute ist Google ein riesiges Konglomerat verschiedener Plattformen mit dem Namen Alphabet, der Dachorganisation der Google-Plattformen. Alphabet ist das viertwertvollste Unternehmen der Welt mit einem Marktwert von 1,25 Billionen Dollar, also 1’250’000’000’000 Dollar.
«Zusammen mit den anderen vier grossen Big-Tech-Unternehmen – Apple, Microsoft, Meta und Amazon – teilt sich Google den Markt auf. Sie bilden ein Plattform-Ökosystem, die Online-Infrastruktur dieser Welt», sagt Medienwissenschaftlerin van Dijck. «Mit der Welt meine ich nicht nur die kommerziellen Sektoren, sondern auch öffentliche Sektoren wie das Gesundheitswesen, das Bildungswesen. Alle Arten von öffentlichen Bereichen unserer Gesellschaft. Diese Infrastruktur ist per definitionem kommerziell. Damit meine ich, dass ihr grundlegendes Interesse darin besteht, Geld zu verdienen. Unsere Staaten und Gesellschaften, die auf demokratischen Prinzipien basieren, sind abhängig von der Infrastruktur von Google und den anderen vier Big-Tech-Unternehmen.»
«Der Plattform-Baum»
Google beherrscht rund 84 Prozent des Weltmarktes für Suchmaschinen. Rund 9 Prozent beherrscht Microsoft mit der Suchmaschine Bing. «In Europa werden 99 Prozent dieses Marktes von zwei Firmen dieser Big Five kontrolliert», sagt van Dijck. «Wir haben zwar öffentliche Bibliotheken, aber online haben wir praktisch keine Wahl zwischen verschiedenen Plattformen.»
Zusammen mit Facebook kontrolliere Google einen Grossteil des Online-Werbemarktes. «Wir kennen die genauen Zahlen nicht, aber wir wissen, dass es deutlich mehr als die Hälfte des Marktes ist», sagt die Niederländerin.
Oder Google Maps: einer der grössten Dienste für Online-Navigation.
Youtube, von Google 2006 gekauft: eine der grössten Video-Plattformen.
Gmail, ehemals Google Mail: der meistgenutzte E-Mail-Dienst der Welt.
Android: mit über drei Milliarden aktiven Nutzerinnen und Nutzern pro Monat das meistgenutzte Betriebssystem der Welt. Weltweiter Marktanteil: 72 Prozent (Apple deckt mit iOS und 28 Prozent den restlichen Markt ab).
Google Play Services, Google Cloud Service, Google Workspace, Google Login, Google Meet: «Ich kann nicht annähernd alle aufzählen», sagt van Dijck. «Es sind über hundert Plattformen, die Google gehören und von Google betrieben werden.»
«Das Wort Plattform ist für Google deshalb wichtig, weil das Unternehmen damit unter ein Gesetz fällt, wonach Plattformen nicht für ihre Inhalte verantwortlich sind und haftbar gemacht werden können. Anders als Zeitungen beispielsweise», sagt van Dijck. «Das gibt ihnen die einmalige Gelegenheit, Daten zu generieren und gleichzeitig nicht für die Moderation verantwortlich zu sein und das konstante Unheil zu beseitigen, das sie damit anrichten. Misinformation. Fake News. Desinformation. Hassrede.»
Google behält die Werbeeinnahmen – für den hetzerischen Content aber sind die User verantwortlich.
Die Geschäftsstruktur von Google bezeichnet José van Dijck als «Plattformbaum». Dieser Baum bestehe aus drei Ebenen: Wurzeln, Stamm, Ästen.
Die Wurzeln stünden für die physische Infrastruktur: Datenzentren, Tiefseekabel, Satelliten, Chrome-Books. Den Stamm bildeten die Dienste: Google Search, Google Maps, Google Play Store. Die Äste seien die Bereiche, in denen Google aktiv sei: Bildung, Mobilität, Gesundheit, News, Finance. Alle Stellen seien ineinander verwoben.
Es handle sich nämlich nicht um eine wahllose Ansammlung von Diensten, sondern um ein immersives Ökosystem, ein System, in das man völlig eingebunden sei, «bei dem Google die ganze Wertschöpfungskette besitzt und kontrolliert».
Der Weg zum Monopol
Wenn wir einen König als politische Macht nicht dulden, sollten wir auch keinen König dulden, der über Produktion, Transport und den Verkauf der lebensnotwendigen Güter bestimmt.
Heute werde das Internet von ein paar wenigen Unternehmen kontrolliert. Google und Facebook hätten sich den Werbemarkt praktisch aufgeteilt, sagt Autor und Computerwissenschaftler Cory Doctorow. «Google wiederum zahlt Apple jedes Jahr Milliarden von Dollar, damit Google auf dem Safari-Browser des iPhones die Standardsuchmaschine ist. Damit selbst jedes iPhone praktisch automatisch Daten für Google generiert.»
Es gebe Unternehmen, die durch Regulierung und Wettbewerb diszipliniert würden, und solche, die zu gross dafür geworden seien. «Jene Unternehmen, die wie Google zu gross dafür geworden sind, müssen wir zerschlagen auf eine Grösse, wo die Gesetze wieder greifen, die ihnen verbieten, uns auszuspionieren.»
«Werbung hat hundert Jahre lang funktioniert, ohne dass wir ausspioniert wurden», sagt Doctorow. «Niemand kam mit zwei Steintafeln von einem Berg herunter und sagte: Werbeagenturen der Welt, von nun an müsst ihr Menschen ausspionieren.»
«Sie taten es nicht, weil sie schlechter oder besser sind als die Werbeleute, die vor ihnen kamen», sagt der Science-Fiction-Autor. «Es liegt schlicht und einfach daran, dass wir sie nicht reguliert haben. Und das ist letztlich der entscheidende Punkt der Geschichte, warum Big-Tech so profitabel und ausser Kontrolle geraten ist: ihr ungehinderter Aufstieg zum Monopol.»
Ende des 19. Jahrhunderts sei mit dem «Sherman Anti-Trust Act» in den USA das Kartellrecht entstanden. Mit diesem Gesetz habe man schädliche Marktdominanz verhindern wollen. Man habe verhindern wollen, dass Firmen so gross würden, dass es den Regierungen nicht mehr möglich sein könnte, sie zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie Regeln brachen. Keinem Unternehmen sollte es möglich sein, ungestraft andere Marktteilnehmende zu schädigen, Kunden zu schädigen, den Gesetzgebungsprozess zu korrumpieren und Regulierungen zu ignorieren, einfach weil sie zu gross geworden seien. Als Folge des «Sherman Act» sei es bis in die 1970er-Jahre Unternehmen praktisch untersagt gewesen, die direkte Konkurrenz zu übernehmen.
«Heute kauft Facebook für eine Milliarde Dollar Instagram und danach kleinere Unternehmen, die zur ernsthaften Konkurrenz hätten heranwachsen können, wie Giphy für 400 Millionen Dollar. Uber pumpt Milliarden von saudischen Öldollars in den Markt. Verkauft Taxifahrten, die billiger sind als die tatsächlichen Kosten für die Bereitstellung einer Fahrt. Räuberische Vertreibungspreise, um ein Monopol zu schaffen.»
Sobald der Markt von der Konkurrenz gesäubert sei, werde er neu strukturiert und kontrolliert. Es werde entschieden, wer in den Markt eintreten dürfe und unter welchen Bedingungen. «Und damit sind wir in einer Planwirtschaft angekommen, die jedoch nicht von Bürokraten geplant wurde, die der Öffentlichkeit gegenüber rechenschaftspflichtig sind, sondern von Führungskräften, die nur einem Gremium verpflichtet sind: den Aktionären.»
Die neue Aristokratie
Mit den ersten Heimcomputern von Apple sei gleichzeitig Ronald Reagan in das Rennen um die US-Präsidentschaft gestiegen, sagt Cory Doctorow. «Die neoliberalen Ökonomen und Juristen an der University of Chicago School of Economics wollten alle sozialen Sicherheitsnetze der Nachkriegszeit abschaffen. Sie wollten die Mindestlöhne abschaffen und die Gewerkschaften, die Umweltvorschriften und die Arbeitsgesetzgebung, das Wahlrecht im Allgemeinen und die öffentliche Bildung zurückfahren. Der Markt würde alle Probleme lösen. Staatliche Subventionen bloss die natürliche Marktfunktion stören. Sie vertraten eine stark aristokratische Philosophie – und Ronald Reagan wurde ihr Präsident.»
Einer der Anführer der neuen Bewegung, die das historische Kartellrecht angriffen, sei ein Jurist namens Robert Bork gewesen. Dieser habe ein Buch geschrieben mit dem Titel «The Antitrust Paradox»: Das Kartellrecht sei einzig dazu da, zu verhindern, dass Monopole Preise erhöhten. Alles andere sei effizient und gut, deswegen müsse der Markt entfesselt werden.
Dabei sei genau das die grosse Sorge des republikanischen Senators John Sherman gewesen, als er 1890 den «Sherman Anti-Trust Act» geschrieben habe: dass nur noch ein paar wenige Autokraten den Markt beherrschten.
Die neue Ideologie, die Milliardäre machen zu lassen, sei bei reichen Leuten gut angekommen, also hätten sie eine Menge Geld in die Umsetzung dieser Idee gesteckt. Unter den Anführern der neoliberalen Epoche – unter Reagan, der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, dem kanadischen Premier Brian Mulroney – sei es zu einer Veränderung der Kartelldoktrin gekommen: Man habe die Gesetze nicht geändert, aber die Art und Weise, wie diese Gesetze durchgesetzt wurden.
«Während des Aufstiegs der Technologiebranche wurde das Kartellrecht schwächer und schwächer», sagt Cory Doctorow. «Im Gegensatz zu anderen Branchen wie der Schwerindustrie, wie Kohle, Öl, Eisenbahn, hatte die Technologiebranche kein institutionelles Gedächtnis dafür, wo sich die kartellrechtlichen Leitplanken befanden. Niemand sagte: Oh, warte, wenn wir das tun, werden die Federal Trade Commission und das Justizministerium auftauchen und unser Leben verelenden. Diese Big-Tech-Anwälte waren frischgebackene Stanford-Absolventen, sie kannten keine Leitplanken und sagten: Das klingt ja toll, lassen Sie mich den Vertrag aufsetzen.»
So seien sie entstanden, Google und Company, in einem entfesselten Markt: «Diese akquisitionsgetriebenen, wettbewerbsfeindlichen, preisgesteuerten, mit schmutzigen Tricks agierenden Unternehmen, die wuchsen und wuchsen und wuchsen. Und zwar wuchsen sie gar nicht deshalb, weil sie die besten Produkte herstellten, sondern indem sie sich Zugang zu den Kapitalmärkten verschafften und jeden auslöschten, dessen Produkt besser war.»
«Kopieren, übernehmen, töten»
Im Sommer 2022 bestätigte das Europäische Gericht die höchste Busse in der Geschichte des europäischen Kartellrechts. Über Google. Mehr als vier Milliarden Euro. Weil Google sein Android-Betriebssystem dazu benutzt hatte, die Konkurrenz auszubremsen: Wenn man ein Android-Betriebssystem nutzte, waren dort Google-Dienste, beispielsweise der Google-Browser Chrome, als Standard eingestellt. Seit 2017 wurden in der EU gegen Google Wettbewerbsstrafen von mehr als acht Milliarden Euro verhängt.
«Google hat früh strategisch die Konkurrenz aufgekauft – Android, Youtube, Doubleclick – und in ihre eigenen Systeme integriert. Diese strategischen Käufe, mit denen man sich die Konkurrenz einverleibt und sie ausgeschaltet hat, war ihr Geheimnis, so gross zu werden», sagt Forscherin und Plattform-Expertin José van Dijck. Killed by Google: Eine Aufzählung ohne Anspruch auf Vollständigkeit listet 280 Übernahmen auf. Die Strategie der Big-Tech-Unternehmen, sich lästige Konkurrenz vom Hals zu halten, hat einen Namen: «Copy, acquire, kill» – «kopieren, übernehmen, töten».
«Um auf all die Google-Services Zugriff zu haben, braucht man ein Google-Login», sagt van Dijck. Vordergründig benutze man verschiedene Dienste, doch die Daten würden verknüpft: «Google ist in Wirklichkeit ein Datenunternehmen. Und das ist sein Geschäftsmodell: Es geht Google mit all seinen Diensten, von der Suchmaschine bis hin zum Workspace, um das Generieren von Daten. Diese Daten verkauft Google dann an die Werbung. Gleichzeitig sind nicht alle Google-Dienste gratis. Es verkauft also auch seine Google-Dienste an die Verbraucher, die dann mit diesen Diensten Daten erzeugen, mit denen Google Milliarden verdient. Es ist ein Kreislauf.»
Daten: Das ist alles, was man online stellt. Ein Bild, ein Text, ein Ton, eine Nachricht. Wenn man etwas likt oder teilt. Jede Art von Transaktion. Von Online-Aktion. Wie lange man braucht, um eine Nachricht zu schreiben. Wie schnell man weiterklickt. Wie lange man gezögert hat, bevor man etwas gelikt hat. Oder nicht gelikt hat. Mit wem man vernetzt ist. Woher man kommt, wohin man geht und wie lange man sich an welchen Orten aufhält. Wie lange man vor einem Geschäft stehen bleibt.
Nachdem der Oberste Gerichtshof der USA im vergangenen Jahr das liberale Abtreibungsgesetz gekippt hatte, gab Google bekannt, dass man den Standortverlauf von Personen, die Abtreibungskliniken besuchten, kurz nach dem Klinikbesuch löschen werde, damit die Regierung nicht darauf zurückgreifen könne.
Bei seinem Gesundheitstracker Fitbit, teilte Google mit, habe man ein Update eingebaut, damit die Verbraucherinnen Daten über Menstruationszyklen löschen könnten, nachdem Regierungsstellen wegen ebensolchen Daten angeklopft hatten.
Damit sagte Google vor allem: Wir wissen, ob du schwanger bist. Wir wissen, in welcher Woche du schwanger bist. Und wir wissen, ob du abgetrieben hast. Und dass die Regierung weiss, wo sie sich diese Daten besorgen kann.
Google verfolgt einen sogar, wenn man im Inkognito-Modus surft, das private Fenster im Webbrowser, wo man im Glauben unterwegs ist, dass die Verlaufsdaten nicht gespeichert werden. Das geht aus einer Fünf-Milliarden-Dollar-Klage hervor, die in den USA gegen Google hängig ist. Die totale Durchleuchtung unserer Leben.
Google Analytics beispielsweise. Ein Tool, um die Bewegungen von Nutzenden auf Webseiten zu messen. Eine kostenlose Statistikseite, die Betreiberinnen in ihre Webseiten einbauen, damit sie verfolgen können, wofür sich die Besuchenden auf der Seite interessieren. Es kann zwar mit einer Erweiterung deaktiviert werden, wird aber von 86 Prozent der zehn Millionen meistbesuchten Webseiten verwendet. «Mit Google Analytics hat Google ein umfassendes Überwachungswerkzeug geschaffen, mit dem es praktisch den ganzen Webseitenverkehr trackt – und zwar auch ausserhalb der eigenen Google-Dienste», sagt der Mathematiker und Programmierer Rainer Mühlhoff, Leiter des Forschungsbereichs Ethik der Künstlichen Intelligenz am Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück.
Wofür man sich auf den Seiten interessiert. Wie alt man ist. Ob man ohne Vater aufgewachsen ist. Welche Drogen man konsumiert. Wie viel Geld man verdient. Wofür man sich im Büro interessiert und wofür spätnachts. Welche sexuelle Orientierung man hat und was man für den nächsten Tag plant. «All das kann mit diesen Tracking-Daten geschätzt werden», sagt Mühlhoff. «Das Geschäft von Google, Facebook und zunehmend auch Apple besteht darin, anhand von Daten, welche die Nutzer selber kaum für sensibel halten, viel sensiblere Daten über die Nutzenden mittels sogenannter prediktiver Modelle zu schätzen und diese Schätzungen dann zu verkaufen. Das kann die Werbeindustrie sein, die damit personalisierte Werbung macht. Das kann die Versicherungsindustrie sein, die dann einen personalisierten Preis anbietet. Es können aber potenziell auch autoritäre Regimes sein.»
Weil all diese Daten zuerst in die USA geschickt werden und erst dort von Google anonymisiert werden, haben die amerikanischen Geheimdienste Zugriff auf diese Daten. Deswegen wurde Google Analytics wegen Unvereinbarkeit mit den europäischen Datenschutzgesetzen bezüglich personalisierter Daten im Januar 2022 zuerst in Österreich, im Februar in Frankreich und im Juni in Italien für unzulässig erklärt – Deutschland und die gesamte Europäische Union könnten vermutlich bald nachziehen.
«Fünfhundert Lobbyisten in Brüssel»
«Wir wissen nicht, wie die Algorithmen hinter den Services arbeiten, wie sie zu ihren Schlüssen kommen», sagt José van Dijck. «Das ist Geschäftsgeheimnis.» Es sei aber eine falsche Annahme, zu glauben, diese Plattformen und die generierten Daten seien neutral. Denn es gehe um Gewinn. Die Algorithmen dienten der Gewinnsteigerung.
«Je mehr Daten, desto besser», sagt Van Dijck. Deswegen wehrten sich die Big-Tech-Unternehmen auch gegen jegliche Regulierungen bezüglich Privatsphäre. «Daten sind ihre Ressource», sagt sie. Auch um selbstlernende Algorithmen bauen und trainieren zu können. «Je mehr Daten Google hat, desto leistungsfähiger ist seine Software, desto mehr Vorteile hat Google gegenüber anderen Unternehmen.»
Van Dijck spricht von dataveillance, einer Form der kontinuierlichen Überwachung durch die Verwendung von Daten – einer unheiligen Allianz, bei der Regierung, private Unternehmen und Wissenschaft miteinander verbandelt seien und gar niemand ein Interesse daran habe, dass überhaupt weniger Daten gesammelt würden.
Die Staaten wegen der Spionage. Google wegen des Geldes. Die Wissenschaft wegen der empirischen Forschung.
Noch vor wenigen Jahren habe sich niemand für die Machtstellung von Big Tech interessiert. Seit einigen Jahren habe ein Umdenken stattgefunden. Auf der Ebene der Europäischen Union sei man sich bewusst geworden, dass diese entfesselte Macht der Technologieunternehmen dem demokratischen Europa erheblich schade. Seit 2018 gebe es die Datenschutz-Grundverordnung der EU: «Google hat fünfhundert Lobbyisten in Brüssel. Alle grossen Tech-Unternehmen haben gegen dieses Gesetz lobbyiert», sagt van Dijck.
Das langsame Umdenken habe einen Namen: Techlash. Eine Wortschöpfung aus den Begriffen «Backlash» und «Tech» als Bezeichnung für eine wachsende Ablehnung oder Feindseligkeit gegenüber Big Tech in der Folge verschiedener Ereignisse und Enthüllungen.
Zum Beispiel wegen des Whistleblowers Edward Snowden und Google. Oder wegen Cambridge Analytica und Facebook. Während man im Arabischen Frühling noch dachte, Big Tech trage mit seiner Technologie die Demokratie in die Welt, realisierte man nun, welche Macht Big Tech angehäuft hatte, welch gigantisches Monopol da aufgebaut worden war.
Ein Monopol, das mit Demokratie und Rechtsstaat womöglich immer schwieriger vereinbar sein würde. Cambridge Analytica und Snowden zeigten den Menschen dann ganz konkret, welche Probleme diese Monopolstellung mit sich brachte, von politischer Einflussnahme bis hin zum völlig unvorsichtigen Umgang mit den Daten der Menschen, der Weitergabe dieser Daten zum Beispiel an Geheimdienste.
«Vieles kam heraus», sagt José van Dijck. «Es zeigte sich, dass man den Tech-Unternehmen in Bezug auf die Daten, die wir ihnen völlig naiv zugeworfen hatten, nicht trauen kann.»
Wir haben die Stelle zur kartellrechtlichen Busse gegen Google präzisiert. Vielen Dank für den Hinweis aus der Leserschaft.
Zur Serie «Do not feed the Google» und zu den Co-Autoren
Diese Serie ist eine Zusammenarbeit zwischen der Republik, dem Dezentrum und dem WAV. Das Dezentrum ist ein Think & Do Tank für Digitalisierung und Gesellschaft. Hinter dem Dezentrum steht ein öffentlicher, gemeinnütziger Verein. Das WAV ist ein unabhängiges Recherchekollektiv aus Zürich.
Ramona Sprenger und Lukas Hess sind Partnerinnen beim Dezentrum in Zürich, einem Think & Do Tank, der sich für eine nachhaltige Digitalisierung einsetzt, welche die Menschen und die Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Ramona Sprenger ist Interaction Designerin. Lukas Hess doktoriert an der Universität Zürich im Themenbereich Digital Inequality.