«Ich hab mich getäuscht»

Feministischer Fortschritt ist linear

Wenn wir uns nur genug anstrengen, werden Frauen mit jeder Generation freier sein – dachte ich. Dann überrollte mich die Realität wie eine Dampf­walze. Serie zu 2022, einem Jahr ohne Gewissheiten.

Von Bettina Hamilton-Irvine (Text), Taiyo Onorato und Nico Krebs (Bild), 02.01.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
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Meine Gross­mutter durfte nicht ans Gymnasium. Oder überhaupt eine Ausbildung machen. Dass sie das klügste Kind in ihrer Klasse war, spielte keine Rolle. Ein Lehrer versuchte noch, den Vater davon zu überzeugen, dass das gescheite Mädchen ans Gymnasium gehört, doch ohne Erfolg. Die Eltern hatten einen kleinen Lebensmittel­laden; wir haben genug Arbeit hier für dich, sagte der Vater.

Meine Mutter durfte nicht abstimmen, bis sie 25 Jahre alt war. Wenn ich daran denke, wird mir noch heute heiss vor Wut. Längst voll­jährig, musste meine Mutter noch jahre­lang zuschauen, wie ihre männlichen Arbeits­kollegen, ihre Brüder oder ihre Freunde politisch mitbestimmen durften, während sie davon ausgeschlossen war. Als wäre sie nicht zurechnungs­fähig.

Bis meine Mutter ein Konto eröffnen oder einen Vertrag unter­schreiben durfte, ohne zuerst die Erlaubnis ihres Mannes abholen zu müssen, musste sie sogar 42 Jahre alt werden, fast so alt, wie ich heute bin. So lange dauerte es, bis das Ehe­recht 1988 anerkannte, dass Frauen nicht nur ein Anhängsel ihres Gatten sind.

Und ich? Weil ich ein Mädchen war, musste ich in der Primar­schule in die Hand­arbeit statt ins Werken. Das fand ich ungerecht, aber nicht nur, weil ich auch gerne hin und wieder ein Modell­flugzeug aus Balsa­holz gebastelt hätte, statt mit einer Schere in einen gestrickten Blätz zu schneiden und das Loch dann zu flicken. Sondern vor allem deswegen, weil ich vier Stunden pro Woche «Handsgi» hatte, während die Buben nur zwei Stunden ins Werken mussten. Darum verstand ich auch, dass die Frauen am Frauen­streik­tag sich so aufregten. Ich wurde schliesslich auch benachteiligt wegen meines Geschlechts.

Zumindest ein bisschen, denn eigentlich hatte ich es ja gut.

Auf jeden Fall viel besser als meine Mutter.

Und noch viel besser als meine Grossmutter.

Dafür war ich dankbar. Und hatte es, das spürte ich, auch zu sein.

Klar, irgend­wann begannen Männer auf der Strasse, mir schmieriges Zeugs nachzurufen, das fand ich sehr unangenehm. Irgend­wann machte ein Mann im Zug anzügliche Hand­bewegungen in meine Richtung. Irgend­wann griff mir ein Mann auf einer Treppe in einem Club zwischen die Beine. Ich fühlte mich danach noch tage­lang beschmutzt, dreckig, beschämt.

Aber sonst hatte ich es ja gut. Dachte ich.

Zum Format und zu den Bildern

In Europa ist Krieg. In den USA verlieren Frauen das Grund­recht auf Abtreibung. Die Teuerung spielt verrückt. Die Energie wird knapp. 2022 hat viele scheinbare Gewissheiten auf die Probe gestellt. Auch bei der Republik-Crew.

Im Format «Ich hab mich getäuscht» erzählen wir Ihnen davon. Und vielleicht finden Sie sich in der einen oder anderen Geschichte selbst wieder. Und wenn Sie mögen: Erzählen Sie uns und der Community, wo Sie dieses Jahr eine Überzeugung loslassen, eine Meinung ändern, einen Irrtum eingestehen mussten. Irren ist schliesslich menschlich. Und Scheu­klappen sind für Pferde.

Die Bilder zur Serie stammen vom Zürcher Künstlerduo Taiyo Onorato und Nico Krebs, die in ihrer Fotografie den Blick auch immer wieder auf Skurriles richten.

Später im Beruf fand ich irgendwann heraus, dass mein gleich­altriger Kollege mit den gleichen Qualifikationen mit ein paar hundert Franken mehr Lohn als ich in den gleichen Job eingestiegen war. Das ärgerte mich. Aber vielleicht gab es ja einen Grund dafür. Oder ich war selber schuld, weil ich nicht gut genug verhandelt hatte.

In jedem Fall konnte ich mich damit trösten, dass es immer ein bisschen besser würde. Davon war ich überzeugt. Es fehlte schliesslich nicht mehr viel. Oder?

Noch gab es diesen Lohn­unterschied, ja klar, und ein Teil davon war strukturell bedingt. Das war nicht gut, natürlich, aber das würden wir auch noch wegbringen.

In der Politik gab es ein bisschen wenig Frauen, und fast keine in den Spitzen­positionen der Wirtschaft. Aber auch das würde sich bald ändern, wenn wir uns nur genug anstrengten. Lean in!

Auch ich würde alles erreichen können, dachte ich damals. Ich würde Karriere machen, vielleicht sogar Bundes­rätin werden. Und gleich­zeitig würde ich einen progressiven Mann finden, völlig gleich­berechtigt leben und meine Kinder zu starken Individuen erziehen, die Mädchen wild und unabhängig, die Buben fürsorglich und besonnen.

Ich war also überzeugt, mit anderen Worten, dass der feministische Fortschritt linear ist. Sah ihn sozusagen als berechenbare Funktion unseres Einsatzes: Wie schnell wir am Ziel ankommen würden, hing für mich nicht zuletzt davon ab, wie fest wir uns anstrengten. Natürlich gab es dazu ein paar politische Entscheide, die stimmen mussten. Aber grund­sätzlich war für mich klar: Weil die Richtung stimmte und die Kraft­anstrengung auch, würden wir irgendwann am Ziel ankommen.

Natürlich glaubte ich das auch, weil ich es musste: Woher sonst die Zuversicht nehmen, um jeden Tag aufzustehen? Um mich etwas zu verschreiben, mich ganz der Welt auszusetzen? Ich wusste nicht, wie die Alternative hätte aussehen sollen. Ständige Wut? Also entschied ich mich, auf die Zukunft zu wetten. Und darauf zu vertrauen.

Natürlich überkamen mich trotzdem Zweifel.

Als ich, eine von drei Frauen in einem Meer von Männern, in einer Ressortleiter­konferenz sass und mich ohnmächtig fühlte. Als schon wieder jemand sagte: Bettina, schreibst du das Protokoll?

Natürlich überkam mich die Verzweiflung.

Als ich begriff, wie viele Frauen geschlagen werden, vergewaltigt, bedroht – weil sie Frauen sind. Als mir auch nach Jahren keine gute Erklärung einfiel, wieso es den allein­erziehenden Müttern an der Migros-Kasse besser gehen sollte, wenn nur endlich 30 Prozent Frauen in Verwaltungs­räten sässen.

Natürlich packte mich die Wut.

Als ich realisierte, dass Frauen gleich viel arbeiten wie Männer, aber pro Jahr 100 Milliarden Franken weniger verdienen – und deswegen oft im Alter nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen.

Und schliesslich überrollte mich die Realität wie eine Dampf­walze.

Irgendwann sass ich völlig überwältigt zu Hause mit einem neugeborenen Baby und realisierte, dass ich meine Gleich­berechtigungs­träume zusammen mit den dreckigen Windeln in den Kübel werfen konnte. Ich war verantwortlich dafür, dass dieses Baby nicht starb, obwohl ich nicht wusste, wie das ging, und mein Partner war zurück an der Arbeit. Das Pensum reduzieren konnte er nicht, das war gerade gar nicht günstig, der Chef, die neue Aufgabe, unmöglich. Die Schweiz sah damals gerade mal einen Tag Vaterschafts­urlaub vor, heute sind es zwei Wochen.

So stellten die Rahmen­bedingungen gleich zu Beginn unserer Zeit als neue Familie klar: Dein Platz soll hier sein, beim Kind. Sein Platz soll dort sein, im Büro. Schliesslich, so sagten sie, braucht ein Neugeborenes halt die Mutter am Anfang mehr als den Vater. Dass das Unsinn ist, wurde mir damals erst klar.

Und auch, was dieses sofortige Einweisen von Frau und Mann in ihre Rollen gleich in den ersten Monaten nach einer Geburt bedeutet: nämlich, dass es nachher sehr viel Kraft braucht, um sich von dort wieder zu entfernen.

Das war mein individueller Schock im Privaten – dessen Erfahrung ich mit ganz vielen Müttern teile. Dann folgte, wie eine hämische nachträgliche Bemerkung, in diesem Jahr die offizielle Bestätigung: Wir waren noch lange nicht dort, wo ich hin­wollte. Schlimmer noch: Vielleicht würden wir nie ankommen. Feministischer Fort­schritt war nicht linear, und unsere Anstrengungen waren manchmal vergeblich.

Denn im Juni 2022 beschlossen in Washington D.C. vier ältere, konservative Männer mit Unterstützung eines christlich-fundamentalistischen Sekten­mitglieds, 50 Jahre Fortschritt über die Tisch­kante zu wischen, als wären es Brot­krümel.

Das Recht einer Frau, zu entscheiden, ob, wann und mit wem sie Kinder haben will: Der Staat garantierte es von einem Tag auf den anderen nicht mehr. «Roe v. Wade», das landes­weit garantierte Recht auf Schwangerschafts­abbruch, war Geschichte.

Der Entscheid traf mich wie eine Faust in die Magen­grube. Auch wenn ich nicht in den USA lebe, verstand ich ihn so, wie er gemeint war: als Kampf­ansage. Als Macht­demonstration des Patriarchats. Wir holen uns das Recht zurück, über eure Körper zu bestimmen, sagten sie. Über euch zu bestimmen.

Die Rechte von Frauen waren auf einmal nichts mehr wert. Im Gegen­satz etwa zum Recht auf das Tragen von Waffen, welches das oberste Gericht der USA fast zeitgleich ausweitete.

Der Juni 2022 machte sichtbar, was seit längerem im Gange war, während Hundert­tausende Frauen sich brav anstrengten: ein anti­feministischer Backlash. Eine kritische Zahl von Menschen, die ganz und gar nicht in dieselbe Richtung marschierten – sondern in die entgegen­gesetzte.

Davon zeugte im gleichen Sommer­monat noch ein anderes Ereignis: der sehr öffentlich ausgetragene Prozess zwischen Johnny Depp und Amber Heard. Was dieser zutage förderte, war nichts weniger als «die Kumulation der grössten Explosion an Online-Misogynie seit Gamergate», wie ein Kommentator treffend analysierte. Einfacher gesagt: Amber Heard wurde auf dem Scheiter­haufen der veröffentlichten Meinung vor den Augen aller verbrannt.

Und jetzt: Was bedeuten diese Einsichten für den feministischen Fortschritt? Was bedeuten sie für mich persönlich?

Meine Erkenntnis ist eine einfache: Ich war, wie viele von uns, zu nett, zu konziliant, zu wenig radikal. Wir haben zu sehr daran geglaubt, dass der Fortschritt zwar langsam ist, aber unaufhaltbar. Dass es besser wird, wenn nur ein paar Frauen mehr in Verwaltungs­räte einziehen, die Lohn­ungleichheit schwindet, wir Kleinig­keiten verändern. Die Aufhebung von «Roe v. Wade» war auch möglich, weil zu viele Menschen über zu lange Zeit zu freundlich waren. Zu geduldig und anständig waren – obwohl Frauen mit weniger Macht, Geld oder Privilegien stets warnten, dass die Welt längst nicht so rosig war, wie die urbane Mittel­schicht sie sich malte.

Das gilt auch hier in der Schweiz. Ebenfalls in diesem Jahr haben wir mit dem AHV-Renten­alter noch eines der letzten Pfänder im feministischen Kampf aus der Hand gegeben – gegen das vage Versprechen, man werde den Frauen dann schon anderswo entgegen­kommen (ein Versprechen, das in Bezug auf die aktuelle BVG-Revision eigentlich schon wieder gebrochen wurde). Schliesslich sind wir ja auf dem Weg, habt nur Geduld.

Doch was wir brauchen, ist nicht mehr Geduld, sondern weniger.

Das letzte Jahr – überhaupt die letzten Jahre – müssen für die feministische Bewegung ein Weck­ruf sein.

Die gute Nach­richt zum Schluss ist, dass sie das offenbar waren.

Nur gerade ein gutes Viertel aller Frauen im Erwerbs­alter sagten Ja zur AHV-Reform. Dafür gingen am Frauen­streik von 2019 Hundert­tausende auf die Strassen. Mehrere Bücher machten dieses Jahr klar, wie erschöpft und ausgelaugt viele Frauen sind – und dass das keine individuelle, sondern eine politische Frage ist. Ein Buch, das «Wir sind doch alle längst gleich­berechtigt» als «Bullshitsatz» bezeichnet, erklomm die Bestseller­liste. Umfragen tragen an die Ober­fläche, wie schwierig die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gerade in der Schweiz nach wie vor für viele Frauen ist. Und im Iran passiert gerade die grösste feministische Revolution, die sich je in einem islamischen Land ereignet hat.

Die nächsten Jahre dürften lauter und radikaler werden, als es die vergangenen allzu oft waren. Und das ist gut so.

Zur Debatte: Wozu haben Sie 2022 Ihre Meinung geändert?

Haben auch Sie sich in einem Urteil, einer Einschätzung oder in einer Person geirrt? Und wenn ja: Warum haben Sie Ihre Meinung geändert, was hat Sie dazu bewogen? War es ein bestimmtes Ereignis, eine Begegnung oder eine Nachricht, die Sie ins Grübeln brachte? Wie fühlt sich das Eingeständnis, sich geirrt zu haben, heute an? Ist es schmerz­haft, verwirrend oder vielleicht sogar erleichternd? Hier gehts zur Debatte.

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