Vom Wind zerzaust, aber der Baum steht. Fabian Hugo

Die allerbesten Nachrichten

Die Feuerwehr befreit ein Kätzchen aus dem Pepsi-Automaten, oder: Wir googeln uns die Welt schön. Frohes neues Jahr!

Von Simon Schmid, 31.12.2022

Vorgelesen von Egon Fässler
0:00 / 17:06

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Schlechte Laune ist doof. Darum blenden wir am Jahres­wechsel alles Negative aus. Und fokussieren, wie immer an diesem Datum, ganz auf das Positive.

Nur: Was ist 2022 überhaupt Gutes passiert?

Gar nicht so leicht, darauf Antworten zu finden. Krieg, Energie­notstand, Inflation, Flut­katastrophen – das ist die Art von Dingen, die 2022 Schlag­zeilen gemacht haben. Nach einem solchen Jahr eine wasch­echte Good-News-Story zu schreiben, grenzt an eine unmögliche Mission.

Wir probieren es trotzdem. Und halten uns dabei an zwei Leitsätze:

  1. Optimismus ist Ansichts­sache: Es kommt darauf an, wie man Nach­richten inter­pretiert und ins Welt­geschehen einordnet.

  2. Optimismus ist eine Praxis: Es kommt nicht darauf an, wie zahlreich die guten Nach­richten sind – Haupt­sache, man liest sie.

Und so präsentieren wir Ihnen zum Silvester zwar nicht die perfekte Welt. Aber doch den ernst­haften Versuch, den vergangenen zwölf Monaten – und zwar jedem einzelnen von ihnen – einen positiven Gedanken abzugewinnen.

Januar

Die Aufzählung beginnt mit dem fünf­zehnten Buch­staben im griechischen Alphabet: Omikron. Er steht für die Coronavirus-Variante, die Anfang 2022 dominant wird. Sie bringt das Ende der Pandemie, wie wir sie kannten.

Viele Leute stecken sich an, wenige sterben: Das ist ein Deal, auf den sich die Menschen und Sars-CoV-2 nun rasch einigen können – zumindest in den westlichen Ländern, wo schon viele Leute geimpft sind, was wiederum hilft, die Opfer­zahlen niedrig zu halten. (In China liegt der Fall allerdings anders: Dort sind im Zuge der Lockerungen aktuell viele Corona-Tote zu beklagen, weil die Regierung nie auf die effektiveren westlichen Impfstoffe gesetzt hat.)

Geschlossene Restaurants, in letzter Minute abgesagte Familien­feiern, Restriktionen beim Reisen: All das ist in den meisten Ländern passé. Nach zwei sehr schlimmen Covid-Saisons ist das doch äusserst angenehm.

Februar

Russland marschiert in der Ukraine ein. Das ist zugegebener­massen eine Horror­nachricht, die vieles über­schattet, was im letzten Jahr passiert ist.

Immerhin: Die westliche Welt reagiert mit einer Geschlossenheit, die man so nicht erwartet hätte. Wenige Tage nach Beginn der Invasion werden die Reserven der russischen Zentral­bank eingefroren. Viele Firmen ziehen sich aus Russland zurück. Finanz­behörden machen Jagd auf die Vermögens­werte von Kreml-nahen Oligarchen. Sukzessive werden Beschlüsse verschärft, um von Erdöl und von Gas aus russischen Quellen wegzukommen. Und die Ukraine wird mit Waffen beliefert, damit sie sich besser verteidigen kann.

Der ukrainischen Armee gelingt es derweil, den Worst Case abzuwenden: Kiew, die Hauptstadt, hält dem Angriff stand. Gemessen an den Erwartungen, die viele Regierungen inklusive der russischen hatten – sie dachten, die Ukraine würde nach wenigen Tagen kapitulieren –, ist das ein kleines Wunder. Und für Russlands Armee ist es der Anfang einer Serie von Rück­schlägen, wie sich im weiteren Jahresverlauf heraus­stellen wird.

Sicher: Man kann argumentieren, dass der Westen die Ukraine militärisch noch viel stärker hätte unter­stützen sollen, um ein schnelleres Kriegsende herbeizu­führen. Doch zumindest aus russischer Perspektive ist die Bilanz ohnehin offen­sichtlich: Der Überfall auf die Ukraine ist ein einziges Fiasko.

Mit beträchtlichem Abschreckungs­effekt für Länder mit ähnlichen Ideen.

März

Die Gesamtleistung aller weltweiten Solar­panels übersteigt 1 Terawatt: Diese Meldung macht Ende März die Runde. Die Zahl hat per se keine besondere technische oder ökonomische Bedeutung, und je nach Daten­quelle ist auch etwas unklar, wann diese Schwelle genau über­schritten wird. Doch der Trend ist eindeutig: Immer mehr Produktions­anlagen für erneuerbare Energien werden rund um den Globus gebaut, und dies in immer schnellerem Tempo.

Solarenergie boomt

Weltweit installierte Solarpanels

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Quelle: Irena

Der Russland-Ukraine-Krieg beschleunigt den Solar- und Windkraft­boom zusätzlich. Weitere 2,4 Terawatt an Kapazität dürften in den kommenden fünf Jahren hinzu­kommen, schätzt die Inter­nationale Energie­agentur in einem Bericht vom Dezember 2022. Das entspricht ungefähr der heutigen Leistung sämtlicher Kraftwerke in China. Und es liegt fast ein Drittel über den Schätzungen, welche die Energie­agentur im Jahr davor gemacht hatte.

April

Ein Franzose gewinnt 200 Millionen Euro im Lotto und spendet den Gewinn, um eine gemein­nützige Stiftung zu gründen: für den Schutz von Wäldern, für den Erhalt der Biodiversität und für kranke Menschen und deren Familien.

Er habe niemals davon geträumt, Schiffe, Schlösser oder Sport­wagen zu besitzen, gibt der Rentner in seinem Stifterbrief zu Protokoll. Sondern er wolle einfach das Gemein­wohl fördern, «das Lebendige schützen».

Es gibt also auf der Welt nicht nur Finanz­betrüger, die Altruismus vorgaukeln. Nein, es gibt auch Leute, die tatsächlich Altruisten sind.

Davon profitiert jetzt eine Handvoll von Umwelt­organisationen, die bereits Geld aus der Stiftung des anonymen Lotto­gewinners erhalten haben.

Mai

Meine Tochter ist einjährig geworden. Und sie ist kerngesund. Sie geht gerne in die Kita, hat Freude am Essen (ihr erstes Wort: «heiss») und versteckt sich hinter dem Wohnzimmer­vorhang, wenn sie nicht gewickelt werden will.

Ja, natürlich ist das jetzt ein Stilbruch: plötzlich diese Ich-Form. Und warum sollten Sie sich ausgerechnet mit mir über meine Tochter freuen?

Nun, das müssen Sie gar nicht unbedingt. Ich hoffe einfach, dass es für Sie auch etwas gibt, das im vergangenen Jahr ein Grund zur Freude war. Ein persönlicher Erfolg, eine besondere Begegnung, ein spezielles Erlebnis, oder schlicht so etwas wie ein Geburtstag: ein Anlass, den Sie allein deshalb gefeiert haben, weil ein lieber Mensch in Ihrem Umfeld am Leben ist.

99,6 Prozent aller neugeborenen Kinder überstehen in der Schweiz übrigens das erste Lebensjahr – das ist erfreulich. Weltweit sind es 97,3 Prozent – das ist deutlich mehr als vor zwanzig Jahren, damals waren es erst 94,7 Prozent.

Juni

In den Vereinigten Staaten wird Ketanji Brown Jackson als erste schwarze Richterin am Obersten Gerichtshof vereidigt. Dass seit der Gründung dieser Institution 233 Jahre verstreichen mussten, bis es dazu kommt, ist schlimm.

Dass es nun endlich geschieht, ist ein gutes Signal. Aber man darf sich nichts vormachen: Gleich­stellung ist ein Prozess, der lange dauert – und in den meisten Ländern, bei den meisten Themen noch nicht abgeschlossen ist.

Dazu ein paar zufällig heraus­gepickte Statistiken:

  • Bei den Frauen ist der Trend besser. Ihr Anteil hat sich über die letzten Jahrzehnte hinweg deutlich erhöht, auch bei den Richterinnen.

  • Auch in der Schweiz sind die weiblichen Richter in der Minderzahl, gerade an oberen Instanzen. Auch hierzulande haben sie aber aufgeholt.

Wie gesagt: Optimismus ist Ansichts­sache – Sie entscheiden selbst, wie Sie das einordnen wollen. Dieser Text ist bloss ein Angebot, die Dinge nicht ganz so negativ zu sehen. Dafür bleibt die nächsten 365 Tage noch genug Zeit.

Juli

Ein Eichhörnchen schenkt einem anderen eine Blume! Ist das nicht süss?

Geert Weggen/www.geertweggen.com

Dieses Bild ist tatsächlich echt. Geert Weggen, ein niederländisch-schwedischer Fotograf, hat es geschossen. Entdeckt haben wir es über das «Good News Magazin».

Das Bild steht sinnbildlich fürs Jahr 2022: dafür, dass auch hart­näckiges Googeln für gewisse Monate keine guten Nachrichten zutage fördert. Ausser der netten Meldung natürlich, dass im Juli ein Pilot einer sechs­jährigen Passagierin eine Quittung für einen Zahn ausstellt, den sie an Bord verloren hat, damit sie diese bei der Zahnfee gegen ein Geschenk eintauschen kann.

August

Zurück zu ernsthaften Dingen. Der Spät­sommer bringt gute hard news: US-Präsident Joe Biden unter­zeichnet den «Inflation Reduction Act», das bisher ambitionierteste Klimagesetz der USA. Über die kommenden Jahre wird der Staat Hunderte von Milliarden Dollar in die Produktion von erneuerbaren Energien, in elektrische Autos, in saubere Schulbusse und Müllabfuhr­wagen, in eine klima­freundlichere Land­wirtschaft, in den Umwelt­schutz pumpen.

Das soll dazu beitragen, dass die Treibhausgas­emissionen bis Ende des Jahrzehnts gegenüber dem Niveau von 2005 um 40 Prozent fallen. Damit befänden sich die USA laut dem Climate Action Tracker, einem Konsortium von Wissenschaft­lerinnen, ungefähr auf einem 2-Grad-Kurs. Dieses Ziel sei zwar noch immer erst «knapp genügend», und die Klima­politik der USA bleibe insgesamt immer noch «ungenügend». Aber im Vergleich zur «bedenklich ungenügenden» Politik von Donald Trump wäre es trotzdem ein Fortschritt.

September

Festhalten, bitte: Für den September haben wir gleich vier gute Nachrichten.

  • Forscher haben eine neue Impfung gegen Malaria entwickelt. Das Vakzin wirkt gemäss Studie zu 80 Prozent und ist günstig. Vereinbarungen über die Herstellung von 100 Millionen Dosen sind bereits unter Dach und Fach. An Malaria erkranken jedes Jahr über 200 Millionen Menschen. Die Krankheit verursacht Fieber, Schüttelfrost, Kopf- und Muskel­schmerzen und führt in schlimmen Fällen zu Krämpfen, Koma und Tod. Besonders für Menschen in Afrika wäre ein wirksamer Malaria­schutz ein echter Segen.

  • Die ukrainische Armee führt eine Offensive in der Region Charkiw durch. Sie erobert ein Gebiet von 8500 Quadrat­kilometern zurück. Zum Vergleich: Das ist fast so gross wie die französisch­sprachige Schweiz.

  • Im Iran demonstriert die Bevölkerung: gegen die Regierung im Allgemeinen und gegen die Diskriminierung von Frauen im Besonderen. Auslöser ist der durch Polizei­gewalt herbei­geführte Tod einer jungen Frau. Die Proteste halten bis heute an.

Oktober

Pierre Castel, ein französischer Wein­händler und Milliardär, wird von einem Genfer Gericht zu einer Steuer­nachzahlung über 415 Millionen Franken verurteilt. Castel hatte über Jahre hinweg gegenüber dem Fiskus falsche Angaben gemacht und seine Anteile an einem verzweigten Firmen­imperium über Stiftungen in Liechten­stein verschleiert. Das Urteil ist ein Erfolg für die Schweizer Steuer­behörden, die seit 2017 gegen Castel ermittelt hatten.

Wie viel Geld in der Schweiz insgesamt vor dem Fiskus versteckt wird, weiss man nicht genau. In einem Postulat forderte die SP den Bundesrat vor einem Jahr auf, dazu einen Bericht zu erstellen. Die Regierung lehnt dies ab mit der Begründung, dass dank dem automatischen Informations­austausch und der Möglichkeit zur straflosen Selbst­anzeige, die es seit 2010 gibt, bereits viele Fortschritte auf diesem Gebiet gemacht worden seien. Na ja.

November

An den amerikanischen midterms schneiden die Demokratinnen überraschend gut ab. Präsident Joe Bidens Partei verteidigt ihre Mehrheit im Senat und verliert im Repräsentanten­haus weniger Sitze, als im Vorfeld erwartet wurde.

Die Republikanerinnen bleiben dagegen unter den Erwartungen. Besonders die Kandidaten, die Ex-Präsident Donald Trump nahe­stehen, schneiden schlecht ab: Sie gehen in wichtigen swing states als Verlierer vom Platz.

Damit bestätigt sich, worauf Strateginnen der Demokratischen Partei schon länger gewettet haben: Trump ist für die Republikaner zur politischen Hypothek geworden. «Make America Great Again» ist weder landesweit noch in vielen der amerikanischen Bundes­staaten mehrheitsfähig.

Trumpistinnen haben verloren

Wahlergebnis bei den midterms

«Maga»-Republikaner−0,5 0Andere Republikaner0+6,1

Veränderung der Stimmen­anteile zwischen den Wahlen von 2020 und 2022 in umstrittenen Wahl­distrikten. Quelle: «New York Times»

Hat der Rechts­populismus seinen Zenit überschritten?

Für eine Entwarnung ist es sicher zu früh. Immerhin: Auch in Brasilien kommt es im Herbst 2022 zum Umschwung, Jair Bolsonaro wird abgewählt.

Dezember

Mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeres­flächen sollen bis 2030 unter Schutz stehen. Darauf haben sich die Teilnehmer­länder am Weltnatur­gipfel in Montreal geeinigt. Nach der eher enttäuschenden Klima­konferenz von Sharm al-Sheikh bringt damit immerhin ein grosses Zusammen­treffen für den Umwelt­schutz die erhofften Resultate – im Saal bricht Jubel aus, als die Abschluss­erklärung verabschiedet wird. Ein weiterer Beschluss sieht vor, dass der Einsatz von Pestiziden bis 2030 halbiert wird.

Sicher: Vorerst sind das nur Ziele. Wie sie konkret erreicht werden sollen, ist weitgehend offen. Und was die Folgen sind, wenn sie verfehlt werden, auch.

Aber hey, es ist der 31. Dezember. Und an diesem Datum darf man auch einfach mal zuversichtlich sein, dass es am Morgen schon irgendwie gut kommt.

Happy New Year!

In einer früheren Version haben wir in einer Grafik von «Gigawatt­stunden» geschrieben, richtig ist «Gigawatt». Die Stelle ist korrigiert, besten Dank für den Hinweis aus der Verlegerschaft.

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