Gute Nachrichten!
Medien berichten fast nur Schlechtes, und viele Menschen fühlen sich dadurch überwältigt. Wir diskutieren, warum das so ist – und servieren zum Jahresanfang eine Portion Gegengift.
Von Olivia Kühni und Simon Schmid, 01.01.2020
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Das waren einige Neuigkeiten, die das Jahr 2019 gebracht hat. Neuigkeiten, die Sie vermutlich vergessen oder gar nicht erst mitgekriegt haben.
Weil Sie stattdessen Folgendes gesehen oder gelesen haben:
In El Paso, Dayton und weiteren US-Städten gab es Massenschiessereien.
In Hongkong verprügelten Schlägertrupps demonstrierende Zivilisten.
Warum das Schlechte im Zentrum steht
Der Mensch hat eine Vorliebe für Schlimmes, Drastisches, Trauriges.
Zu dieser Einsicht kommen nicht nur die meisten Leute, die beim Fernsehen, für das Radio oder eine Zeitung arbeiten, sondern auch Wissenschaftler.
Marc Trussler und Stuart Soroka, zwei Forscher der amerikanischen Universität Vanderbilt und der kanadischen Universität McGill, liessen vor einigen Jahren Probanden unter einem Vorwand Zeitung lesen. Sie konnten aufzeigen, dass die Mehrheit der Beobachteten negativen Schlagzeilen und Geschichten viel grössere Aufmerksamkeit widmeten als positiven – und zwar auch jene, die von sich das Gegenteil behauptet hatten.
Die Studie ist eine der bekanntesten, doch lange nicht die einzige. Immer wieder stellen Sozialwissenschaftler Ähnliches fest: Bad News ziehen uns magisch an. Sie gehen viel direkter ins Herz als die guten. Sie bleiben hängen.
Warum?
Wie so oft ist die Erklärung vielschichtig: Unsere Präferenz für schlechte Neuigkeiten hat neurologische und soziale Gründe.
Eine potenzielle Gefahr zu übersehen, ist viel gefährlicher, als etwas Angenehmes zu verpassen. Darum ist unser Gehirn darauf gepolt, Böses und Erschreckendes viel schneller und besser zu erkennen als Schönes. Dieser sogenannte «Negativ-Bias» ist gut dokumentiert und wirkt sich auf unterschiedlichste Weise aus: So zeigte etwa Nobelpreisträger Daniel Kahneman, dass wir uns viel stärker ärgern, wenn wir 5 Dollar verlieren, als wir uns darüber freuen, wenn wir 5 Dollar gewinnen. John Gottman und Robert Levenson, zwei Psychotherapeuten, rechneten vor, dass für eine stabile Ehe auf jeden boshaften Kommentar jeweils fünf liebevolle folgen sollten. Menschen erkennen wütende Gesichter schneller als fröhliche, fanden Forscher der University of Essex. Und so weiter.
Schlechte Laune und Wut – allen Gute-Laune-Ratgebern zum Trotz – haben Prestige. Sie gehen oft einher mit Intelligenz, Kreativität und unternehmerischem Talent. Deshalb halten wir kritische Menschen auf den ersten Blick für klüger als positiv gestimmte (jedenfalls bei Männern, aber das ist ein anderes Thema). Sagt man einem Redner vor seinem Vortrag, er treffe auf ein besonders intelligentes Publikum, baut er tendenziell mehr negative Bemerkungen ein. Die Welt mit Sorge zu betrachten, gilt als vernünftig, Optimismus wird schnell als Blauäugigkeit belächelt. Gerade Journalisten sind darauf geschult, ihr Augenmerk auf wunde Punkte zu richten: Missstände, Korruption, Ausbeutung et cetera.
Wer das Glas lieber halb leer als halb voll sieht, bewegt sich deshalb in vielen privaten, aber auch beruflichen Situationen auf der sicheren Seite.
Doch der Fokus aufs Negative hat ein gravierendes Problem: Er verzerrt auf die Dauer unser Bild der Wirklichkeit.
Zu viele Bad News sind gefährlich
Allzu viele und vor allem stetige Schreckensnachrichten können Schaden anrichten. Und zwar individuell sowie politisch:
Der Dauerstrom an aufwühlenden Bildern und Negativnews hinterlässt viele Menschen ausgelaugt und tief verängstigt, warnen Psychiaterinnen. Wir mögen evolutionär robust ausgerichtet sein für regelmässige kleine Schrecken im überschaubaren sozialen Rahmen – ein endloser und pausenloser Nachrichtenticker überfordert jedoch viele Menschen.
Wer denkt, dass alles immer nur schlimmer wird, verliert das Vertrauen in die Gesellschaft und ihre Institutionen – ein idealer Nährboden für Populisten, um die Gesellschaft zu spalten und sich als Heilsbringer zu inszenieren. Pessimismus bezüglich des Zustands der Welt ist ein wichtiger Treiber vieler neu erstarkter rechtsradikaler europäischer Parteien. Das zeigt etwa eine Studie aus den Niederlanden oder eine Analyse zu Wählerinnen der AfD: «Deutschland geht den Bach runter.»
Für Journalistinnen ist es deshalb verantwortungslos, die Welt immer nur schlechtzuschreiben. Es ist auch intellektuell nicht redlich: Die Welt ist ambivalent; manches entwickelt sich gut, anderes schlecht. Es ist ausserdem auch geschäftsschädigend: Weil sie die negative Dauerbeschallung stört, entscheiden sich immer mehr Menschen gegen den Medienkonsum. Jede dritte Person mag über verschiedene Länder hinweg keine News mehr hören.
Aus diesen Gründen liefern wir Ihnen zum Neujahr eine geballte Ladung positiver News. Wir beginnen das Jahr 2020 mit den Entwicklungen, die hoffnungsvoll stimmen – weil sich tatsächlich einiges zum Guten wendet.
1. Weniger Menschen leiden an Aids
Zum Beispiel im Kampf gegen Aids. Zwar nimmt die Gesamtzahl Menschen, die mit dem HI-Virus infiziert sind, nach wie vor zu. Doch erstens stecken sich schon seit längerer Zeit immer weniger Leute an, und zweitens sterben Jahr für Jahr weniger daran. Seit 2006 haben sich die Todesfälle halbiert.
Erfolgreicher Kampf gegen Aids
Schlüsselzahlen zu HIV
Quellen: Our World in Data, Global Health Data Exchange
An Aids sterben damit etwa zehnmal weniger Menschen als an Krebs. Die meisten im südlichen Afrika. Doch auch dort sind die Todesraten seit 2005 um rund 70 Prozent gesunken. Nachdem sie zwischenzeitlich gefallen ist, steigt die Lebenserwartung in diesen Ländern seit einigen Jahren wieder.
Das liegt zum einen daran, dass die Aufklärung in Bezug auf die Krankheit viel weiter verbreitet ist, und zum anderen an der Verfügbarkeit von antiretroviralen Therapien. Zwei Drittel aller Infizierten erhalten inzwischen eine Behandlung. Zwar ist die Epidemie noch nicht besiegt, aber Umfang und Folgen werden in den meisten Ländern der Welt viel besser eingedämmt.
2. Die extreme Armut geht zurück
Positive Entwicklungen sind leicht zu übersehen, weil sie sich – anders als etwa Katastrophen – nicht plötzlich abspielen, sondern über Jahrzehnte hinweg.
Ein Beispiel ist die Armut. Laut Zahlen der Weltbank ist die Zahl der Menschen, die inflationsbereinigt mit 2 Dollar oder weniger auskommen müssen, über die vergangenen rund zwanzig Jahre stetig gesunken. Gemäss dieser Definition leben noch rund 730 Millionen Menschen in «extremer Armut». Das sind weniger als 10 Prozent der Weltbevölkerung.
Asien ist aus der Armut gewachsen
Anzahl der Menschen, die in absoluter Armut leben
Quellen: Weltbank, Our World in Data
Bemerkenswert an diesem Trend ist: Die meisten Leute kennen ihn nicht. Ja, sie sind sogar vom Gegenteil überzeugt, wie der Datenblog «Our World in Data», von dem einige der Grafiken in diesem Beitrag stammen, aufzeigt. So glauben etwa die Hälfte der Brasilianer, 60 Prozent aller Italiener oder zwei Drittel aller Franzosen, die extreme Armut sei weltweit im Vormarsch. Dabei ging sie insbesondere in Asien (allerdings weniger in Afrika) stark zurück.
Die irrige Annahme korreliert mit der pessimistischen Erwartung, dass es der Welt künftig schlechter gehen wird. Der Blick auf die Zukunft scheint also getrübt durch die negative Gegenwartsdiagnose – womöglich zu Unrecht.
3. Weniger Kleinkinder sterben
Good News wörtlich als solche zu bezeichnen, ist heikel. Fast jedes Thema lässt sich auch unter einem anderen, kritischeren Blickwinkel betrachten.
Ein Beispiel, an dem die Autoren von «Our World in Data» dies aufzeigen, ist die Kindersterblichkeit. Aktuell sterben weltweit 5,4 Millionen Kinder pro Jahr: Wer diese Zahl liest, findet sie mit ziemlicher Sicherheit «schrecklich».
Zwei andere Aussagen seien jedoch ebenso valide. Erstens: Die Welt ist «viel besser als früher» geworden. Noch vor einem Vierteljahrhundert war die Kindersterblichkeit mehr als doppelt so hoch wie heute, wie eine Grafik zeigt.
Die Kindersterblichkeit sinkt
Anzahl Todesfälle von Kindern unter 5 Jahren
Quellen: Weltbank, Our World in Data
Andererseits könnte die Welt auch «viel besser als heute» sein. Wäre nämlich die Kindersterblichkeit überall so gering wie in der Europäischen Union, so würden weltweit nur 500’000 Kinder das fünfte Lebensjahr nicht erreichen. Also zehnmal weniger als die gut 5 Millionen, die dies heute nicht schaffen.
4. Mehr Frauen sind in der Politik
Halb leer oder halb voll? Diese Frage stellt sich oft auch bei einem anderen, viel diskutierten Thema: der Geschlechtergleichheit. Man findet leicht eine Vielzahl von Statistiken, die zeigen, dass Frauen immer noch schlechter entlöhnt werden als Männer oder weniger in Machtpositionen vertreten sind.
Auch an negativen News-Schlagzeilen zu diesem Thema mangelt es nicht. Und trotzdem lohnt es sich, zwischendurch auch auf die längerfristigen Zahlen zu blicken. Hier eine Datenreihe vom European Institute for Gender Equality zur Frauenvertretung in den Parlamenten und Regierungen der EU-Länder.
Politik wird weiblicher
Frauenanteil in den EU-Ländern
Quelle: EIGE
Trotz einigen Rückschlägen zeigt der Trend aufwärts: Fast ein Drittel aller Parlaments- und Regierungsmitglieder sind inzwischen weiblich. Ein Fortschritt: Vor 15 Jahren lagen die beiden Anteile noch unter einem Viertel.
Auch die Schweiz hat seit den Wahlen vom Oktober übrigens mit 42 Prozent einen so hohen Frauenanteil im Parlament wie noch nie. Good News!
5. Immer mehr Solarzellen werden installiert
Während die Verhandlungen an Klimakonferenzen stocken, nimmt die Energiewende ihren Lauf. Gemäss einer Hochrechnung der Agentur für Erneuerbare Energien werden Ende 2019 weltweit Solarpanels mit einer Leistung von 594 Gigawatt installiert sein. Bestätigen sich die Zahlen, wäre dies eine Rekordzunahme von über 100 Gigawatt gegenüber dem Vorjahr.
Die globalen Solarstatistiken sind eindrücklich. Denn sie zeigen, wie schwer wir uns zuweilen tun, positive Nachrichten zu verarbeiten. Und zwar selbst als Profis: So sahen sich die Analysten der Internationalen Energieagentur über Jahre hinweg gezwungen, die Prognosen in ihrem wichtigsten Bericht, dem World Energy Report, nach oben zu schrauben. Denn ihre Schätzungen zum Ausbau der Solarenergie wurden von der Realität laufend übertroffen.
Höher als erwartet
Jährlicher Zubau von Fotovoltaikmodulen
Quellen: BP (historische Zahlen), IEA (Pr. = Prognosen der Energieagentur aus diversen Jahresberichten). Idee zur Grafik: Auke Hoekstra
Die Solarkraft übertrifft somit selbst die Hoffnungen, die sich die IEA vor einigen Jahren in ihrem klimafreundlichsten Szenario gemacht hat.
Und, und, und …
Viele Medien beschreiben die Welt grau und kompliziert. Auch wir bei der Republik betreiben kritischen Journalismus. Schlechte Nachrichten sind dabei unvermeidliches Nebenprodukt, egal wie differenziert man es angeht.
Deshalb werden wir hier auch nicht regelmässig und explizit «Good News» zusammenstellen. Das überlassen wir lieber den Kollegen bei Krautreporter, die dies jeden Monat tun, oder diversen anderen, spezialisierten Websites (deren «gute News» sich zuweilen auch als überoptimistisch herausstellen).
Falls Sie trotzdem Lust auf mehr haben: Hier eine Auswahl von 20 guten Nachrichten, die 2019 über den Äther liefen. Mögen Sie sich den guten Mut im Jahr 2020 bewahren – denn auch das ist überlebensnotwendig.
In Istanbul wurde ein Bürgermeister der Oppositionspartei gewählt, trotz einer angeordneten Wahlwiederholung, die international kritisiert wurde.
Auf den Galapagosinseln wurde ein Exemplar einer Schildkrötenart gesichtet, die man seit über 100 Jahren für ausgestorben hielt.
In Kalifornien wurden bereits Solarpanels auf einer Million Hausdächern installiert – ein Meilenstein für die dortige Energiepolitik.
In Skandinavien hat sich die Selbstmordrate bei Homosexuellen seit Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe um fast die Hälfte verringert.
Auf den Philippinen gibt es ein neues Krankenversicherungsprogramm, zu dem sämtliche Bürgerinnen und Bürger Zugang haben sollen.
In Indien dürfen muslimische Männer ihre Frauen nicht mehr durch dreimaliges Aussprechen des Wortes «talaq» wegjagen.
Grossbritannien ist fast vollständig aus der Stromproduktion mit Kohle ausgestiegen, erneuerbare Energien decken einen Drittel des Bedarfs.
In der EU wird das Pestizid Chlorpyrifos verboten, das bei Zitrusfrüchten verwendet wird und Gesundheitsschäden bei Babys bewirken kann.
1,4 Millionen Menschen sterben jährlich an Tuberkulose. Gegen bisher resistente Bakterien wurde jetzt ein neues Medikament zugelassen.
In Nepal verfügen 95 Prozent der Haushalte über einen Stromanschluss. 2010 waren es erst 65 Prozent.
Die Europäische Investitionsbank hat beschlossen, ab 2021 keine neuen Kohle-, Öl- und Gasprojekte mehr zu finanzieren.
In den USA wurde ein umfangreiches Gesetzespaket verabschiedet, das über 5000 Quadratkilometer Land unter Naturschutz stellt.
In Neuseeland sollen nach einem Massaker alle Sturmgewehre und halbautomatischen Waffen aus dem Verkehr gezogen werden.
Der Bestand der Buckelwale, einer im 20. Jahrhundert beinahe ausgerotteten Spezies, hat sich im Südatlantik nachhaltig erholt.
Die Zahl der vollzogenen Todesstrafen fiel auf den tiefsten Stand seit einem Jahrzehnt (allerdings sind die Zahlen aus China unbekannt).
In Indien gibt es 3000 Tiger, einen Drittel mehr als vor vier Jahren, und in China wurde ein grosser Nationalpark für Pandabären eingeweiht.
Die neue EU-Kommission hat den Klimaschutz zur Priorität erklärt und will mit einem «Green Deal» bis 2050 die Emissionen auf null senken.
Indien rüstet Dörfer mit Sanitäranlagen aus. Vor 5 Jahren benutzten noch 550 Millionen Menschen keine Toilette, heute sind es noch 50 Millionen.
Noch nie haben Frauen so viele hohe Führungspositionen in der Schweizer Wirtschaft übernommen wie in den vergangenen 18 Monaten.
Haben wir eine gute Nachricht übersehen? Oder eine Schlagzeile zu Unrecht als Good News apostrophiert? Melden Sie Ihre Beobachtungen im Kommentarforum.