Binswanger

Schiffbruch ahoi!

Der Nationalrat winkt die Tonnagesteuer durch, um Schifffahrts­unternehmen zu entlasten. Was in drei Teufels Namen ist mit unseren bürgerlichen Parteien los?

Von Daniel Binswanger, 17.12.2022

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Ein dramatisches und doch auch hoffnungs­volles Jahr kommt an ein Ende. Die Welt­politik erlebt die fürchterlichsten Verwerfungen, aber es zeigen sich Widerstands­kräfte. Die Ukraine ist mit einem entsetzlichen Krieg überzogen worden, aber sie vermag Russland zu widerstehen. Die amerikanischen Republikaner erobern das Repräsentanten­haus, aber der Sieg ist hauchdünn. Trump ist wieder Präsidentschafts­kandidat, aber er hat seine Unantastbarkeit verloren.

Der vermeintlich dekadente Westen hat sich zusammen­gerauft. Der Demokratie ist ganz so einfach nicht der Garaus zu machen: Sie wird verteidigt. Man mag dieses Versprechen bescheiden finden. Es erscheint gerade macht­voller denn je.

Und die Schweiz? Hier verlief das politische Jahr auf wundersame Weise antizyklisch. Zunächst natürlich, weil die Verhältnisse im Vergleich zu anderswo enorm privilegiert und geradezu paradiesisch sind. Dann aber auch, weil es mit dem Zusammen­raufen bei uns so gar nicht klappen will. Im Gegenteil: Die politischen Konfrontationen haben sich verschärft. Ist es das Vorspiel zum Wahljahr 2023? Es wäre keine schöne Perspektive.

Die politische Entwicklung wird momentan von zwei wider­sprüchlichen Veränderungen geprägt: Die bürgerlichen Parteien sind die grossen Gewinnerinnen der neuen Bundesrats­zusammen­setzung. Sie haben keine Rücksichten genommen, sich zwei wichtige Departemente geholt. Sie treten auf mit einem für helvetische Verhältnisse eher ungewöhnlichen Macht­anspruch.

Andererseits sind die bürgerlichen Parteien die grossen Verliererinnen des Abstimmungs­jahres. Sie unterlagen bei den beiden zentralen Steuer­vorlagen – der Stempelsteuer- und der Verrechnungs­steuer­reform –, und sie gewannen die AHV-Reform nur haarscharf.

Nun kommt zum Ende des politischen Jahres das alles toppende Schluss­bukett: Der Nationalrat hat diese Woche die Einführung einer Tonnage­steuer für die maritime Schiff­fahrt beschlossen.

Schifffahrtsgesellschaften mit Sitz in der Schweiz sollen künftig nicht mehr nach ihren realen Gewinnen, sondern – wenn von ihnen gewünscht – nur noch nach ihren Transport­kapazitäten für Güter oder auch für Personen (der sogenannten Tonnage) besteuert werden. Nachdem die bürgerlichen Parteien bei der Stempel- und der Verrechnungs­steuer – mit zwei letztlich nur für Spezial­interessen interessanten Steuer­vorlagen – spektakulär Schiff­bruch erlitten haben, befürworten sie ein noch viel extremeres, auf eine sehr reduzierte Klientel zugeschnittenes Steuer­gesetz. Wie können sie auch nur eine Sekunde glauben, dass sie ein Referendum gegen das Tonnagesteuer­gesetz gewinnen werden, nachdem sie das Referendum gegen die Verrechnungs­steuer­reform verloren haben?

«Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten»: Dieser hübsche Satz wird Albert Einstein zugeschrieben, obwohl er ihn vermutlich nie geäussert hat. Verstiegen und leicht grössen­wahnsinnig wirken im Moment die bürgerlichen Parteien. Sicher: Sie haben eine unanfechtbare Mehrheit im Parlament. Dennoch müssten sie, um erfolgreich zu sein, tragfähige Kompromisse eingehen können, sowohl bei der Ausgestaltung der Steuer­politik als auch bei der Komposition der Landes­regierung.

Wie batshit crazy ist momentan der Schweizer Bürger­block? Das ist die Frage, die wir wohl oder übel ins Wahljahr mitnehmen.

Wie absurd die politische Wette ist, welche die Vertreter von FDP, SVP und Mitte nun eingegangen sind, zeigt sich nur schon daran, dass die Tonnage­steuer von der GLP nicht unterstützt wird. Die Grünliberalen schlagen sich – mal eleganter und mal eher unbeholfen – mit den Wider­sprüchen einer Mittepartei herum: Sie wollen sich nicht nur progressiven Stadt­bewohnerinnen, sondern auch finanzstarken Wirtschafts­verbänden andienen. Für die Verrechnungs­steuer­reform hat sich die GLP deshalb vorbehaltslos ins Zeug gelegt, die Vorlage in der Arena vertreten, ihre Vertreterinnen quasi zum Gesicht der Kampagne gemacht. Dennoch wurde die Verrechnungs­steuer­reform hochkant verworfen. Und nun soll eine noch viel radikalere Vorlage durchkommen gegen den Willen der GLP? Es ergibt nicht den geringsten Sinn.

Auch wenn man die inhaltlichen Dispositionen der Vorlage genauer anschaut, wird nicht unbedingt verständlich, weshalb unsere Alpen­republik nun allen Ernstes eine Tonnage­steuer braucht. Lassen wir einmal beiseite, dass sie auch Kreuzfahrtschiffe beträfe und eine aktive steuerliche Förderung von massivster Umwelt­verschmutzung darstellen würde. Weshalb soll man überhaupt einen bestimmten Wirtschafts­zweig nicht nach seinen realen Gewinnen, sondern nach einem beliebig erscheinenden Kriterium wie den theoretischen Transport­kapazitäten besteuern? Die offensichtliche Antwort ist: um die Steuern – auf welchem Weg auch immer – künstlich gegen null zu rechnen.

Der internationale Seehandel ist per definitionem orts­ungebunden, und Schifffahrts­gesellschaften können mit grösster Leichtigkeit ihren Steuersitz verlegen. Nirgendwo – wenn wir von GAFA, den super optimierenden Big-Tech-Konzernen, einmal absehen – ist die Standort­konkurrenz so brutal, das Steuer­dumping so massiv wie in der Seefahrt. Deshalb hat inzwischen eine Vielzahl von Ländern die Tonnage­steuer eingeführt. Das Ergebnis ist, dass Schifffahrts­gesellschaften in Boom­phasen, wenn ihre Gewinne hoch sind, fast gar nichts mehr bezahlen.

Das Wirtschaftsmagazin «Quartz» hat diesen Sommer eine Berechnung veröffentlicht, wie viel Gewinn­steuern die grössten europäischen Schifffahrts­gesellschaften dieses Jahr zu entrichten haben. Ergebnis: unter 2 Prozent. Nicht umsonst ist Griechenland die Erfinderin der Tonnage­steuer, ein Land mit einer grossen Seehandels­tradition, welt­umspannenden Gross­reedereien – und einem notorisch korrupten Steuer­system, über das man sich während der Eurokrise in der soliden Schweiz noch zu empören vorgegeben hat. Heute ist Griechenland offenbar unser Vorbild.

Besonderen Handlungsbedarf will die Landes­regierung jetzt erkennen, weil die anstehende OECD-Gewinnsteuer­harmonisierung die Steuern für Konzerne auch hierzulande erhöhen wird.

Bis anhin konnte die Schweiz auch ohne Tonnage­steuer im Wettbewerb um Schifffahrts­gesellschaften gut bestehen. Zunächst mit ihren Spezial­tarifen für sogenannte Status­gesellschaften und dann mit den generell sehr tiefen Unternehmens­steuern blieb die Schweiz verblüffender­weise konkurrenz­fähig – auch ohne Seefahrts-Sondertarif. Nun jedoch wird die OECD-Mindest­steuer eingeführt und treibt die Steuersätze in die Höhe – ausser bei der Tonnage­steuer, die von der OECD-Mindeststeuer­regelung explizit ausgenommen worden ist. Die Tonnage ist eine der verbliebenen Lizenzen zum aggressiven Steuer­dumping. Also will die Schweiz an Bord.

Man muss ehrlicherweise auch sagen, dass es für die Tonnage­steuer ein scheinbares Argument gibt, wenn auch nur eines: Fast alle anderen machen es auch. In nicht weniger als 21 EU-Staaten sowie in den USA, Südkorea und Japan wird die Tonnage­steuer praktiziert. Allerdings gibt es zwischen diesen Staaten und der Schweiz einen kleinen geografischen Unterschied: Es handelt sich um maritime Nationen. Sie haben Häfen, Werften, Reedereien – eine Seefahrts­industrie mit Gewicht. Als etwa Deutschland 1999 zur Tonnage­steuer überging, sollte Hamburg geschützt und der immer schnelleren Ausflaggung von deutschen Handels­schiffen ein Ende gesetzt werden.

Auch in der Schweiz haben inzwischen grosse Schifffahrts­gesellschaften ihren Sitz, mit MSC sogar die weltgrösste. Aber hierzulande ist maritime Schifffahrt keine existierende Realität, sondern ein fiskalisches Konstrukt. Kein einziges EU-Binnenland praktiziert die Tonnage­steuer. Auf eine derartige Unverfrorenheit können nur die Eidgenossen kommen.

Und so ist die Botschaft zum Bundes­gesetz über die Tonnage­steuer eine äusserst schrille, schon beinah erheiternde Lektüre: Standort­politik am Limit der Enthemmung.

Es beginnt mit der Mitteilung, dass die Tonnage­steuer gemäss einem offiziellen, vom Finanz­departement in Auftrag gegebenen Rechts­gutachten aus dem Jahr 2015 gar nicht verfassungs­konform sei – unter anderem, weil sie mit dem Grundsatz der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungs­fähigkeit beim besten Willen nicht vereinbart werden könne. Wie löste man dieses etwas peinliche Initial­problem? Man bestellte ein neues Gutachten, diesmal bei einem «sorgfältiger» ausgewählten Experten. Der lieferte dann prompt die gewünschte Einschätzung.

Gefühlt in jedem zweiten Satz steht in der Steuer­botschaft, dass es nur um «gleich lange Spiesse» gehe, dass man bloss «keine höheren Hürden» anstrebe als im EU-Raum, dass man die Ermittlung der Bemessungs­grundlage «anhand der EU-Mediane» festlegen wolle. Aber natürlich weiss jedes Kleinkind: Das ist nicht, wie fiskalische Standort­konkurrenz funktioniert. Es geht nicht darum, einfach gleich­zuziehen. Es geht darum, zu unterbieten. Und wir müssen zugeben: Ueli Maurers Experten haben Kreativität gezeigt.

Neue Standards der Flexibilität will die Eidgenossenschaft nun bei der Kündbarkeit des Tonnagesteuer-Regimes einführen. In den EU-Staaten ist sie in der Regel optional. Wenn sich eine Gesellschaft aber dazu entscheidet, auf diese Weise veranlagt zu werden, wird sie für volle zehn Jahre der Tonnage­steuer unterstellt und kann für diese Zeit ihren Steuer­status nicht mehr modifizieren.

Weshalb? Die Tonnagesteuer ist enorm vorteilhaft in Aufschwung­phasen, wenn die Gewinne sprudeln, die Steuerlast aber konstant und davon unabhängig bleibt. In Rezessionen – und das ist ein minimaler Ausgleich – kann ein Unternehmen mit Tonnage­steuer jedoch auch schlechter fahren als ein konventionell besteuerter Betrieb. Selbst wenn das Geschäfts­ergebnis negativ wird und statt Gewinnen Verluste gemacht werden, bleibt die Tonnage­steuer fällig. Durch die zehnjährige Bindung soll deshalb verhindert werden, dass Schifffahrts­gesellschaften im Aufschwung für die Tonnage­steuer optieren und im Abschwung zur konventionellen Gewinn­steuer zurückwechseln.

Auch die Schweiz schreibt deshalb eine zehnjährige Bindung vor – nur dass «Bindung» hierzulande nicht gleich Bindung ist. Auch während dieser Periode soll in der Schweiz die Tonnage­besteuerung für Firmen nämlich jederzeit aussetzbar sein, mit der einzigen Bedingung, dass eine Firma, die das Steuer­regime vor Ablauf der Zehnjahresfrist wechselt, in der Folge für fünf Jahre keine Tonnage­steuer mehr beantragen darf.

Wenn sich also ein Einbruch abzeichnet, sollen in der Schweiz domizilierte Firmen die Tonnage­steuer sofort künden können. Die weltwirtschaftlichen Konjunktur­zyklen, die für den Seehandel entscheidend sind, dauern gut und gerne etwa vier bis fünf Jahre. Das wäre nach dem Willen des Gesetz­gebers dann genau die Zeit, für die Handels­firmen auf sehr spärlichen oder inexistenten Gewinnen die «volle» Gewinn­steuer zahlen müssten. Und wenn der Aufschwung wieder da wäre, könnten sie zurück zum Tonnage­regime.

Die Schweiz will die Tore öffnen zu verlockenden Optimierungs­möglichkeiten, wie sie in den EU-Ländern bisher gar nicht existieren. So viel zum Begriff der «gleich langen Spiesse».

Allerdings, Sie ahnen es schon: Es wird alles noch viel absurder. Denn obwohl es bei der Tonnage­steuer eigentlich nur um Schifffahrt, um den Transport von Gütern und Passagieren geht, richtet sich diese Gesetzes­vorlage gar nicht primär an die Schifffahrts­gesellschaften. Sie richtet sich an den Rohstoff­handel. Die Schifffahrts­gesellschaften sind letztlich relativ irrelevant. Aber der Rohstoff­handel hat derart gigantische Dimensionen in unserem Land, dass er echte volkswirtschaftliche Bedeutung hat. Gemäss der Tonnagesteuer-Botschaft umfasste er 2017 3,8 Prozent des Brutto­inlands­produkts. Deshalb macht das Finanz­departement auch gar kein Geheimnis daraus, wer hier der eigentliche Adressat ist.

Es wird vielmehr unterstrichen, dass Rohstoffhandel und maritimer Gütertransport ja eng miteinander verbunden seien, einen Cluster bildeten und dass die Tonnage­steuer die Handels­gesellschaften dazu animieren soll, in die Schifffahrt zu investieren. In der Botschaft zu einem Gesetzes­text der Schweizer Regierung findet sich allen Ernstes der Satz: «Indirekt können Rohstoff­handelsfirmen trotzdem von der Tonnage­steuer profitieren, wenn vermehrt in den maritimen Transport von Rohwaren investiert wird.» Das erscheint wie eine kaum verschleierte Aufforderung zum profit shifting, zum künstlichen Umlagern von Gewinnen aus Gründen der Steuer­vermeidung.

Schliesslich werden verstärkte Investitionen in den maritimen Transport für absolut alle Investoren attraktiver, wenn die Steuerlast von Schifffahrts­gesellschaften sinkt und deshalb die Gewinne steigen. Die Empfehlung zum Investieren in den maritimen Transport könnte man deshalb auch Banken, Industrie­betrieben oder Klein­sparern geben. Warum also soll sie in besonderem Mass für Rohstoff­händler gelten?

Die wirklich zugkräftige Antwort dürfte äusserst simpel sein: Weil sie dann ihre Handels­produkte mit ihren eigenen Schiffen transportieren und die Handels­gewinne teilweise als Transport­gewinn abbuchen können. Immerhin betont die Tonnage­steuer-Botschaft, dass bei «Abgrenzungs­fragen» die Beweislast bei den Handels­firmen liegt.

Die EU-Kommission unternimmt permanente Anstrengungen, Gewinn­vermischungen, die eine klassische Form des sogenannten profit shifting darstellen, zu verhindern. Und die Schweizer Regierung? Befleissigt sich einer hochgradig ambivalenten Kommunikation. Sie sagt ganz ungeschminkt: Wir wollen unbedingt eine Senkung der Besteuerung der Schifffahrts­gewinne. Nicht primär für die Schifffahrts­gesellschaften, sondern für den Cluster des Rohstoff­handels. Der Nationalrat winkt das durch.

Wie batshit crazy ist der heutige Bürger­block? Die Frage stellt sich grade ziemlich insistent. Es wäre im Interesse aller Beteiligter, wenn wir auch hier durch eine positive Wendung überrascht werden könnten.

Illustration: Alex Solman

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