Prozess ohne Klägerin
Eine Lehrerin bringt ihre ehemalige Arbeitgeberin vor Gericht. Ihr sei missbräuchlich gekündigt worden. Doch dann erscheint sie nicht zur Verhandlung.
Von Daria Wild, 14.12.2022
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Fast alle unsere Arbeits-, Nachbars-, Geschäfts-, Erbschafts- und Wohnverhältnisse sind durch das Recht bestimmt und vor Gericht verhandelbar. An Zivilgerichten lässt sich deshalb gut beobachten, wie alltagsrelevant Recht gesprochen wird. Doch solche Verhandlungen werden selten besucht, weder von interessierten Bürgern noch von Journalistinnen – obwohl sie genauso öffentlich sind wie die strafrechtlichen. In beiden Rechtsgebieten gibt es Ausnahmen zum Öffentlichkeitsprinzip. Im Zivilrecht unter anderem dann, wenn es im Gerichtssaal zu Vergleichsgesprächen kommt (wobei einzelne Richterinnen auch hier die Öffentlichkeit zulassen).
Doch das Öffentlichkeitsprinzip ist an vielen Gerichten keine gelebte Selbstverständlichkeit. Verhandlungstermine, die Sachverhalte, die Prozesse selbst, die Urteilsverkündung sowie die Urteile müssten eigentlich für alle Interessierten zugänglich sein. Einige Kantone, darunter Basel-Stadt, Zug oder Schwyz, publizieren jedoch keine Verhandlungstermine für ihre zivilrechtlichen Verfahren. Die Öffentlichkeit erfährt nicht, wann zu welchem Thema verhandelt wird – die Republik im vorliegenden Fall auf Nachfrage. Und ist ein erstinstanzliches Urteil gefällt, so werden nur die Parteien informiert. Dies, obwohl die Bundesverfassung die Urteilsöffentlichkeit ausdrücklich erwähnt; wie übrigens auch die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung.
Ort: Zivilgericht Basel-Stadt
Zeit: 14. November 2022, 14 Uhr
Fall-Nr.: GS.2022.24
Thema: missbräuchliche Kündigung, vereinfachtes Verfahren
Die Klägerin, sozusagen der Grund dieses Prozesstermins, erscheint nicht.
Eine Viertelstunde ist bereits verstrichen, die Richter haben hinter verschlossener Tür gewartet, nun öffnet sie sich endlich.
Die Beklagte und ihr Anwalt betreten den Raum am basel-städtischen Zivilgericht und lassen sich an einem Tisch aus dunklem Holz nieder; vor ihnen, auf der hohen Richterbank, das Fünferkollegium um Gerichtspräsident Georg Schürmann. Es ist ein altehrwürdiger Saal, der Blick von den Zuschauerplätzen, die an Kirchenbänke erinnern, fällt durchs Fenster auf die Doppeltürme des Münsters und an den Richtern vorbei auf ein Panoramagemälde des Basler Malers Alfred Heinrich Pellegrini, datiert auf 1929.
Zwei bärtige Männer, ein gefällter Baum.
Das Licht im Saal ist sanft, die Akustik schwierig.
An diesem Montagnachmittag geht es um Arbeitsrecht, wie immer an Montagnachmittagen. Das basel-städtische Zivilgericht verhandelt innerhalb fixer Gefässe, die eine «Geschäftsverteilung» auf der Website so beschreibt: Mietrecht am Montagmorgen, Arbeitsrecht am Montagnachmittag und so weiter.
Doch die geplante Anfangszeit, 14 Uhr, ist überschritten, und eine Partei fehlt unentschuldigt.
Kann trotzdem prozessiert werden, ohne eine Klägerin?
Im Zivilrecht sind die Kläger diejenigen, von denen ein Prozess überhaupt angestrengt wird, weil sie eben ein Arbeits-, Miet- oder ein anderes Geschäftsverhältnis verhandeln wollen. Richter Schürmann betont zum Verhandlungsbeginn, es sei überraschend, dass die klagende Frau nicht erschienen sei.
Das Gericht musste deshalb beraten, ob die Verhandlung durchgeführt werden soll, ob – juristisch ausgedrückt – auf die Klage eingetreten werden kann. Trotz unentschuldigter Abwesenheit der Klägerin, die sich auch nicht durch einen Anwalt vertreten lässt.
Unechte Arbeit auf Abruf
Dem Gericht wird damit die Möglichkeit genommen, eine vollständige und vor allem eine mündlich vorgetragene Klagebegründung zu hören – und Ergänzungsfragen zu stellen.
Aus der Sicht der Öffentlichkeit beziehungsweise der Medienvertreter, die diese Öffentlichkeit herstellen («Brückenfunktion» nennt es das Bundesgericht), bedeutet die Abwesenheit der Klägerin auch, dass sie während der Verhandlung weniger Einblick in den Fall erhalten. Denn: Journalistinnen bekommen keinerlei Unterlagen, bevor sie sich an einen Zivilprozess begeben.
Bei diesem Fall ohne Klägerin lässt der Gerichtspräsident immerhin David Grimm, den Rechtsanwalt der beklagten Arbeitgeberin, Anträge stellen und hakt nach, wo etwas unklar ist. Aus diesen Verhandlungsminuten erschliesst sich der Sachverhalt Stück für Stück: Eine internationale Schule in Basel, die durch die HR-Verantwortliche vor Gericht vertreten ist, kündigte einer im Stundenlohn angestellten Lehrerin. Diese befand die Kündigung für missbräuchlich und verlangte eine Entschädigung von mehr als fünf Monatslöhnen.
Laut Beklagtenanwalt kam sie auf einen Betrag von 50’000 Franken, warum, bleibt unklar.
Die Verhandlung wird allerdings im «vereinfachten Verfahren» geführt, was bei einem Streitwert von unter 30’000 Franken möglich ist. Die Höhe der von der Lehrerin geforderten Entschädigung wäre deshalb mit Sicherheit Thema in der Verhandlung gewesen, doch nun bleibt Gerichtspräsident Schürmann nichts anderes übrig, als sich die eine Seite anzuhören. Jene der Schule und damit der beklagten Arbeitgeberin.
Wie Beklagtenanwalt Grimm ausführt, war das Arbeitsverhältnis zwischen Lehrerin und Schule in einem Rahmenvertrag geregelt. Rahmenverträge sind Verträge, die kein fixes Arbeitspensum festlegen, sondern in denen Arbeitnehmer und Arbeitgeberin einen minimalen und einen maximalen Beschäftigungsgrad vereinbaren – sowie eine maximal erlaubte Abweichung davon.
Laut Grimm handelte es sich beim Arbeitsverhältnis um eine sogenannte «unechte Arbeit auf Abruf», das heisst: Die Arbeitnehmerin hat das Recht, «abgerufene» Arbeitseinsätze abzulehnen. Die Arbeitgeberin wiederum muss nur die effektiv geleistete Arbeit entschädigen.
Kündigt die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer, ist sie verpflichtet, diesem während der ordentlichen Kündigungszeit weiterhin die vereinbarte Anzahl Stunden zuzuweisen. Es ist ein tückisches Arbeitsverhältnis, weil die Arbeitnehmerin, anders als bei der echten Arbeit auf Abruf, zwar entscheiden darf, ob sie die Arbeit machen will oder nicht. Sie ist gleichzeitig aber auch grösseren Unsicherheiten ausgesetzt.
Die klagende Lehrerin hatte ein stark schwankendes Arbeitspensum: Laut dem Beklagtenanwalt verdiente sie im August 2021 über 2300 Franken, im September etwas unter 2000 Franken, im Oktober nur knapp über 60 Franken, im November etwas mehr als 1100 Franken und im Dezember 2268 Franken. Diese starken Schwankungen zeigten, sagt Grimm, dass das «Arbeitsmodell seit Jahren so gelebt wurde». Es biete keine Garantie für Mindestpensen. Das sei der Klägerin bewusst gewesen.
Der Anwalt zeichnet das Bild einer sich in Widersprüchen verheddernden Lehrkraft – die den Konflikt nicht gescheut habe: Sie habe sich seit Monaten beschwert und mehr Unterrichtsstunden verlangt, sich aber gleichzeitig über die Arbeitszeiten beklagt. Zwei Stunden, fünfzehn Minuten ohne Pause zu unterrichten, sei ihr zu lang gewesen.
Grimm zitiert eine Mail vom April 2021, in der die Klägerin darum bittet, Arbeitsstunden abgeben zu können: «Der Lehrerin war die Arbeit also zu viel.» Im Juni desselben Jahres habe sich die Klägerin hingegen darüber beschwert, dass die Schule ihr keine Unterrichtsstunden zuteile. Sicherheit sei ihr wichtiger als Flexibilität, sie wolle 15 bis 20 Stunden pro Monat mehr, sonst leite sie rechtliche Schritte ein, wird die Abwesende zitiert.
Anwalt Grimm spricht von «ungerechtfertigten andauernden Drohungen», von einem «wiederkehrenden Konfliktpotenzial».
Die Schule, sagt Grimm, habe sich gezwungen gesehen, das Arbeitsverhältnis zu beenden. Die Kündigung sei sachlich begründet worden und komme vermutlich beiden zugute, schliesslich sei das Arbeitsverhältnis schon immer «enorm angespannt» gewesen. Dazu komme, dass sich die Lehrerin mit ihrer Klage zu bereichern versuche; die Forderung nach fünf Monatslöhnen Entschädigung bei eineinhalb Jahren Anstellung sei unverhältnismässig.
Wie oft bei Verdacht auf missbräuchliche Kündigung klagte auch die Arbeitslosenkasse der Unia – gegen die Schule. Diese Klage sei ebenfalls abzuweisen, schliesst der Anwalt.
Teure Säumnis
Jetzt müsste die Klägerin vor Gericht darlegen, warum die Kündigung ihrer Ansicht nach missbräuchlich ist. Was nicht geschieht, da sie ja nicht gekommen ist.
Stattdessen hakt Gerichtspräsident Schürmann bei der Beklagten nach, erwähnt das Schulreglement, worin von Mitwirkung die Rede sei; die Mitarbeiter hätten sich «konstruktiv und kritisch» mit ihrer Arbeitgeberin auseinanderzusetzen. All diese Fragen beantwortet die HR-Verantwortliche der Schule direkt, das überlässt sie nicht ihrem Anwalt. Ihre Äusserungen geben ein paar wenige weitere Einblicke in den strittigen Fall.
Richter Thomas Fuchs will wissen, ob die «Belastung», die der Mailverkehr erkennen lasse, Auswirkungen auf die Arbeit der Lehrerin gehabt habe. «Nur im Team», antwortet die HR-Frau, Beschwerden über den Unterricht seien ihr keine bekannt. Richterin Laura Gerster fragt, wie mit den von Lehrpersonen abgesagten Stunden umgegangen werde. Es gebe, so die Antwort, einen Pool an Lehrerinnen und Lehrern, dort würden die Stunden dann neu verteilt.
Nach einer guten Stunde wird die Verhandlung beendet. Viele Fragen, die nur die Klägerin hätte beantworten können, bleiben offen. Das Urteil werde schriftlich gefällt und anschliessend an die Parteien verschickt, verkündet Richter Schürmann.
Ein paar Tage später sagt Rechtsanwalt David Grimm am Telefon, die Rechtsfolgen dieser «Säumnis», wie das Nichterscheinen genannt wird, seien unter Juristen umstritten, wie sich jüngst auch an einer Juristentagung zum Zivilprozessrecht ergeben habe. Es sei unter anderem darum gegangen, ob das Gericht auf eine Klage eintreten müsse oder nicht, wenn die klagende Partei einer unbegründeten Klage an der Hauptverhandlung «säumig» sei.
Fazit: Man ist sich uneinig.
Für die beklagte Arbeitgeberin sei dies ein ärgerliches Ereignis, sagt Grimm, sie habe keine andere Wahl, als diesen «Spiessrutenlauf auf sich zu nehmen».
Doch auch die klagende Angestellte hat nichts gewonnen. Wie das Gericht ein paar Tage später auf Anfrage mitteilt, wurde ihre Klage abgewiesen. Die unterlegene Klägerin muss für die Gerichtskosten und Anwaltskosten der Beklagten aufkommen. Falls das Urteil rechtskräftig wird.
Illustration: Till Lauer