Als Julie ging, ihre Eizellen einzufrieren

Erst einmal klang Social Freezing nach einer einfachen Lösung für späte Mutterschaft. Aber Julies Geschichte zeigt, wie sehr es stört, wenn Frauen beim Kinder­kriegen auch nur ein bisschen unabhängiger werden.

Von Marie-José Kolly (Text) und Michelle Urra (Illustration), 03.12.2022

Vorgelesen von Miriam Japp
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Es gibt zwei Kategorien von Frauen, die man nicht gerne sieht, schreibt die französische Philosophin Elisabeth Badinter: jene, die keine Kinder wollen, und jene, die sie um jeden Preis wollen. Kinder kriegen: natürlich, aber macht bitte kein grosses Ding daraus.

Besonders stark zu spüren bekommen das Frauen in den Dreissigern.

Julie ist eine von ihnen. Im März 2020 leuchten drei neue Nachrichten von ihr auf meinem Smartphone.

Ich freue mich auf Freitag.

Und ich muss dir etwas erzählen.

Den Start meiner Social-Freezing-Journey.

Julie

Am Freitag treffe ich Julie im Miró, einem Café im Zürcher Kreis 4, auf einen flat white. Vereinzelt tragen Gäste eine Maske, das Corona­virus geht um. Noch fühlt sich der Alltag vertraut an: Kaffee trinken mit einer ehemaligen Mitbewohnerin. Sie trägt immer noch schwarz, Pferde­schwanz, feine Gold­ringe an feinen Fingern. Sie ist Romande: Was ich hier von ihr zitiere, übersetze ich aus dem Französischen. Und sie heisst eigentlich anders: Julie erzählt gerne von sich, möchte diese intimen Erfahrungen aber lieber unter Pseudonym teilen.

Julie erzählt an diesem Morgen, dass sie sich ein Kind wünscht: nicht unbedingt übermorgen, aber irgendwann, ein Kind mit einem Partner. Julie wird aber bald 35. Und ab diesem Alter, das hören und lesen wir Frauen ständig, stehe unsere Frucht­barkeit knapp vor dem Aus. Auch Julies Therapeutin hat sie kürzlich darauf aufmerksam gemacht, denn sie betreut mehrere Frauen, für die es nun zu spät ist.

Vor vielen Jahren schon hatte eine Studien­beraterin Julie geraten, ans Verfall­datum ihrer Eizellen zu denken, und ihr von Social Freezing erzählt. Später, Julie war immer noch single, schlug ihre Schwester dasselbe vor. Damals war Julie gekränkt: Dachte die Schwester denn, dass sie so bald keinen finden würde?

Nun hat die Bemerkung der Therapeutin den Gedanken wieder aufgewärmt: Julie könnte ihre Eizellen entnehmen und einfrieren lassen und sie später, wenn ihr Leben für ein Kind bereit ist, wieder auftauen. So liesse sich ihre fruchtbare Zeit verlängern.

Social Freezing heisst, dass eine Frau Eizellen aus nicht medizinischen Gründen konserviert – anders als Frauen, deren Frucht­barkeit wegen einer Krankheit, etwa Endometriose, oder eines medizinischen Eingriffs wie Chemo­therapie gefährdet ist.

Keimzellen konservieren klingt einfach und – was wir von Kino und Sitcoms her besser kennen: Keimzellen von Männern einfrieren – ist es auch: Er geht mit Becher und ein paar Magazinen durch eine Tür, Minuten später erscheint er wieder im Bild und gibt seine Samen­zellen ab. Nur lassen sich die Keim­zellen der Frau nicht einfach ejakulieren: Um sie zu holen, sind zahlreiche Arzt­besuche notwendig, eine mehrwöchige Hormon­behandlung mit Pillen und Spritzen und mindestens eine Eizellen­entnahme im Operations­saal unter Voll­narkose.

Julie sagt mir, sie sei noch unsicher, sie lese sich ein und höre Podcasts zum Thema. Und sie habe nach monate­langer Suche auch endlich eine Bekannte gefunden, die erzählen würde von ihren eigenen Erfahrungen. «Sag es niemandem, aber ich habe es auch getan», habe diese Frau gesagt, als sie von Julies Recherche erfuhr. Über Reproduktions­medizin sprechen heisst häufig: flüstern.

Wie auch immer sie sich entscheidet, Julie wolle am Plan A weiterarbeiten, sagt sie: jemanden kennen­lernen, um mit ihm eine Familie zu gründen. Freezing, das wäre der Back-up-Plan.

Kurz nach unserem Treffen schreibt sie mir noch einmal:

Ich denke, es steht 80%, dass ich es tun werde, aber ich habe Angst vor der Wirkung der Hormonspritzen.

Julie

Nebenwirkungen, das hat Julie erwartet. Aber was sie die kommenden Monate wirklich kosten würden, darauf war sie nicht vorbereitet.


1. Soll ich?

Julie sitzt ihrer Gynäkologin gegenüber an einem weissen Tisch, diese berät sie zu ihrem Kinder­wunsch, also dazu, wie sich der Wunsch am besten aufschieben liesse. Soeben hat sie auch die ersten Vorunter­suchungen erledigt: Sie hat Ultraschall­bilder von Julies Eier­stöcken studiert und die Eizellen, die sich für den aktuellen Zyklus in Start­position begeben haben, gezählt. Und sie hat Julie auf Chlamydien getestet, Bakterien, die am Gebärmutter­hals herum­lungern und die, wenn man sie denn hat, durch reproduktions­medizinische Unter­suchungen bis zum Eileiter gelangen und dort Infektionen auslösen könnten. Der Test vermeidet also den Worst Case: dass die freezing journey eine Frau gleich die Frucht­barkeit kostet.

Nun wird die Ärztin Julie an die Klinik für Reproduktions-Endokrinologie des Universitäts­spitals Zürich weiter­verweisen. Als Diagnose schreibt sie auf:

«Unverheiratet, kein Partner, Kinderwunsch».

Das schwarz auf weiss zu lesen, sagt Julie, als sie mir von dem Besuch erzählt, habe wehgetan.

Ähnlich tut ihr auch die Freezing-Frage weh. Macht sie es, so gesteht sich Julie offiziell ein, dass sie single ist und sich das wohl nicht so schnell ändern wird. Dieses Eingeständnis ist ein Abschied von einem Stück ihrer Identität, ein Abschied davon, wie sie sich als Teenager die 35-jährige Julie ausgemalt hatte: eine Julie, die einen Mann kennen­lernen und sich verlieben würde, die mit ihm ein Stück Lebensweg ginge und dann probieren würde, ein Kind zu bekommen, mit ihm gemeinsam.

Allein und mithilfe der Reproduktions­medizin, so hatte sie sich Mutterschaft nicht vorgestellt.

So schreibt auch die französische Autorin Myriam Levain über ihre Freezing-Erfahrung: «Zu akzeptieren, dass es nicht wie in einer romantischen Komödie laufen würde, war schliesslich der schwierigste Aspekt meiner Entscheidung.»

Um damit weniger allein zu sein, erzählt Julie Freundinnen, Kollegen und Familien­mitgliedern von ihren Gedanken.

«Eizellen einfrieren? Das brauchst du doch nicht, du wirst ihn bald kennen­lernen, den Richtigen», hört sie. Oder:

«Warum willst du das tun? Du bist bei Männern einfach zu wählerisch.»

Singlefrauen in den Dreissigern sind keine Seltenheit, und doch stehen sie abseits von der Entwicklung, die die Gesellschaft von ihnen erwartet: «Von der Ehe zur Stabilität zur Mutterschaft», so fasst es die Sozial­anthropologin Yolinliztli Pérez-Hernández zusammen. Frauen sollen eine Partnerschaft aufbauen und ein Arbeits­leben. Diese soziale und materielle Situation soll sich stabilisieren, um einem Kind ein Nest bieten zu können. «Und diese Stabilität soll auf natürlichem Weg zur Mutterschaft führen», sagt Pérez-Hernández, die für ihre Forschung 43 Frauen interviewt hat, die in Frankreich ihre Eizellen eingefroren haben.

Diese Frauen, welche die gesellschaftlichen Erwartungen nicht einlösen, würden immer wieder einmal zur Ordnung gerufen, sagt die Forscherin, vom Umfeld, von den Medien oder vom medizinischen Personal, das beim Einfrieren der Eizellen assistiert: «Madame, warum machen Sie nicht ein Kind sous la couette, unter der Bettdecke?»

Madame soll Kinder wollen. Aber bitte nicht so fest, dass sie dafür die Medizin braucht. Dann lieber warten, bis der Prinz auftaucht. Und wenn dieser sich Zeit lässt, halt ein anderer.

Hinter solchen Haltungen steckt eine Natürlichkeits­ideologie, und sie ist relativ jung. Wie andere Ideologien reihen sich auch jene zur Mutterschaft ein in den jeweils vorherrschenden Zeitgeist: Waren etwa während der Industrialisierung Kinder willkommene Arbeits­kräfte und distante Mütter die Norm, dominierte danach die Kleinfamilie und die Vorstellung von der Mutter, die zur Hingabe geradezu bestimmt ist – ein Mutterbild, welches die National­sozialisten noch einmal reduzierten auf die Gebär­fähigkeit von Frauen.

Auf den Zweiten Weltkrieg folgte eine vom Fortschritts­glauben geprägte, auf die Kultur ausgerichtete Epoche. Und damit die Abkehr von der Idee der natürlichen Bestimmtheit, zumindest in privilegierten Milieus. Verhütungs­mittel und der nach und nach entstehende Diskurs über Schwangerschafts­abbrüche ebneten den Weg für die feministischen Forderungen der 1970er-Jahre: «Ein Kind, wenn ich will, wann ich will

Im späten 20. Jahrhundert schwang das Pendel zurück. «Wie immer in der Geschichte der Menschheit sind es Kriege und grosse ökologische und ökonomische Krisen, welche die Menschen bedrängen», schreibt die Philosophin Badinter. Und beschreibt die Rückkehr des Naturalismus, der, zusammen mit Wirtschafts­krisen, als Erstes die Frauen erfasste und sie in traditionellere Rollen zurückdrängte.

Nun hält kaum jemand die Natur hoch, wenn es darum geht, wie wir wohnen, arbeiten oder miteinander kommunizieren. Oder darum, wie man ein gebrochenes Bein behandeln soll, ein kaputtes Herz oder eine entzündete Lunge. Sehr wohl aber, wenn es um den weiblichen Körper und insbesondere um seine Reproduktions­organe geht, also darum, wie Frauen schwanger werden sollen, wie gebären und wie ihr Kind ernähren.

Die Fortpflanzungs­medizin steht dazu in krassem Gegensatz: Sie verspricht Kinder nicht nur, «wenn und wann», sondern bis zu einem gewissen Grad auch «wie ich will». Für Julie zum Beispiel: nicht mit dem Erstbesten. Auch nicht mit einem, den sie gerade okay genug findet, weil es zum Kinder­kriegen bald zu spät sein könnte.

Im April 2020 steht ihr erster Informations­termin in der Klinik an, kurzfristig wird er abgesagt: Pandemie. Im Mai kann sie endlich hin, im Juni folgen Unter­suchungen: um zu sehen, wie gut sie noch funktionieren, diese 35-jährigen Eizellen, die Julie «mes œufs» nennt.

Damit steht auch eine neue Angst an: jene vor schlechten Nachrichten.


2. Der Fruchtbarkeits­test

Sie hält das Smartphone am Ohr, ihr Herz klopft immer schneller: Julie erfährt gleich, ob sie fruchtbar ist. Und wenn ja, wie fruchtbar.

Das Resultat ist eine Zahl, und sie liegt etwas unter 10. Für ihr Alter sei das durchschnittlich, sagt die Ärztin der Klinik am Telefon, aber es liege eher im unteren Bereich der Durchschnitts­werte. So erzählt es mir Julie zwei Tage später bei Fusilli mit Tomaten­sauce auf einer Zürcher Terrasse.

Gemessen hat die Klinik das Anti-Müller-Hormon, und produzieren tun es die Follikel: Das sind kleine Hülsen, welche je eine Eizelle umschliessen. Mit diesem Hormon geben sie gleichsam an, wie viele Eizellen die Frau noch übrig hat. Das ist ein guter Grad­messer für Frucht­barkeit, besonders in Kombination mit den per Ultra­schall gezählten Eizellen und einem weiteren Wert, dem des follikel­stimulierenden Hormons.

Julies Hormonwert bedeutet, dass sie mit einer einzigen Eizellen­entnahme vermutlich nicht genügend Eizellen gewinnen kann. Freezing ist zwar keine Fruchtbarkeits­versicherung, aber die Chancen auf eine spätere Schwangerschaft sind deutlich höher, wenn mehr Eizellen eingefroren werden. Denn nicht jede Eizelle wird das Auftauen überleben. Und nicht jede überlebende Eizelle wird befruchtet werden können. Nicht jede befruchtete Eizelle wird sich in der Gebär­mutter einnisten und zur Schwangerschaft führen. Und nicht jede Schwangerschaft endet in der Geburt eines Kindes.

Um realistische Chancen auf ein Kind zu haben, müsste Julie 10 bis 15 Eizellen einfrieren, ihre Ärztin empfiehlt eher 15 bis 20. Mit 15 eingefrorenen Eizellen läge ihre Chance auf mindestens ein Kind bei knapp 70 Prozent, wie die Berechnungen einer US-amerikanischen Studie für Frauen in ihrem Alter zeigen. (Je älter eine Frau ist, desto weniger Eizellen hat sie und desto höher ist das Risiko, dass deren Chromosomen nicht mehr intakt sind. Schwanger werden wird schwieriger, Fehl­geburten nehmen zu, Trisomien ebenfalls.)

All das drückt Julie auf die Stimmung. Denn zwei (oder mehr) Runden, das bedeutet zweimal so viele Hormon­spritzen, zwei Eingriffe unter Vollnarkose, zweimal so viele Rechnungen. Zweimal so lange in diesem Prozess stecken, in dem sie eigentlich gar nicht stecken möchte. Und noch mehr von diesen Terminen in der Klinik, bei denen sie mit einer Nadel in der Armbeuge oder einem Ultraschall­stab in der Vagina daliegt.

Es sind Termine, die immer im Warte­zimmer beginnen. Dort warten schwangere Frauen, dort warten Paare, und Julie wartet allein.

Auch die Klinik erinnert sie immer wieder ans Single­dasein:

«Liebes Kinderwunsch­paar» steht auf der Broschüre. (Der Prozess fürs Freezing ist, bis und mit Eizellen­entnahme, derselbe wie jener für In-vitro-Befruchtung.)

«Ihr Partner kann Sie bei Bedarf begleiten» steht in der SMS, die sie am Vorabend an Termine erinnert.

«Ah, das betrifft Sie nicht», sagt die Ärztin und streicht auf dem Formular die Stelle durch, wo andere Frauen den Namen des Partners notieren können.

«Das ist jedes Mal ein Mini-Schlag ins Gesicht», sagt Julie.

Bald muss sie also entscheiden, ob sie das alles will, monatelang. Oder ob sie alles auf Plan A setzt.

Bald ist es 14 Uhr, die Arbeit wartet, nachdem der Pasta­teller leer gegessen ist, trinken wir noch einen Kaffee. Julie hat sich seit dem Telefon­termin wieder gefangen, der Austausch mit einer Freundin, deren Kinder nach In-vitro-Fertilisationen entstanden, hat sie aufgebaut: Julies Hormonwert sei viel besser als damals ihr eigener, sagte diese. Also bestellte sich Julie die Stiefeletten, deren starkes Pink sie seit Tagen aus dem Internet anglitzert, «meine Fruchtbarkeits­stiefel», sagt sie und lächelt.

Ich sitze schon wieder auf der Redaktion, als eine Nachricht von ihr eintrifft:

Ich habe soeben bestätigt, «los geht’s», wie man auf Deutsch sagt.

Julie

Zwei Monate später, im August, geht es richtig los, Julie nimmt drei Wochen lang Hormon­pillen, bald sollen die Spritzen folgen. Sie überwacht ihren Zyklus, denn die erste Injektion wird sie am Tag nach Menstruations­beginn setzen müssen. Sie ist bereit: Die Stiefeletten sind rechtzeitig eingetroffen, die Freundinnen, die sie beim Spritzen unter­stützen werden, sind kontaktiert.

Zwei Tage vorher frage ich, wie es ihr geht. Ob sie sich nach der ersten Spritze was gönnt, einen Keks, einen Filmabend. (Viel mehr liegt nicht drin: Fängt Julie irgendwo das Coronavirus ein, muss sie alles abbrechen.)

Schwierig ist das Unbekannte, nicht zu wissen, wie mein Körper und meine Emotionen reagieren werden.

Ich werde ein schönes Kleid anziehen.

Und vielleicht ein Abendessen liefern lassen und ein kleines alkoholfreies Bier trinken. Je nachdem, um welche Zeit ich die Spritze setze.

Julie

Dann kommt doch alles anders.


3. Die Hormonspritzen

In ein paar Minuten wird sie stechen müssen. Es ist 18.25 Uhr, und Julie wartet vor einer Apotheke in ihrem Wohn­quartier auf mich, im Wollpulli und mit einer grossen, silber­farbenen tote bag in der Hand. Es regnet in Strömen.

Der Apotheker bedient noch zwei Kunden und wendet sich dann uns zu. Julie hat ihn am Vortag hastig angerufen, und er hat sich bereit erklärt, ihr zu zeigen, wie das geht, das Spritzen.

Der Apotheker war im Plan nicht vorgesehen. Denn Julie hatte an ebendiesem Vortag einen Termin in der Klinik, um zu lernen, wie sie vorgehen muss. Dort sass ihr eine Pflege­fachfrau gegenüber, die ein anderes Medikament erwartete als das, das die Ärztin Julie verschrieben hatte. Sie zeigte Julie nur beispielhaft und ohne die Sterilitäts­vorgaben einzuhalten, wie man eine Hormon­spritze setzt. Julie würde daheim aber andere Hand­griffe anwenden müssen, um keine Infektion zu riskieren.

Julie schaute zu und schrieb mit, sie stellte Nachfragen, ihr Gegenüber wurde ungeduldig, irgendwann verliess sie die Klinik, enttäuscht, wütend, verunsichert. So erzählte sie es mir auf dem Heimweg in einer Sprach­nachricht.

Dann hatte sie die Idee mit der Apotheke.

Wir stehen in einem Kabäuschen hinter der Theke, eine Neonröhre wirft kaltes Licht auf den Plastik­tisch, Julie holt ein Päckli nach dem anderen aus der tote bag. Sie fühle sich wie ein Dealer, sagt sie, als sie Spritzen auf den Tisch legt, Nadeln und Ampullen, die Hormone enthalten. Es ist Material im Wert von 850 Franken.

Der Apotheker, weisser Kittel über dem T-Shirt, italienischer Akzent, zeigt an seinem eigenen Bein vor, wie es geht: unter die Haut stechen, nicht in den Muskel. Die Spritze im 45-Grad-Winkel zum Bein. Leicht drehend muss sie in die Haut rutschen, weil die Nadel abgeschrägt ist. Dann Julie:

Sie schiebt den Jupe hoch, packt ein Desinfektions­tuch aus, wischt es übers Bein. Packt die Spritze aus. Öffnet eine Ampulle, in der ein Pulver liegt. Spritzt die Flüssigkeit, die schon in der Spritze war, rein. Zieht sie zusammen mit dem aufgelösten Pulver wieder in die Spritze. «Stärker ziehen», sagt er.

Dann nimmt sie die Nadel von der Spritze, packt eine neue aus, drückt sie drauf. «Fester drücken», sagt er. Sie zielt, zögert, sticht, die Haut gibt nach.

«Sie sind so mutig, ich könnte mich niemals selber stechen», sagt er.

Sie drückt das Mittel ins Bein. Wartet fünf Sekunden, so, wie er es gezeigt hat. Zieht die Nadel raus, atmet.

Jetzt das zweite Bein. Das ist komplizierter, denn nun ist die Spritze leer, Julie muss also zunächst mit der Nadel in eine Ampulle mit Flüssigkeit stechen, dann in eine mit Pulver. Aber sie muss, wie bei allem, was sie tut, aufpassen: Die Nadel darf den Hals der Ampulle nicht berühren, denn sonst ist sie nicht mehr steril. Die Nadel darf gar nichts berühren, bevor sie die Flüssigkeit berührt oder das Bein. Julie zielt im richtigen Winkel, drückt, dreht, die Nadel rutscht, diesmal schneller, hinein, heraus. Pflaster drauf, Plastik entsorgen, fertig.

Wir setzen uns auf die Terrasse einer Bar um die Ecke. Julie sagt gern, man könnte doch auch die kleineren Schritte auf dem Weg dahin feiern und nicht nur die Schwangerschaften und die Geburten. Sie streckt ihre Finger als «V» in die Kamera, lächelt und bricht dann in Tränen aus.

«Ich war so wütend gestern nach dem Klinik­termin», sagt sie. Seit drei Wochen nimmt sie jeden Abend zwei Hormon­pillen. Die Neben­wirkungen seien «wie bei einer Schwangerschaft», sagt Julie. Ihr ist übel, ihr Bauch wölbt sich und schmerzt, sie schläft schlecht und ist ständig ausser Atem, hat Hitze­wallungen und Stimmungs­schwankungen. Das Medikament heisst informell «the crazy pill».

Es ist ein sogenanntes Gestagen und hat dafür gesorgt, dass die Follikel, welche am Anfang von diesem Zyklus in Julies Eier­stöcken am Start stehen, sozusagen gleichzeitig losgerannt sind und gemeinsam reifen. Auch ohne dieses Medikament wäre eine ganze Follikel­gruppe am Start gestanden, die Follikel hätten aber etwas versetzt mit dem Reifen begonnen. Und irgendwann hätte sich einer der Follikel durchgesetzt, nämlich der mit den meisten Rezeptoren für das follikel­stimulierende Hormon. Er wäre fertig gereift, und nur aus diesem wäre eine Eizelle gesprungen. Die anderen Follikel wären wieder verschwunden.

Aber die erste Hormon­spritze, die Julie heute gesetzt hat, enthält ein follikel­stimulierendes Hormon, welches normaler­weise die Hypophyse – eine ans Gehirn angegliederte Drüse – produziert. Die Follikel, die nun alle in einer Reihe am Start stehen, kommen also so schnell nicht davon: Die Extradosis Hormon wird Julies Eierstöcke so stimulieren, dass nicht nur ein Follikel das Rennen macht, sondern möglichst viele. Gleichzeitig wird die zweite Spritze ihr körper­eigenes luteinisierendes Hormon unter­drücken, was den Eisprung verhindert, bis möglichst viele Follikel gross genug sind.

Die Hormone in den Pillen machen also etwas mit Julies Stimmung, und das wiederum macht etwas mit den Menschen um sie herum. Denn Frauen, die ihre Stimmung zeigen, die genervt sind oder reizbar oder traurig, werden gern abwertend als emotional bezeichnet, als übersensibel, als hysterisch. Crazy eben. Damit wird das, was sie zu sagen hätten, ausradiert.

Als Julie in ihrem nahen Umfeld enttäuscht bemerkt, dass sie die Hochzeiten, Schwangerschaften und Geburten der anderen jeweils freudig mitfeiere, diese aber die kleineren Etappen, die sie gerade durchlebt, kaum zur Kenntnis nähmen, sagt ihr Gegenüber: «Jetzt sprechen aber deine Hormone.»

Körperliche Beschwerden von Frauen schreibt man gern ihrer Psyche zu. Psychische Beschwerden von Frauen wiederum erklärt man gern mit ihren Hormonen.

Beides bagatellisiert, was die Frau erlebt. Es spricht ihren Erlebnissen und den damit verbundenen Gefühlen jegliche Relevanz ab. Ganz zu schweigen davon, dass diese Erlebnisse und Gefühle eine gesellschaftlich relevante Dimension haben könnten. Es heisst: Dein Problem existiert nur, weil deine Hormone dir das vorgaukeln.

«So etwas sagt man typischer­weise zu Frauen», sagt Emilie Snakkers, die am Fertilitäts­zentrum des Universitäts­spitals Lausanne Patientinnen psychologisch betreut. «Und es zeigt: Auch in unserer freien Gesellschaft liegt das Patriarchat nie weit weg.»

«Ça me fait chier», sagt Julie, «das scheisst mich an.» Auch deshalb behandeln Menschen Reproduktions­fragen als Tabu: Es geht um Gesundheit, es geht um Sex, es geht ums Scheitern, es geht um intimstes Bangen und Hoffen. Wer darüber spricht, gibt diese Intimität auf. Und macht sich verletzlich.

Dann folgt Tag zwei, es regnet weiter, am Abend wird Julie die Spritze allein aus dem Kühlschrank holen und wieder um 18.30 Uhr stechen. Kurz davor schickt sie ein paar Nachrichten:

Coucou, heute ein grosser Rückschlag. Ich habe nicht super gut geschlafen und fühle mich so allein.

Du hast es gestern gesagt, der Unterschied zu Paaren, die eine Hormonstimulation durchleben, ist: Sie sind zu zweit und ich bin allein.

Ich möchte so sehr geliebt und umarmt werden.

Julie

Julie ist schon lange single. Sie ist es gewohnt, allein zu wohnen, zu essen, zu schlafen. Ebenfalls ist sie es nach langen Pandemie­monaten gewohnt, auch ausserhalb ihrer Wohnung weniger Leute zu sehen als üblich. Unabhängig leben: kein Problem. Aber sich allein diese Spritze zu setzen, das verlangt ihr zu viel ab.

Mit den Neben­wirkungen der Hormone hat das wenig zu tun: «Ab dem Moment, wo man mit dem Spritzen anfängt, hat man eher Wohlfühl­hormone im Körper», sagt Brigitte Leeners, die am Universitäts­spital Zürich die Klinik für Reproduktions-Endokrinologie leitet. Das Hormon aus den Spritzen regt die Follikel an, welche wiederum das Östrogen produzieren, das die Eizellen­reifung vorantreibt. Und Östrogen hebt die Stimmung.

Dass es das bei Julie gerade nicht tut, ist aber typisch: Viele Frauen, die sie für ihre Forschung interviewt habe, hätten grosse Momente der Einsamkeit erlebt, sagt die Sozial­anthropologin Yolinliztli Pérez-Hernández, besonders während dieser kritischen Phase. Die Spritzen im Kühlschrank, die Stiche im Bein, der Ultraschall­stab im Körper, all das schreit: Du bist allein.

Aber auch für Frauen, die im Rahmen einer Partnerschaft ihre Eierstöcke stimulieren, ist das eine einsame Zeit, wie die Autorin Myriam Levain schreibt. Ob nun der Ehemann, die Partnerin oder Freunde zugegen seien, am Ende spiele sich diese Geschichte zwischen «meinem Körper, meinen Ängsten, meinen Hoffnungen und mir ab».

Tag drei, um 18.22 Uhr stehe ich mit einem Schokolade-Zucchetti-Cake vor Julies Tür, sie öffnet in Shorts, so riskiert sie nicht, dass ihre Kleider später die desinfizierte Stelle berühren. Auf dem Küchentisch die Mise en place: Desinfektions­tücher, Spritzen, Nadeln, Ampullen, Pflaster, Küchen­papier zum Hände­trocknen.

Um 18.25 Uhr erscheint auf ihrem Smartphone die Erinnerung: «Injection d’amour».

Um 18.31 Uhr zittern Julies Hände, als sie mit der Nadel auf die Ampullen zielt.

Um 18.35 Uhr holt Julie zwei Flaschen alkoholfreies Bier aus dem Kühlschrank.

Tage vier und fünf: Julie fährt mit dem Velo zu einem Freund, der beim Spritzen hilft. Danach schreibt sie:

Du wirst lachen, aber ich habe noch nie so viele Komplimente für meine Haare bekommen wie seit dem Beginn der Hormonspritzen. 😂

Eine nettere Nebenwirkung als Übelkeit und Atemlosigkeit.

Julie

Tag sechs, die Ärztinnen messen das Hormon im Blut und machen einen Abstrich in der Nase. Die Dosierung der Hormone bleibt unverändert, der Covid-Test kommt negativ zurück. Weiter so. Am Abend kommt eine Freundin vorbei, sie trägt Maske.

In zwei Jahren wird Julie zurück­blicken auf diese Tage und sagen, es brauche ein Dorf, um ein Kind zu erziehen, es brauche aber auch ein Dorf, um seine Eizellen einzufrieren. «Wenn du keine Familie hast, keine Freunde, wenn du ganz allein bist, um dieses Ding durchzuziehen – ich glaube, dann tust du es nicht.»

Tag acht, Eizellen zählen. Wie immer mit dem vaginalen Ultraschall­stab, der zwar unangenehm ist, aber einem einen besseren Blick auf die Eier­stöcke erlaubt als der klassische Ultraschall. Gleich danach meldet sich Julie:

Bis jetzt habe ich 5, die richtig gross sind. Ich mache mit den Spritzen weiter mindestens bis Montagabend.

Wow, wenn sie dir sagen, dass sie zwischen 15 und 20 wollen ...

Julie

Tag elf, Julies Hände zittern nicht mehr. Die Einstich­stellen in ihrem Oberschenkel bilden eine gerade Linie, darum herum ein grosser blauer Fleck. Sie sticht ein vorletztes Mal, dann schiebt sie die Quiche in den Ofen.

Morgen Abend wird sie den Trigger­shot setzen, der die Eizellen fertig­reifen lässt und den Eisprung auslöst. Damit lösen sich die Eizellen langsam von der Follikel­wand. Genau 36 Stunden später wird der Eingriff in der Klinik stattfinden, in der zweiten September­woche. «Und dann trinken wir zusammen einen Negroni, ça pète bien la tête», sagt sie – das macht richtig gut betrunken.


4. Der Eizellen­sauger

Der frühe Morgen­himmel leuchtet rosa über Stadt und See, eine Freundin begleitet Julie zur Klinik. Sie trägt ihre silber­farbene tote bag und Turnschuhe, für die Stiefeletten ist es zu warm. Auch die Finger­ringe liegen heute daheim. Und die Freundin muss sie vor dem Eingang verabschieden: Corona-Massnahme.

Dann geht alles sehr schnell, bald schon liegt Julie im Spital­nachthemd und mit Hygiene­maske im Operations­saal. Ihre Beine liegen hochgelagert in Stützen, wie Frauen sie vom Gynäkologen­stuhl kennen. Pflegerinnen kleben Julie Elektroden auf die Brust, der Anästhesist fragt, wie sie sich fühlt, und sagt, sie solle an etwas Schönes denken, einatmen, ausatmen, Julie denkt ans Wasser im Ozean, hat warm und schläft ein.

Die Ärztin führt einen Ultraschall­stab mit Nadel durch Julies Vagina zum Eierstock ein. Die Nadel ist innen hohl und saugt ihre reifen Eizellen, die nun jeweils frei in der Follikel­flüssigkeit schwimmen, ab, kurz bevor der Eisprung stattgefunden hätte. Das Ganze dauert eine Viertel­stunde, dann bringen Pfleger Julie in ein Zimmer.

Als sie aufwacht, hört Julie jemanden, der sagt, alles sei gut gelaufen. Dann erzählt sie mir in einer Sprach­nachricht, wie es war. Und schreibt:

Termin mit der Ärztin um 10 Uhr.

Ich habe Bauchweh, wie heftige Regelbeschwerden.

Und fühle mich groggy.

Julie

Etwas später sagt ihr die Ärztin, sie habe 10 Eizellen holen können. Jene, welche gross genug sind, wird sie noch heute in Flüssig­stickstoff tauchen, das friert sie augen­blicklich ein. Die sogenannte Vitrifikation ist seit 2012 der Standard fürs Freezing, und im Gegensatz zum herkömmlichen Einfrieren, bei dem sich Eiskristalle bilden können, kann man nun viel mehr Eizellen intakt auftauen und befruchten.

«Und dann hat mir die Ärztin das ‹Juhu› vermasselt», erzählt Julie ein paar Tage später, als wir besagten Negroni bestellen: Wenn sie unbedingt Kinder wolle, solle sie weitere Runden einplanen, habe die Ärztin gesagt. Als Julie erwiderte, der Prozess sei schwer und sie müsse sich kurz erholen, warnte die Ärztin: In einem halben Jahr würde die Qualität von Julies Eizellen wieder abgenommen haben, und wegen der Pandemie sei unsicher, wie lange die Klinik diese weniger dringlichen Eingriffe noch machen könne. Sie würde nicht zu lange warten, sagte die Ärztin. Julie habe ja noch Hormon­pillen, falls sie direkt wieder starten wolle.

«Es war wie eine kalte Dusche», sagt Julie, wir sitzen in der Abend­sonne und warten auf den Drink. Sie denkt kurz nach und sagt: «Non, non, non, ich beginne nicht direkt wieder mit diesem Ding.» Das Ding, es kostet.

Vielleicht noch eine Runde, aber nicht im Winter, sagt Julie, zu deprimierend. «Aber dann werde ich getan haben, was ich für mich selbst tun wollte», sagt sie und nimmt das Glas in die Hand: «Santé. A mes oeufs.»

Die journey hierhin hat Julie durch­geschüttelt, aber die bisher gewonnenen Eizellen sind nun da, für sie: Und sie wird nun freier sein in ihren Entscheidungen.

Etwas für sich tun, self-care, das fühlt sich gut an. Und doch fällt es gerade Frauen oft schwer. Vielleicht auch, weil dann schnell der Vorwurf im Raum steht, sie seien egoistisch, egal, ob self-care in ihrem Fall bedeutet, dass sie keine Kinder wollen, dass sie alles versuchen, um eigene Kinder zu bekommen, oder dass sie erst einmal vorsorgen und Eizellen freezen.

Als Julie einer Kollegin erzählt hat, sie werde Eizellen einfrieren, fragte diese, ob Julie denn gegen Adoption sei?

Der Wunsch nach einem Kind – für viele: nach einem Kind, mit dem man Gene teilt – lässt sich nicht so leicht ummodeln oder gar abschalten. Es ist «einer der existenziellsten Wünsche überhaupt», wie die Moral­philosophin Barbara Bleisch und die Juristin Andrea Büchler schreiben, weniger eine Entscheidung, denn eine Sehnsucht, eine, «die sich schlecht begründen oder argumentativ durchdringen lässt». Ähnlich beschreibt die auf reproduktive Themen spezialisierte Psycho­therapeutin Emilie Snakkers den Impuls, ein Kind zu machen: nicht als etwas Rationales, sondern als ein Entscheid, der unter­bewussten Logiken gehorcht. Nur sei es nicht «à la mode», das zu sagen, weil wir in einer Gesellschaft der Selbst­beherrschung und der Kontrolle lebten.

Der Kinderwunsch ist also ein Wunsch, der sich vielleicht gar nicht erklären lässt. Und der sich nicht erklären muss: Das ist der Kern der reproduktiven Autonomie. Das Recht, selbstbestimmt zu entscheiden, «ob, wann, wie viele und in welchen zeitlichen Kadenzen» wir Kinder möchten.

Self-care ist also auch Selbst­bestimmung, und Selbst­bestimmung stört den einen oder anderen. «Die Gesellschaft erwartet, dass wir Frauen in unserer Frucht­barkeit passiv bleiben», sagt Julie. Beim «Freezen» drehe man ihr aber eine lange Nase: «Denn dieses Dornröschen wartet nicht auf den Prinzen. Und Dornröschen schläft nicht, nein, Dornröschen ist sogar hellwach und hat Eizellen beiseite­gelegt.»

Hierin liegt der Kern dessen, was die Reproduktions­medizin für Reaktionäre (und andere) so unerhört macht: Indem sich Dornröschen unabhängiger macht, verändert sich die Rolle des Prinzen, sie wird kleiner. Was, wenn Frauen ihn zum Kinder­kriegen gar nicht mehr brauchen? Freezing und weitere reproduktions­medizinische Techniken kratzen an den Grund­festen der Frau-Mann-Beziehungen. Das kann man als Bedrohung wahrnehmen. (Und das wiederum führt gerne zu antifeministischen Ressentiments.)

Julie will zwar kein Kind ohne Mann: Wie für die meisten Frauen, die ihre Eizellen aus nicht medizinischen Gründen einfrieren, wird er dadurch nicht obsolet, au contraire: Er ist und bleibt Plan A. Aber Freezing nimmt Zeitdruck aus der Partner­suche: Sie braucht sich nicht mit dem Erst­besten zufrieden­zugeben. Für den Erstbesten ist das blöd: Die Kehrseite ihrer Unabhängigkeit ist seine Macht­einbusse.

Diese Unabhängigkeit suchen immer mehr Frauen, Freezing ist auf dem Vormarsch. Auf Anfrage schreiben mir mehrere Schweizer Fertilitäts­zentren von deutlichen Zunahmen in den vergangenen Jahren, Brigitte Leeners vom Universitäts­spital Zürich spricht gar von einem «exponentiellen Anstieg». Die Technik der Vitrifikation hat Social Freezing zu einem gangbaren – wenn auch teuren – Plan B gemacht, weit über die USA hinaus, wo sie 2012 zum Standard erhoben wurde: «Es ist gleichzeitig berührend und beunruhigend, wie weltweit verbreitet das Profil der partnerlosen, unabhängigen und diplomierten Dreissigerin ist», schreibt die Autorin Levain. («Beunruhigend», weil es zeigt, wie weltweit verbreitet auch die Schwierigkeit ist, auf beiden Gleisen gleichzeitig voran­zukommen: dem persönlichen und dem professionellen.)

Nach dem Apéro setze ich mich mit Julie auf einem Zürcher Trottoir an einen weiteren Tisch, wir lesen das Menü, in einer Fussnote steht: «Das Fleisch kann mit Hormonen produziert worden sein», Julie lacht. Und erzählt, sie habe im August keine Eier essen können, habe immer wieder an das kleine Huhn gedacht, das sich solche Mühe gebe.

Wir plaudern über dies und das, langsam rücken die Erlebnisse der vergangenen Wochen in den Hinter­grund. Nach dem Essen wird Julie müde, ihre Brüste ziehen und der Kiefer schmerzt noch von der Intubation. Zeit, nach Hause zu gehen: Sie schliesst ihren silber­farbenen Velohelm unterm Kinn und fährt davon, der Leo-Print ihres langen Jupes flattert hinterher.


5. Der Tiefkühler

Rund eine Woche nach der Punktion ist er da, der Brief von der Klinik. Julie hatte mich vorgewarnt, dass sie das Einschreiben heute abholen würde. Und gesagt, sie gehe davon aus, dass die Ärztin von den 10 entnommenen Eizellen bloss 5 bis 6 habe einfrieren können.

6!!!

Julie

«Wie wir vertraglich festgelegt haben, werden die Eizellen von nun an während maximal 10 Jahren (bis zum 10.09.2030) bei uns aufbewahrt», steht im Brief.

Der rechtliche Rahmen bestimmt mit, zu welchem Zeitpunkt Frauen ihre Eizellen typischer­weise einfrieren, und das ist ein Balance­akt. In der Schweiz dürfen Keim­zellen, die aus nicht medizinischen Gründen eingefroren werden, fünf Jahre aufbewahrt werden, verlängerbar um weitere fünf Jahre. Wer also mit 25 Jahren einfriert, hat zwar jüngere Eizellen im Kühltank und damit höhere Chancen auf eine Schwangerschaft, kann aber diese Eizellen nur bis zum Alter von 35 aufbewahren. Wer seine Fruchtbarkeit nach hinten verlängern will, muss später «freezen».

Es sei schwer, sich diese Eizellen vorzustellen, irgendwo in einem Tiefkühler, sagt Julie. Beim Gärtnern giesse man die Erde und sehe dann eine Pflanze aus dem Boden wachsen, hier habe sie Hormone gespritzt, aber nicht gesehen, was die Ärztin aus ihren Eierstöcken geholt hat. Sie lacht: In den Händen gehalten habe sie nur Rechnungen über insgesamt fast 5000 Franken. Und doch fühlten sich diese Eizellen, die aus dem Körper schon raus sind, nach mehr an als gar keine Familien­planung.

Lange Zeit später stehe ich mit Julie im Andrologie­labor des Unispitals Zürich, vor uns mehrere Kühltanks, die bis zur Brust reichen und nach und nach mit Keim­zellen befüllt werden. Aus Sicherheits­gründen kann Julie ihre Eizellen aber auch jetzt nicht mit eigenen Augen sehen: Die Langzeit­lagerung findet in einem anderen Raum statt, wo nur die Labor­mitarbeiterinnen hinein­kommen. Und sie sähe sowieso nicht viel: Die 6 Keim­zellen liegen auf zwei dünnen sogenannten straws, Stroh­halmen, ohne Mikroskop sind sie kaum auszumachen.

Ein paar hundert Frauen lagern ihre Eizellen hier. Sie tun das, anders als es Medien und Politik gern darstellen, grössten­teils nicht aus beruflichen Gründen. Nicht weil Unternehmen sie unter Druck setzen, ihren Kinder­wunsch nach hinten zu schieben, oder ihnen gar das Freezing finanzieren, um sie im Arbeits­leben zu behalten. (Zumal sie, sollten aus den eingefrorenen Eizellen irgendwann Kinder entstehen, das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie unverändert erwartet.) Die allermeisten «freezen», weil der richtige Partner fehlt – ihre Beziehung ist kaputt­gegangen, oder sie sind schon lange single.

Anfang Winter, Julies Eizellen sind seit drei Monaten tiefgekühlt, tauschen wir uns aus über die grosse Müdigkeit, die sie im Herbst heimgesucht hat, über das neue Kochbuch, das wir beide haben, über Home­office und Video-Workshops. Dann schickt sie noch eine Nachricht hinterher:

P.S. Gestern war mein zweites Date mit einem Mann. Es war schön. Je mehr ich über ihn erfahre, umso mehr will ich erfahren. Ein gutes Zeichen, denke ich :).

Julie


Epilog

Im März 2022, genau zwei Jahre nach dem Anfang dieser Geschichte, trifft wieder eine unerwartete Nachricht von Julie ein. Ich habe sie seit mehreren Monaten nicht gesprochen, beim letzten Treffen auf dem Gemüse­markt am Zürcher Helvetiaplatz hatte ich ihr erzählt, dass ich ein Kindchen erwarte.

Coucou, sag, hattest du einen Bluttest bei der Gynäkologin gemacht, um deine Schwangerschaft zu bestätigen?

Julie

Als wir uns im Herbst treffen, ist sie unter ihrem Leo-Print-Gilet schon im sechsten Monat schwanger. Aus den Dates vom Herbst 2020 wurde eine Partnerschaft, aus der Partnerschaft bald Elternschaft. Ohne den Gang zum Kühltank.

Auch das ist eine Realität solcher Geschichten, weitaus die häufigste sogar: Nur etwa 10 Prozent der eingefrorenen Eizellen werden aus einem Kinder­wunsch wieder aufgetaut. Manche Frauen entscheiden sich gegen ein Kind, bei anderen klappt es mit den Eizellen, die noch im eigenen Körper sind.

Die Psycho­therapeutin Snakkers lächelt, als ich ihr Julies Geschichte skizziere: Sie sehe viele Frauen, die ihre Eizellen einfrören und bei denen sich dann etwas löse oder lockere: «Bald lernen sie jemanden kennen und brauchen die eingefrorenen Eizellen nicht mehr.» Auch Julie sagt: Durch die langen Monate vor und nach dem Freezing habe sie sich selbst besser kennen­gelernt. Der Prozess habe sie gezwungen, sich zu überlegen, was sie genau möchte und wie sie dahin komme. «Sonst wäre ich heute vielleicht noch dieses passive Dornröschen», sagt sie.

Vor kurzem habe sie wieder eine Rechnung bekommen, sagt Julie, denn die Lagerung ihrer gefrorenen Eizellen koste jährlich 400 Franken. Mit ihrem Partner zusammen habe sie kurz besprochen, ob er die Hälfte davon bezahlen solle.

Bisher zahlt Julie, das passe für den Moment ganz gut, sagt sie.

«Es ist mein Ding.»

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