Unbändiges Verlangen nach Veränderungen im Iran. Laaya Soheilifar

«Was die iranische Bevölkerung selbst tun kann – das hat Priorität»

Wird Irans aktuelle Protest­bewegung die Islamische Republik in die Knie zwingen? Auf lange Sicht ja, sagt Protest­forscherin Jamila Raqib.

Von Solmaz Khorsand, 17.10.2022

Vorgelesen von Danny Exnar
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Die Proteste im Iran gehen in die fünfte Woche. Welches Potenzial haben sie? Und wenn der Regime­sturz tatsächlich gelingt, was dann? Mit Fragen dieser Art beschäftigt sich die Bostoner Albert Einstein Institution seit 1983.

Gegründet wurde sie von Gene Sharp, dem US-Politik­wissenschaftler, der 2018 verstorben ist und auch «Machiavelli der Gewalt­freiheit» genannt wurde. Er beschäftigte sich zeit seines Lebens mit gewalt­freien Bewegungen und Aktionen, die einen Regime­wechsel herbei­führen können. 198 gewalt­freie Methoden, um ein Regime auszu­höhlen, hat er formuliert, von der richtigen Gestaltung von Logos und Bannern über Konsum­boykotte und General­streiks bis hin zur Einsetzung einer Parallel­regierung.

Sharps Thesen, allen voran sein Buch «Von der Diktatur zur Demokratie», haben Protest­bewegungen weltweit inspiriert. Jamila Raqib, die heutige Direktorin der Albert Einstein Institution, hat fünfzehn Jahre lang Seite an Seite mit Sharp gearbeitet. Im Gespräch mit der Republik analysiert sie Irans aktuelle Protest­bewegung und die Lektionen, die aus vergangenen Erfahrungen gezogen werden können.

Jamila Raqib, wie lautet Ihre Einschätzung zu den aktuellen Protesten im Iran?
Da unsere Arbeit im Institut sehr sensibel ist, muss ich voraus­schicken, dass wir unsere Beobachtungen auf der Basis unserer Forschung machen. Wir haben keine Insider­informationen. Ich betone das, um nicht die Behauptung zu unter­stützen, die Proteste seien nicht «organisch», sondern von aussen gesteuert.

Das ist verständlich, das Regime diskreditiert seit jeher jeden Protest im Iran als ausländische Verschwörungs­aktion. Jetzt, wo das geklärt ist: Was ist Ihre Einschätzung?
Es ist ein Moment der Hoffnung. Dennoch halte ich es für gefährlich, ein Gefühl der Unaus­weichlichkeit zu vermitteln. Als sei schon gesichert, dass alles funktionieren wird, wie es sich die Menschen wünschen, und dass die Proteste zu einem demo­kratischen Übergang führen werden. Wir haben in den vergangenen Jahren einige Massen­aufstände erlebt, die durch einzelne Ereignisse ausgelöst und dann durch Social Media befeuert wurden. Sie waren aber nicht notwendiger­weise nachhaltig. Im Unterschied zu Bewegungen aus der Vergangenheit – wie die US-Bürgerrechts­bewegung oder Polens Solidarność – haben aktuelle Bewegungen aufgrund der sozialen Netzwerke einen geringeren Organisations­aufwand. Das heisst, dass sie Tausende Menschen fast ohne Vorbereitung mobilisieren können, aber nicht die Strukturen aufbauen, die notwendig sind, um Nachhaltigkeit zu schaffen und einen demokratischen Übergang zu gewährleisten.

Ein demokratischer Übergang scheint noch in weiter Ferne im Iran. Was ist für den Augenblick entscheidend für die Bewegung?
Derzeit ist es erforderlich, die Leute zu bilden, ihnen zu erklären, welche Aktionen effektiv sind, und zu vermitteln, dass jede Art von Gewalt kontra­produktiv ist. Das Regime wird jetzt alles daran­setzen, die Demonstrierenden zu Gewalt­akten zu provozieren, um die Einheit der Bewegung zu zerstören und die Legitimität ihrer Forderungen zu beschädigen.

Gewalttätiger Protest kann gerecht­fertigter nieder­geknüppelt werden?
Das ist nicht das einzige Problem. Wenn die Bewegung beginnt, Gewalt anzuwenden, wird sie auch deshalb geschwächt, weil sie schrumpft. Die Zahl der Menschen, die sich ihr anschliessen, wird kleiner. Haupt­sächlich werden es physisch unversehrte junge Männer sein, die sich an ihr beteiligen. Ich glaube nicht, dass die Bewegung dann noch eine Revolution der Frauen oder der breiten Masse bleiben wird. Natürlich stellt sich immer die Frage, ob es einen gewalt­bereiten Flügel innerhalb einer Bewegung geben kann, der begrenzt oder als Mittel der Verteidigung Gewalt anwendet. Unglücklicher­weise zeigt die Forschung aber sehr deutlich, dass auch das eine massive Schwächung bedeutet und die Partizipation verringert. Die Leute gehen nach Hause. Und was die Sicherheits­kräfte angeht: Natürlich recht­fertigt Gewalt seitens der Demonstrierenden aus ihrer Sicht ein hartes Durch­greifen, vor allem aber schafft sie für das Regime die Garantie, dass es sich auf die Polizei und die Milizen verlassen kann: Gewalt macht das Überlaufen schwieriger.

Dass Polizei und Militär die Seiten wechseln, ist der Schlüssel zum Erfolg einer Protest­bewegung?
Wenn die Sicherheits­kräfte weg sind, hat ein diktatorisches Regime keine Möglichkeit mehr, zu überleben. Wichtig aber ist, zu bedenken, dass das Überlaufen hoch­rangiger Funktionäre auch aus kurz­fristigem Interesse erfolgen kann und nicht, weil diese Leute dazu «bekehrt» wurden, für die gerechte Sache zu kämpfen. In Ägypten zum Beispiel versprachen Militär­führer, die Revolution zu schützen, nutzten diesen Seiten­wechsel jedoch nur, um ihre eigene Macht zu behalten und das Militär als Institution zu bewahren.

Schülerinnen im Iran zeigen, was sie von der Regierung halten. Twitter

So weit sind wir im Iran noch nicht. Wir sehen aber bereits Videos, die zeigen, dass Uniformierte mit den Protestierenden sympathisieren, gar vereinzelt mitmarschieren. Ist das schon der zivile Ungehorsam der Sicherheits­kräfte?
Es gibt verschiedene Arten, seinen Ungehorsam zu demonstrieren. Die offen­sichtlichste Form ist die Meuterei, wenn eine ganze Gruppe sich weigert, den Befehlen zu folgen, und zu den Protestierenden überläuft. Aber es gibt auch versteckte Arten des Ungehorsams, die den Vorteil haben, dass man nicht dafür belangt werden kann. Das Mindeste, was man tun kann, ist, an den Menschen vorbeizu­schiessen oder auch ander­weitige Pflichten nicht oder nicht so genau zu erfüllen. Ich bin sicher, das passiert bereits.

Also nicht genau hinzu­sehen oder sich etwas «ungeschickt» anzu­stellen bei einer Festnahme.
Zum Beispiel.

Welche Phasen muss eine Protest­bewegung durch­laufen, um ihr Ziel zu erreichen?
Zuerst braucht es eine Analyse der Stärken und Schwächen: Was sind die Ressourcen? Wie sehen die Kommunikations­kanäle aus? Wie steht es mit der Logistik? Wie lassen sich bereits existierende Netzwerke anzapfen? Es ist wichtig, zu wissen, wer die potenziellen Verbündeten sind, vor allem auch die passiven Verbündeten. Das sind diejenigen, die zwar mit der Bewegung einverstanden sind, aber nicht agieren, weil sie entweder das Risiko nicht eingehen wollen oder weil sie fürchten, dass der Protest ohnehin erfolglos bleibt.

Mittlerweile haben bereits die ersten Streiks statt­gefunden. Das zeigt einen gewissen Grad der Organisation und Vernetzung einzelner Berufs­gruppen. Am Montag haben sogar Arbeiter aus der Ölindustrie im Süden des Landes gestreikt. Ist das ein Gamechanger?
Die Ölarbeiter spielen eine wichtige Rolle, das war schon so während der Islamischen Revolution. Als sie damals streikten, schwächte das nicht nur die Wirtschaft, es hat auch die Sicherheits­kräfte sehr gefordert. Sie sind zu den Leuten nach Hause gegangen und haben sie in die Raffinerien gezerrt, wo sie dann zwar wieder arbeiteten, aber langsamer als sonst. Wenn der Sicherheits­apparat konstant damit beschäftigt ist, die Menschen zur Arbeit zu zwingen, und gleich­zeitig Proteste nieder­schlagen muss, paralysiert das das System.

Der Politik­wissenschaftler Karl W. Deutsch hat 1953 gesagt: «Totalitäre Macht ist nur dann stark, wenn man sie nicht zu oft anwenden muss. Wenn totalitäre Macht ständig gegen die gesamte Bevölkerung angewandt werden muss, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie lange wirkungsvoll bleibt.» Wenn also die Sicherheits­kräfte permanent im Einsatz sind, muss die Repression irgend­wann ausdünnen?
Man muss sie permanent auf Trab halten, aber auch die Bewegung sollte agil bleiben. Nicht jeder muss unbedingt an jeder Demonstration den Regime­truppen auf der Strasse die Stirn bieten. Es ist wichtig, unter­schiedliche Rollen zu schaffen – zum einen für diejenigen, die noch passiv bleiben, zum anderen aber auch für diejenigen, die eigentlich gegen die Ziele der Bewegung sind. Man muss sie dazu bringen, ihren bisherigen Gehorsam dem Regime gegenüber zu verweigern, weil sie begreifen, welche Kosten es für sie persönlich hat, das bestehende Macht­system weiter zu unterstützen. Man will die aktiven Gegner zu passiven Gegnern machen und die passiven Verbündeten zu aktiven.

Welche Rolle spielt das Ausland? Es wurden bereits die ersten Sanktions­massnahmen gegen Personen und Organisationen gesetzt. Gleichzeitig sind derartige Mittel irgend­wann ausgeschöpft. Was kommt danach?
Wirtschafts­sanktionen sind ein Instrument unter vielen, die zur Verfügung stehen, um die Macht­quellen repressiver Systeme zu unter­graben. Wie geeignet sie im iranischen Kontext sind, sollte von den Iranerinnen selbst beurteilt werden. Es muss aber klar sein, dass niemand eine Militär­intervention will. Ich würde sagen, wir sollten uns darauf konzentrieren, was die iranische Bevölkerung selbst tun kann – das hat Priorität. Es ist vielleicht das Wichtigste, was ich Gene Sharp viele Male sagen gehört habe, wenn es um die Frage ging, was die inter­nationale Community tun kann: Just stay out! Das ist das Beste, was man tun kann: nichts.

«Für die Freiheit». Laaya Soheilifar

Gene Sharp betont in seinen Werken immer wieder, dass ein Regime­sturz Menschen­leben fordert, dass wir uns da nichts zu vormachen brauchen. Dieser Ansatz, «für eine grössere Sache» zu sterben, bedient für mich aber einen perversen Märtyrer­kult, den man doch unmöglich vertreten kann.
Ich hadere selbst damit. Aber wir müssen annehmen, dass jedes Individuum ein klares Bewusstsein davon hat, was der Preis der menschlichen Freiheit ist und welches Risiko damit verbunden ist, gewisse Mass­nahmen zu ergreifen für eine bessere Zukunft für sich und seine Kinder. Alles hat seinen Preis – auch nichts zu tun. Ich denke, dass die Menschen ein gutes Verständnis dafür haben, welches Risiko ihre Aktionen bergen, und sie sollten nicht zu Handlungen aufgefordert werden, bevor sie dazu bereit sind und auch die Fähigkeit haben, diese effektiv auszuführen.

Aber lässt sich das Risiko reduzieren, sein Leben zu verlieren?
Wir glauben, dass das mit Planung und Vorbereitung möglich ist. Aber dafür muss man auch in gewalt­freiem Widerstand ausgebildet und diszipliniert sein. Beispiels­weise ist es wichtig, zu wissen, was man vermeiden sollte, etwa Massen­aufmärsche, die es für die Sicherheits­kräfte sehr leicht machen, mit harter Repression vorzugehen und zum Beispiel in die Menge zu schiessen. Alternativ kann eine Bewegung dieselbe Stärke zeigen und das Momentum halten, ohne die Bevölkerung diesem Risiko auszusetzen, wenn sie die Leute auffordert, zu Hause zu bleiben. Die Strassen leeren: Das ist eine unglaubliche Macht­demonstration. Dem Gegner wird das Signal gegeben: Wir haben eine derartige Disziplin und sind so geeint, dass wir kollektiv zu Hause geblieben sind.

Gene Sharps Theorien waren inspirierend für viele Protest­bewegungen weltweit. Von der demo­kratischen Bewegung Otpor in Serbien über Kmara in Georgien bis hin zu Initiatorinnen in Ägypten, die 2011 Präsident Hosni Mubarak aus dem Amt gejagt haben. Und gerade der Fall Ägypten zeigt anschaulich, wie so eine Revolution gescheitert ist. Hand aufs Herz: Ist es das Risiko wert, sich zu wehren, wenn am Ende eine Diktatur durch eine andere ersetzt wird?
Natürlich stellt sich die Frage, wo all diese Bewegungen heute sind und in welchem Ausmass sie ihre Ziele erreichen konnten. In Ägyptens Fall haben wir nun eine Militär­diktatur. Ob sich die mit Mubaraks Regime vergleichen lässt, kann ich nicht sagen. Auch nicht, wie sich die Ägypter fühlen angesichts ihrer Errungen­schaften in den vergangenen elf Jahren. Aber die Annahme, dass man besser dran ist mit einer Diktatur und es sinnlos ist, etwas zu versuchen, weil man den Übergang zur Demokratie nicht garantieren kann, ist gefährlich. Sie bedient eine falsche Dichotomie, die der Gegner will: Es herrscht entweder Stabilität, und zwar eine schreckliche Stabilität, die den Bedürfnissen der Bevölkerung nicht gerecht wird; oder das Chaos und eine weitere Diktatur. Wenn das Narrativ gewinnt, dass Menschen, die mit schwerer Unter­drückung konfrontiert sind, machtlos bleiben oder dass das Beste, was sie tun können, darin besteht, ein unter­drückerisches System gegen ein anderes einzu­tauschen, sind wir in echten Schwierigkeiten.

Was lässt sich aus dem Arabischen Frühling lernen?
Wir lernen daraus, dass man schon im Wider­stand einen Plan für den Übergang haben muss. Das Planen dafür kann nicht erst dann beginnen, wenn der Sieg errungen worden ist, weil dann andere Gruppen, die besser organisiert sind, den Sieg in letzter Minute wegschnappen. Die Zeit nach einer erfolg­reichen Revolution ist verständlicher­weise eine Zeit der grossen Erleichterung und Euphorie. Doch auch wenn die Menschen erschöpft sind, dürfen sie sich nicht zurück­lehnen und entspannen. Statt­dessen kann eine Bewegung die Macht nutzen, die durch neue Institutionen, Netzwerke, Strukturen und ein neues Bewusstsein geschaffen wurde, um den Druck auf die Macht­haber aufrecht­zuerhalten. Sie muss mobilisiert bleiben, denn nur eine anhaltende Mobilisierung sendet die Botschaft an die neue Regierung, dass sie zur Rechen­schaft gezogen wird, sollten die Ziele und Werte der Revolution verraten werden. Polens Solidarność-Bewegung ist das sehr gut gelungen. Sie nutzte landes­weite Streiks, um die neue Führungs­riege an den Verhandlungs­tisch zu zwingen, und blieb auch nach den ersten Erfolgen mobilisiert. Eine «rebellische Zivil­gesellschaft» setzte weiterhin störende Aktionen wie Strassen­proteste und Streiks ein, um sicherzu­stellen, dass ihre sozialen und wirt­schaftlichen Interessen in jeder neuen Verein­barung gewahrt blieben.

Zurück zum Iran. Das Land erlebt seit 43 Jahren Proteste, und jedes Mal schliessen sich mehr und mehr Bevölkerungs­schichten an. Selbst wenn diese Bewegung jetzt scheitert – hat sie auf lange Sicht eine Chance auf Erfolg?
Ja, das zeigt die Forschung. Selbst wenn ein Aufstand oder eine Bewegung kurz­fristig scheitert, führt sie häufig innerhalb von fünf Jahren zu einem demo­kratischen Wechsel. Warum? Es gibt gerade eine sehr starke Dynamik. Die Furcht­losigkeit der Menschen und der Verlust der Legitimität des Gegners ermächtigen die Bewegung. Auch wenn es nicht ausreicht, das Maximal­ziel, den Regime­sturz, jetzt zu erreichen, wird das Fundament des Systems erschüttert. Das Regime wird natürlich alles daran­setzen, diese Bewegung mit allen Mitteln niederzu­schlagen. Aber wenn die Leute der Repression stand­halten, dann ist es wirklich der Anfang vom Ende.

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