Noch herrscht die Dunkelheit in Kiew.

Leben in Trümmern

Bomben

Als Lesha am Montag aufsteht, knallt es. Russland bombardiert Kiew. Der Krieg ist zurück in der ukrainischen Hauptstadt.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Reto Aschwanden (Übersetzung), 11.10.2022

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Wir sind okay. Zumindest für den Moment. Ich hatte ohnehin vor, zum Wochen­start eine neue Kolumne zu verfassen, aber ich hätte nicht erwartet, dass ich von Explosionen in Kiew berichten würde. Was ich ursprünglich erzählen wollte, scheint jetzt plötzlich nicht mehr wichtig.

Etwa um 7 Uhr hat mich heute ein Luft­alarm geweckt. Ich drehte mich um und schlief noch mal für eine Stunde. Als ich dann wieder wach wurde, hatte ich die Sirene schon fast vergessen. Ich ging davon aus, dass der Alarm bereits vorüber sei, in letzter Zeit dauerte der nämlich meist nicht lange.

Ich ging in die Küche, um Kaffee zu machen, und da knallte es. Ziemlich in der Nähe. Durchs Fenster sah ich Rauch aufsteigen.

Später fand ich heraus, dass die Explosion etwa einen Kilometer von uns entfernt war. Beim Frühstück hörten wir weitere Explosionen, ebenfalls ganz in der Nähe. Offensichtlich schlugen Raketen im Stadt­zentrum ein. Dann hörten wir, dass das im ganzen Land passiert: Aus praktisch allen grossen Städten kamen Meldungen von Explosionen.

Nach dem Frühstück beschloss ich rauszugehen, denn ich musste einige Dokumente ausdrucken. Während der halben Stunde, die ich unterwegs war, hörte ich drei weitere Explosionen. Meine Gefühle gingen durcheinander. Einerseits fühlte es sich vertraut an, aber ich konnte irgendwie nicht vernünftig darauf reagieren. Die Explosionen warfen mich zurück zum 24. Februar, als der Krieg losgebrochen war. Und gleichzeitig fühlte sich die Situation jetzt neu an. Die Strassen waren auch weniger voll als sonst an einem Montag.

In der Küche.
Zu sehen ist nichts, nur zu hören.
Die Herbstidylle ist trügerisch.
Impressionen von unterwegs.

Der Druck­shop hatte natürlich geschlossen, also ging ich wieder heim. Seither checke ich dauernd die Nachrichten. Es kommen Meldungen wie «Russland hat weitere 47 Raketen abgefeuert», «Russland hat 14 Kalibr-Lenk­waffen vom Schwarzen Meer aus gestartet», «Iranische Drohnen fliegen Richtung Hauptstadt».

Im Moment trifft es Ziele der kritischen Infrastruktur, nachdem die ersten Einschläge ziemlich zufällig gewirkt haben. Sie haben einen Spielplatz getroffen und die Kreuzung in der Nähe des Parks im Stadt­zentrum. Irgendwo online habe ich gelesen, dass sie die Ukraine in drei Phasen bombardieren: zuerst zufälliger Beschuss, damit die Luftabwehr all ihre Raketen verballert. Dann auf die kritische Infrastruktur. Und als Drittes schliesslich auf Militär­objekte.

Letzte Woche hat mich mein Gross­vater angerufen. Er und meine Gross­mutter sind wohlauf. Ihr Nachbar ist geflohen, um nicht in die Armee eingezogen zu werden. Bevor er aufbrach, hat er das WLAN-Passwort geändert, darum konnte sich mein Opa nicht einloggen, um mich schon früher anzurufen. Er erzählte mir, dass Tag für Tag iranische Drohnen über ihr Haus fliegen würden. Meine Gross­mutter stresst das total, denn die Dinger sind sehr laut. Sie klingen wie Gelände­motorräder. Ich gehe davon aus, dass wir diese Drohnen bald auch in Kiew hören werden.

Zurück auf der Camping­matte im Haus­eingang.

Bis jetzt – ich schreibe das am Montag­morgen – sind in Kiew nach offiziellen Angaben acht Menschen gestorben. Ich weiss nicht, wie viele es in der ganzen Ukraine sind. Der Luft­alarm hält seit bald fünf Stunden an. Ich weiss nicht, was als Nächstes geschehen wird. Agata und ich sitzen im Flur auf meiner Camping­matte. Ich schreibe für euch auf, was hier geschieht, und halte euch auf dem Laufenden, wie ich es schon in den ersten Monaten nach Kriegs­ausbruch getan habe.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

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