Oligarch umgeht Sanktionen, Männer finden, Frauen sollen länger arbeiten – und die «unendliche Weisheit» des Bundesrats
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (193).
Von Priscilla Imboden und Cinzia Venafro, 26.05.2022
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Zwar steht der EU-Beitritt im Parteiprogramm der SP. Aber lange hat die Partei lieber nicht darüber gesprochen – weil das Thema in der Schweiz tabu war. Das ändert sich gerade: In einem neuen europapolitischen Grundsatzpapier sagt die SP klipp und klar, dass der EU-Beitritt aus ihrer Sicht die beste Lösung wäre.
Zuerst wollen die Sozialdemokratinnen mit der EU aber ein befristetes Abkommen zur Stabilisierung abschliessen, so wie bereits im vergangenen Dezember vorgeschlagen. Es soll die Teilnahme der Schweiz an den EU-Kooperationsprojekten in Forschung und Bildung sowie regelmässige Kohäsionsbeiträge festlegen. In einem zweiten Schritt soll ab 2023 ein Assoziierungsabkommen ausgehandelt werden, das den Zugang zum Binnenmarkt regelt. Das wäre die Weiterführung des bisherigen bilateralen Weges.
Geht es nach der SP, sollen 2027 Beitrittsverhandlungen mit der EU aufgenommen werden. Dabei würden die Vorteile – die Mitbestimmung sowie die progressivere Aussen-, Handels- und Klimapolitik der EU – die Nachteile überwiegen, schreibt die Partei: «Die Schweiz würde dort mitbestimmen können, wo die Politik in und für Europa und damit auch für die Schweiz im 21. Jahrhundert gemacht wird und so auch mit Rechten und Pflichten zum europäischen Friedens- und Integrationsprojekt beitragen.»
Das Papier ist von einem optimistischen Geist durchweht, von der Hoffnung, dass sich die EU in eine sozialere und ökologischere Richtung bewegt. Die SP spricht aber auch die schwierigen Fragen an, die sich mit einem EU-Beitritt stellen würden: Volksentscheide, die dem EU-Recht widersprechen, könnten nicht umgesetzt werden, die Mehrwertsteuer würde verdoppelt, der Service Public dürfte unter Druck geraten, denn Strom, Post und Telekommunikation sowie Bahnverkehr sind in der EU stärker liberalisiert als in der Schweiz.
SP-Nationalrat Jon Pult, der die Arbeitsgruppe leitet, sagt zur Republik: «Wir glauben, dass eine Schweiz als Beitrittskandidatin eher Konzessionen erhält als heute.» Angesichts der Tatsache, dass der EU-Beitritt bei der aktuellen politischen Stimmung wenig Chancen hat, gibt sich Pult gelassen: «So ein Schritt braucht politischen Mut, gepaart mit pragmatischem, schrittweisem Vorgehen. Wir wollen den Weg dorthin aufzeigen.»
Die Forderung nach dem EU-Beitritt steht im Widerspruch zu verschiedenen SP-Positionen in letzter Zeit. So etwa die Unterstützung des Frontex-Referendums, bei der ihr nicht einmal die eigene Wählerschaft folgte. Oder die Tatsache, dass die SP unter dem Druck der Gewerkschaften mitverantwortlich war für das Scheitern des Rahmenabkommens mit der EU, aus Furcht vor der Schwächung des Lohnschutzes. Die SP verzeichnete nicht zuletzt deswegen verschiedene prominente Abgänge europafreundlicher SP-Politiker in Richtung GLP.
Mit dem neuen Grundsatzpapier, das am Parteitag im Herbst verabschiedet werden soll, will die SP das Thema Europa nun wieder priorisieren. Es geht auch darum, Widersprüche zu überbrücken und die eigenen Reihen zu schliessen – nicht zuletzt im Hinblick auf die Wahlen 2023.
Und damit zum Briefing aus Bern.
Russland: Oligarch hebelt Sanktionen aus, Bund macht mit
Worum es geht: Der russische Oligarch Andrei Melnitschenko gehört gemäss dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) «zum einflussreichsten Zirkel der russischen Geschäftsmänner mit engen Beziehungen zur Regierung». Mitte März wurde er von der EU und der Schweiz sanktioniert. Wie der «Tages-Anzeiger» berichtet, übertrug der Russe mit Wohnsitz in St. Moritz seine Firma Eurochem, ein Düngemittelhersteller mit Jahresumsatz von 10 Milliarden Dollar, jedoch einfach seiner Frau, die auf keiner Sanktionsliste steht. So kann die Firma mit Hauptsitz in Zug die Sanktionen umgehen. Für das Manöver erhielt Melnitschenko den Segen des Bunds. «Frau Aleksandra Melnitschenko ist die wirtschaftlich Berechtigte des Trusts», schrieb der stellvertretende Leiter des Ressorts Sanktionen des Seco am 30. März in einem Brief an eine Zürcher Anwaltskanzlei. Das Seco bestätigt damit, dass Eurochem keiner sanktionierten Person gehöre.
Warum Sie das wissen müssen: Der Fall wirft erneut ein schiefes Licht auf die Schweizer Umsetzung der Sanktionen gegen Russland. So war die Schweiz zu Beginn des Kriegs kritisiert worden, weil sie sich lange nicht klar positioniert hatte. Unter anderem hatte der zuständige Wirtschaftsminister Guy Parmelin anfänglich gar keinen formellen Antrag für Sanktionen gestellt, danach ergriff der Bundesrat zuerst nur Massnahmen, um die Umgehung der EU-Sanktionen via Schweiz zu vermeiden. Später wurde klar, dass auf der Sanktionsliste des Secos rund zwei Dutzend Personen fehlen, denen schwere Verbrechen zur Last gelegt werden. Der Zuger Finanzdirektor Heinz Tännler sagte Ende März, er sehe im Moment keinen konkreten Handlungsbedarf: «Ich muss nicht alles recherchieren und wie ein Detektiv der Sache auf den Grund gehen.» Ende April dann sagte Tännler, der Kanton habe klarstellen können, «dass Eurochem überhaupt nichts mit Russland zu tun hat».
Wie es weitergeht: Wie der «Tages-Anzeiger» schreibt, hat Eurochem dem Seco schriftlich zugesichert, «dass die Schweizer Sanktionsmassnahmen vollumfänglich eingehalten werden und insbesondere keine Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen an sanktionierte Personen zur Verfügung gestellt werden». Gemäss den Anwälten von Eurochem wird die Firma keine Dividenden an Aleksandra Melnitschenko auszahlen. Da die Schweiz selbst keine Sanktionen verhängt, muss der Bund die EU-Behörden über die neuen Besitzverhältnisse informieren. Die EU kann dann entscheiden, ob sie Aleksandra Melnitschenko auf ihre Sanktionsliste setzt. In der Schweiz kritisieren die Parteichefs der Mitte, der FDP und der SP das Seco scharf. Als Nächstes untersucht die Geschäftsprüfungskommission des Ständerats die Einführung und Durchsetzung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Anfang Mai forderte zudem die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats, der Bundesrat solle künftig von sich aus Sanktionen ergreifen können.
Gaslieferungen: Schweiz und Deutschland wollen sich gegenseitig aushelfen
Worum es geht: Die Schweiz will mit Deutschland ein Solidaritätsabkommen für die Sicherstellung der Gasversorgung im Fall einer Krise verhandeln. Das haben Energieministerin Simonetta Sommaruga und Wirtschaftsminister Guy Parmelin am Weltwirtschaftsforum WEF in Davos mit dem deutschen Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck vereinbart. Vorerst betrifft das Abkommen nur die Gasversorgung, aber auch beim Strom kündigte Sommaruga eine Zusammenarbeit mit Deutschland an. Die Schweizer Pumpspeicherkraftwerke spielen eine wichtige Rolle für die Netzstabilität in Europa. Sie könnten Engpässe in der Stromversorgung auch im Süden Deutschlands überbrücken.
Warum Sie das wissen müssen: Angesichts des Kriegs in der Ukraine ist die Versorgung mit Strom und Gas eine der zentralen Herausforderungen für die europäischen Staaten. So ist Deutschland in hohem Masse vom russischen Gas abhängig. Laut Vizekanzler Habeck ist ein Ölembargo gegen Russland «in greifbare Nähe» gerückt. Habeck arbeitet mit Hochdruck daran, unabhängiger vom russischen Gas zu werden. Neue Terminals sollen ans Netz, von denen gemäss dem geplanten Abkommen auch die Schweiz Gas beziehen könnte. Politisch ist das Vorhaben umstritten, die SVP bezeichnet das Ganze als «Heissluftballon» von Simonetta Sommaruga. Da die Schweiz das Erdgas ohnehin grösstenteils via Deutschland beziehe, sei sie abhängig von Deutschland, umgekehrt aber nicht, so SVP-Nationalrat Christian Imark.
Wie es weitergeht: Es ist unklar, bis wann das Abkommen unterzeichnet werden kann. Sommaruga kündigt an, man werde diesen «wichtigen Schritt jetzt sehr schnell in Angriff nehmen». Der Verband der Schweizerischen Gasindustrie begrüsst das Vorhaben, will aber, dass die Schweiz noch weiter geht, etwa indem sie analoge Abkommen mit Italien und Frankreich schliesst. Die grosse Knacknuss bei den Verhandlungen mit Deutschland wird die Frage sein, wer wann seinen Verbrauch wie runterfahren muss.
AHV-Reform: Frauen sollen länger arbeiten, finden Männer
Worum es geht: Seit 20 Jahren ist keine AHV-Reform mehr gelungen. Im Herbst kommt es zu einem neuen Anlauf: Die Schweizer Bevölkerung stimmt darüber ab, ob das Frauenrentenalter auf 65 erhöht werden soll. Damit soll die Finanzierung der AHV stabilisiert werden. Dagegen haben linke Parteien und Gewerkschaften das Referendum ergriffen. Nun zeigt eine neue repräsentative Umfrage des Instituts Sotomo im Auftrag des Gewerkschaftsbundes: Es könnte knapp werden. 45 Prozent der Befragten antworteten mit «Ja» oder «eher Ja» zu der Reform, 48 Prozent mit «Nein» oder «eher Nein». Deutliche Unterschiede gab es zwischen den Geschlechtern und Altersgruppen: Während Frauen die Erhöhung des Frauenrentenalters mehrheitlich ablehnen, äusserte sich eine Mehrheit der Männer in der Befragung dafür. Unter den Altersgruppen ist der Widerstand bei den 36- bis 45-Jährigen am grössten – am kleinsten hingegen bei den Befragten, die bereits pensioniert sind.
Warum Sie das wissen müssen: Die AHV-21-Reform ist eine der wichtigsten Abstimmungsvorlagen des Jahres, weil sie einen grossen Teil der Bevölkerung direkt und stark betrifft. Die AHV funktioniert nach dem Umlageprinzip: Die Renten der Pensionierten werden aus Lohnabzügen der arbeitenden Bevölkerung finanziert. Da wegen der Alterung der Gesellschaft immer weniger Arbeitnehmerinnen immer mehr Rentner finanzieren müssen, gerät das Sozialwerk zunehmend in finanzielle Schieflage. Die AHV-21-Reform ist der dritte Anlauf, die AHV vor diesem Hintergrund zu reformieren. Die letzten drei Versuche, das Rentenalter der Frauen auf 65 anzuheben, scheiterten 2004 und 2017 an der Urne und 2010 im Parlament.
Wie es weitergeht: Abgestimmt wird am 25. September. Wird die AHV-Reform wie die letzten Male abgelehnt, so wird ein neuer Vorschlag folgen. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) hat diese Woche eine Initiative lanciert, die eine alternative Geldquelle für die AHV erschliessen soll: die Nationalbankgewinne. Es ist eine Forderung, die zuvor bereits von der SVP erhoben wurde, eine Zusammenarbeit zwischen der SVP und dem SGB scheiterte aber an einer Kehrtwende der Volkspartei. Die Jungfreisinnigen gehen einen anderen Weg: Sie haben eine Initiative eingereicht, die die Erhöhung des Rentenalters für alle auf 66 Jahre verlangt. Danach soll das Rentenalter mit der Lebenserwartung ansteigen. Eine Allianz aus Gewerkschaften, Parteien und anderen Organisationen hat zudem eine Initiative für eine 13. AHV-Rente lanciert. Der Bundesrat lehnt diese ab, gestern Mittwoch hat er eine entsprechende Botschaft ans Parlament verabschiedet.
Parlament: Bundesrat hat Corona-Krise zu Beginn verschlafen
Worum es geht: Die Geschäftsprüfungskommission von National- und Ständerat (GPK) geht hart mit der Regierung ins Gericht: In einem Bericht hält sie fest, der Bundesrat habe nicht früh genug erkannt, dass es sich bei der Corona-Pandemie um eine bereichsübergreifende Krise globalen Ausmasses handle, und sie habe die Dauer unterschätzt. Gemäss GPK-Präsidentin Prisca Birrer-Heimo (SP) hätten zudem die Kompetenzen anders verteilt werden müssen. Die Taskforce sei zu stark gewesen, der Bevölkerungsschutz und der Krisenstab zu schwach. Schliesslich seien fast alle Aufgaben vom Gesundheitsdepartement übernommen worden.
Warum Sie das wissen müssen: Für seine Handhabung der Pandemie erhält der Bundesrat Lob wie auch Kritik. Zuletzt kam Ende April eine vom Bundesamt für Gesundheit in Auftrag gegebene externe Evaluation zum Schluss, Bund und Kantone hätten die Pandemie grundsätzlich gut bewältigt. Die Krisenvorbereitung habe aber teils nicht genügt und das Krisenmanagement sei vor allem zu Beginn nicht optimal gewesen. Der aktuelle Bericht befeuert die Frage neu, ob Gesundheitsminister Alain Berset während der Corona-Krise zu viel Macht hatte. Gemäss GPK-Chefin Birrer-Heimo war dies nicht der Fall.
Wie es weitergeht: Die Geschäftsprüfungskommission fordert vom Bundesrat in einer Motion, er soll die Schaffung eines sogenannten Fach-Krisenstabes prüfen. «Grundsätzlich geht es auch darum, etwa das Departementalprinzip zu durchbrechen», so Birrer-Heimo. Sprich: Man will dem Gärtchendenken im Bundesrat entgegenwirken. Zudem gibt die GPK elf Empfehlungen an den Bundesrat ab. Man müsse nun die Frage angehen, ob die Strukturen funktionieren und ob allenfalls auch die rechtlichen Grundlagen angepasst werden müssten. Und dies «vor einer grossen Krise», so Birrer-Heimo: «Wir wissen nie, wann die nächste kommt und wie sie aussehen wird.»
«Unendliche Weisheit» der Woche
Er ist gut im Austeilen – und diese Woche ist er besonders in Fahrt: Finanzminister Ueli Maurer gab am Rande des WEF in Davos dem «Tages-Anzeiger» ein bemerkenswertes Interview. Seiner Ratskollegin und Verteidigungsministerin Viola Amherd fährt er mit der Aussage an der Karren, die Mehrausgaben für die Armee würden entgegen ihren Beteuerungen nicht im ordentlichen Budget untergebracht. Denn im Budget habe «nicht alles Platz, was beschlossen wurde». Noch giftiger antwortete der SVP-Politiker auf die Frage, ob sich die Schweiz in diesem Krieg angesichts der Neutralität richtig positioniert habe: «Wir setzen das um, was der Bundesrat in seiner unendlichen Weisheit beschlossen hat.» Um anzufügen, man habe in Bezug auf die Neutralitätsfrage «einen Flurschaden angerichtet». Derweil überraschte Bundespräsident Ignazio Cassis am WEF mit der Aussage, die Schweiz verfolge eine «kooperative Neutralität». Seither fragen sich alle: Was meint er bloss damit? Das, immerhin, ist eine Frage, die man sich bei Ueli Maurer in der Regel nicht stellen muss.
Illustration: Till Lauer