Auf lange Sicht

Werden die Abos wegen «Lex Netflix» teurer?

Die Schweiz ist nicht das erste Land, das Streamingdienste zur Filmförderung verpflichten will. Ein Blick auf fünf europäische Länder zeigt, was dran ist am Lieblings­argument der Gegner des neuen Film­gesetzes.

Von Adrienne Fichter und Felix Michel, 25.04.2022

Synthetische Stimme
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Wenn Online-Streaming­plattformen mehr Abgaben zahlen müssen, wälzen sie höhere Kosten einfach auf die Kundinnen ab. Die «Lex Netflix» sei also konsumenten­feindlich. Das behaupten die Gegner des revidierten Film­gesetzes, das am 15. Mai zur Abstimmung kommt. In den Worten von Matthias Müller, Präsident der Jung­freisinnigen: «Wenn man ein Ja in die Urne wirft, dann müssen die Konsumentinnen und Konsumenten die Zeche zahlen am Schluss.»

Das Bundesamt für Kultur behauptet das Gegenteil: «Dass sich die Investitions­pflicht auf die Preise für das Streaming auswirken wird, ist unwahrscheinlich. Selbst in Ländern mit sehr hohen Ansätzen kann kein Zusammenhang zwischen Regulierung und Preisen festgestellt werden.»

Was stimmt jetzt? Hat die Pflicht zur Film­förderung tatsächlich Auswirkungen auf die Abopreise?

Wir haben uns die Verpflichtungen zur Film­förderung in Europa und die Entwicklung der Preispläne am Beispiel von Netflix angeschaut. Besonderes Augenmerk haben wir auf Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien und Spanien gelegt. Länder, in denen für ausländische Streaming­dienste Investitions­pflichten bereits umgesetzt oder geplant sind. (In manchen Ländern sind übrigens höhere Investitionen oder Abgaben an Filmförderungs­institutionen vorgesehen als die in der Schweiz geplanten 4 Prozent.)

Die EU macht seit 2018 Vorgaben

Mehr als 11 Milliarden Euro verdienten die amerikanischen Streaming­dienste 2020 an Europas TV-Zuschauerinnen. Um von diesem Kuchen etwas ins Filmschaffen rückzukoppeln, hat die EU bereits 2018 eine Richtlinie für audiovisuelle Medien­dienste eingeführt. Damit erhielten die Mitglieds­staaten eine gesetzliche Grundlage, um Steuern oder Investitions­verpflichtungen zu verlangen.

Gemäss der EU-Richtlinie sollen EU-Länder Abgaben an nationale Förder­institutionen oder Investitions­pflichten für alle Filmanbieter im In- und Ausland (Streaming­plattformen, TV-Sender) für verbindlich erklären können. Das Gesetz zielt vor allem darauf, dass sich auch die neuen Player im Geschäft an der Filmförderung beteiligen: Netflix, Amazon Prime Video, Youtube Premium und Apple TV+. Ausserdem schreibt das Gesetz vor, dass Sender und Plattformen mindestens 30 Prozent an europäischen Filmen im Programm führen müssen.

Die EU-Staaten hatten theoretisch zwei Jahre Zeit, die Richt­linie in nationale Gesetze zu übersetzen. Doch viele der nationalen Filmgesetze sind noch nicht final verabschiedet oder übernehmen die Verpflichtungen für ausländische Big-Tech-Konzerne stufenweise. Sie unterscheiden sich ausserdem stark nach Umsatz­mindestgrösse der Tech-Konzerne, Höhe der geforderten Beträge und in ihren jeweiligen Filmförder­traditionen.

Gewisse Staaten kennen schon seit längerem eine Investitions­pflicht, aber oftmals waren nur inländische Akteure davon betroffen. Einige EU-Länder haben diese nun auf ausländische Konzerne ausgeweitet, aber längst nicht alle.

Wo Streamingdienste investieren müssen

Verpflichtung zur Filmförderung von Online-Streamingdiensten

Verpflichtungen zur Filmförderung
Keine
Nur für einheimische Streamingdienste
Für alle Streamingdienste
Keine Angaben

Quelle: Studie der Vrije Universiteit Brussel. Geometrische Grundlage: Eurostat 2020. Wenn Sie den Cursor über die Karte bewegen, erhalten Sie die Angaben zu den einzelnen Ländern.

Die Grafik zeigt: Die Filmförderung in Europa ist trotz der neuen Richtlinie nicht einheitlich.

Frankreich verlangt beispiels­weise relativ viele Abgaben. Die Grande Nation gilt dabei als Pionierin, wenn es um Investitions­pflichten für die ausländischen Filmanbieter geht. Plattformen werden hier seit 2018 zur Kasse gebeten. Dabei gilt seit 2020 eine Pflicht zur Abgabe von 5,15 Prozent zugunsten von französischen Filmen. Seit dem 1. Juli 2021 müssen Netflix und Co. 20 bis 25 Prozent ihres Umsatzes in das französische Film­schaffen stecken. Dies entspricht circa 250 bis 300 Millionen Euro.

Auch in Italien müssen ausländische Anbieter ins inländische Filmschaffen investieren. Unser südliches Nachbarland sieht für Online-Plattformen seit 2018 eine Investitions­pflicht vor. Festgeschrieben ist das in einem Gesetz unter dem Titel Testo unico dei servizi di media audiovisivi e radiofonici. Netflix zahlt jährlich 12,5 Prozent des Umsatzes, ab diesem Jahr sollen es sogar 17 Prozent sein, und der Anteil soll sukzessive erhöht werden auf bis zu 20 Prozent im Jahr 2024.

In Deutschland verlangen der Medienstaats­vertrag und das Filmförderungs­gesetz seit 2014 eine Abgabe für die Plattformen (wogegen Netflix klagte, aber dann unterlag vor Gericht). Sie beträgt bis zu 2,5 Prozent. Das ist den deutschen Produzenten­verbänden zu wenig. Sie fordern analog zu Frankreich eine Pflicht zur Investition von 25 Prozent des Umsatzes in das Filmschaffen. Das Filmförderungs­gesetz wurde 2022 erneuert.

Belgien sieht dasselbe Modell vor wie die Schweiz, sowohl für den flämischen wie auch für den französisch­sprachigen Teil. Ab einer bestimmten Höhe des Umsatzes besteht eine Finanzierungs­pflicht im Umfang von 2,2 Prozent: entweder für die Film­institutionen oder für eigene Produktionen. Die Verordnung wurde im April 2021 verabschiedet.

Spaniens Filmgesetz galt bisher nur für inländische Sender und Online-Plattformen. Vorgesehen sind ebenfalls 5 Prozent des erzielten Umsatzes für ausländische Dienste wie Netflix. Das Gesetz liegt zwar im finalen Stadium vor, wurde jedoch noch nicht verabschiedet.

Apropos Spanien: Der Schweizer Kultur­minister Alain Berset hat sich in der SRF-«Arena» selber ein Ei gelegt: Er nannte die Erfolgsserie «Haus des Geldes» von Netflix als Beleg dafür, dass europäische Serien durchaus erfolgreich sein können, wenn ein Streaming­anbieter nur genügend investiert. Bloss: Diese Produktion kam ohne gesetzliche Verpflichtungen zustande. Spaniens Filmregeln für ausländische Streaming­dienste sind erst in Ausarbeitung. Einen Zusammen­hang zwischen Erfolgs­produktion und Filmgesetz gibt es hier nicht.

So haben sich die Netflix-Abopreise entwickelt

Die europäische Filmförderung ist ein Flicken­teppich. Die Erwartung, dass sich diese Unterschiede auch auf die Netflix-Abopreise auswirken, ist naheliegend. In Frankreich etwa sind die Preise für die beiden Netflix-Abos Standard und Premium in der beobachteten Zeitspanne von zwei Jahren angestiegen.

Preiserhöhungen gab es aber auch in Ländern wie Spanien oder der Schweiz, in denen noch keine Investitions­pflichten für ausländische Streaming­dienste gelten. Der Blick auf die Netflix-Abopreise der untersuchten Länder zeigt: Die Abopreise sind überall gestiegen – unabhängig von Investitions­verpflichtungen.

Abopreise steigen überall

Preisentwicklung unterschiedlicher Netflix-Abotypen

Basic
Standard
Premium
FrankreichAchse gekürztAug 2019Dez 20218812131618525 EuroItalienAchse gekürztAug 2019Dez 20218812131618525 EuroDeutschlandAchse gekürztAug 2019Dez 20218812131618525 EuroBelgienAchse gekürztAug 2019Dez 20218811131418525 EuroSpanienAchse gekürztAug 2019Dez 20211618121388525 EuroSchweizAchse gekürztAug 2019Dez 2021121217192124525 Euro

Quelle: Comparitech, Umrechnung von CHF in EUR zu einem Kurs von 0.98.

Mit der Preissteigerung in den sechs Ländern ist auch die Bibliotheks­grösse, also das Angebot, gewachsen. Dies heisst, dass Netflix-Nutzerinnen in den meisten untersuchten Ländern für einen einzelnen Titel der Bibliothek, also einen Film oder eine Serie, weniger bezahlen als noch vor zwei Jahren. Nur in Belgien sind die Preise pro Titel etwa gleich geblieben. In den anderen untersuchten Ländern wuchs das Angebot stärker als der Abopreis.

Die Schweiz, so hält das Konsumenten­schutz­portal Comparitech.com in einem Vergleich fest, gehört zu den Staaten mit dem schlechtesten Preis-Leistungs-Verhältnis bei Netflix.

Der Preis pro Titel sinkt beinahe überall

Veränderung der Bibliotheks­grösse, Preise und Preise pro Titel von 2019 bis 2021

LandBibliothekPreisPreis pro Titel
Belgien+21,1 %+22,7 %+1,4 %
Deutschland+41,9 %+8,3 %−23,6 %
Frankreich+36,9 %+12,5 %−17,8 %
Italien+47,0 %+8,3 %−26,3 %
Schweiz+19,9 %+11,8 %−6,7 %
Spanien+48,5 %+8,3 %−27,0 %

Quelle: Comparitech.

Ob die grössere Bibliothek der Grund für die Preis­erhöhung ist, weiss nur Netflix selbst. Das Unternehmen ist eine Dunkel­kammer. Auch auf mehrfache Anfrage hat der Streaming­anbieter keine Daten zur Preis­politik geliefert.

Eine spekulative Debatte

Im Parlament sorgte die vorgeschlagene Abgabe in Höhe von 4 Prozent für aufgeladene Diskussionen und skurrile Zitate. Eine Minderheit, vertreten durch den SVP-Nationalrat Peter Keller, verglich die Investitionen mit Katzen­futter: «Wenn man der Katze jeden Tag ein Whiskas hinstellt, geht sie nicht mehr jagen. Staats­knete macht träge.» Die Minderheit rund um Keller schlug daher nur ein «halbes Whiskas» für die Filmbranche vor: 2 Prozent statt der vorgesehenen 4 Prozent. Doch dieser Antrag wurde abgeschmettert. Im europäischen Vergleich wäre die Schweiz mit den 4 Prozent mittig positioniert.

Unsere Analyse zeigt: Es ist zu früh, Schluss­folgerungen über die Auswirkung der «Lex Netflix» auf die Preise zu ziehen. Viele nationale Filmgesetze, die die EU-Richt­linie umsetzen, sind erst seit 2021 in Kraft. «Das revidierte Filmgesetz wird Netflix für Schweizerinnen teurer machen»: Diese Aussage lässt sich weder widerlegen noch bestätigen. Sie bleibt Spekulation.

Netflix selbst zeigt sich intransparent, was die Preis­festsetzung pro Land angeht. Der Konzern erklärt auf Anfrage sogar, keine Listen über die Abopreis­modelle der einzelnen Länder zu führen, was weder glaubwürdig noch nachvollziehbar ist.

Dafür äusserte er sich unaufgefordert zum Referendum: «Wir haben höchsten Respekt vor der demokratischen Entscheidungs­findung des Schweizer Volkes und werden das Ergebnis des Referendums abwarten. Wir waren an der Vorbereitung und Einreichung dieses Referendums­antrags nicht beteiligt.»

In einer früheren Version haben wir vom Bundesamt für Kommunikation geschrieben, richtig ist Bundesamt für Kultur. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

Über die Daten

Die Daten zu den Abopreisen und der Bibliotheks­grösse von Netflix haben wir von Comparitech erhalten, einer Art Konsumenten­schutz-Newsportal zu Technologien.

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