Die Sache mit der Freiheit
Nach dem Zerfall der Sowjetunion entwickelten sich die Staaten zu Demokratien. Ist das wirklich so? Ein historischer Blick auf die Freiheit in Russland, Polen und der Ukraine.
Von Felix Michel und Thomas Preusse, 28.03.2022
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1989 stellte ein sowjetischer Pressesprecher westlichen Journalistinnen eine Frage: «Kennen Sie das Lied ‹I Did It My Way› von Frank Sinatra?»
Damit spielte er auf eine Zeitenwende an: Sinatras Song handelt von Selbstbestimmung. Und genau diese hatten Staaten des Warschauer Pakts wie Polen im Zuge der politischen Umwälzungen in Osteuropa 1989 bekommen. Sie erhielten damit auch die Freiheit, ihren eigenen Weg zu gehen und ihr Land zu reformieren. Sie mussten sich nicht mehr davor fürchten, dass die Sowjetunion ihnen diese Freiheit wieder rauben würde.
Doch was heisst das genau: Freiheit? Und wie misst man einen so abstrakten Begriff eigentlich?
Die Non-Profit-Organisation Freedom House bewertet seit 1972 die Freiheit in fast allen Ländern der Welt. Die Grundannahme: In einer demokratischen Gesellschaft haben die Menschen die grösste politische und individuelle Freiheit. Dafür stellen Experten für jedes Land beispielsweise solche Fragen:
Wurde die aktuelle Regierungschefin durch freie und faire Wahlen gewählt?
Sind Massnahmen gegen Korruption wirksam?
Gibt es eine unabhängige Justiz?
Gibt es Versammlungsfreiheit?
Die Bewertung dieser Fragen bietet die Grundlage für einen Freiheitsindex, der von 1 (komplett frei) bis 7 (komplett unfrei) reicht. Dieser Index ist ohne Kontext recht trocken. Wenn wir ihn aber in die historischen Begebenheiten einbetten, verstehen wir ihn besser – und können nachzeichnen, wie sich die Freiheit in osteuropäischen Ländern entwickelt hat.
Ich will es genau wissen: Wie funktioniert der Freiheitsindex?
Die Methodik für diesen Index wurde ursprünglich von Raymond Gastil, einem amerikanischen Sozialwissenschaftler, entwickelt. Im Laufe der Zeit wurden einige Aktualisierungen vorgenommen, um auf die «wandelnden Ideen von Freiheit und politischen Rechten» zu reagieren. Vor allem wurde die Organisation professioneller und breiter abgestützt sowie ihre Studien besser reproduzierbar.
Seit 2013 ist die Bewertung auf einer Skala von 1 (komplett unfrei) bis 100 (komplett frei) verfügbar. Für den Langzeitvergleich seit 1972 muss man allerdings auf die beiden Bewertungen «Political Rights» und «Civil Liberties» auf einer Skala von 1 (grösste Freiheit) bis 7 (geringste Freiheit) zurückgreifen. Der Durchschnittswert dieser zwei Bewertungen ergibt das «Freedom Rating». Dieser Index hat drei Bereiche: frei (1 bis und mit 2,5), teilweise frei (3 bis 5,5) und unfrei (5,5 bis 7).
Es gibt auch Kritik an den «Freedom in the World»-Berichten, und eine fundierte Studie konnte 2001 gewisse Verzerrungen in den untersuchten Daten bis 2000 feststellen. Die Studie stellt aber auch fest, dass sich der Freiheitsindex zu mindestens 80 Prozent mit anderen Demokratie-Indizes deckt. Auch der «Liberal Democracy Index» der Universität Göteborg stellt ähnliche Trends fest.
Schauen wir uns zuerst ein Land an, das in den 1980er-Jahren beim Versuch, Reformen zu beschliessen, noch von der Sowjetunion gestoppt wurde.
Polen
Bereits vor dem Auseinanderbrechen des Ostblocks driften Polen und die Sowjetunion auseinander. Im Jahr 1980 etabliert sich in Polen die unabhängige Gewerkschaft Solidarność und gewinnt an Einfluss – eine demokratische Entwicklung, die sich gemäss Freedom House positiv auf die Freiheit auswirkte. Entsprechend erreicht Polen in dieser Zeit einen Freiheitsindex von 5 und wird damit als «teilweise frei» eingestuft.
Ein Jahr später ändert sich das bereits wieder. Auf Druck aus der Sowjetunion, noch unter der Führung von Generalsekretär Leonid Breschnew, wird das Kriegsrecht verhängt. Die Solidarność wird verboten, und Tausende Polen werden eingesperrt. Der Freiheitsindex springt zurück auf einen Wert von 6, in den Bereich der Unfreiheit.
Erst nachdem Michail Gorbatschow 1985 Generalsekretär der Sowjetunion wird und verspricht, sich nicht mehr einzumischen, werden Reformen in Polen möglich. Die Sowjetunion selbst wird in diesen Jahren freier, Gorbatschow verkündet: «Wir wollen Offenheit in allen öffentlichen Angelegenheiten und in allen Bereichen des Lebens.» Von Freedom House erhält die Sowjetunion 1990 deshalb das Prädikat «teilweise frei».
In Polen folgt 1990 der Durchbruch zur Bewertung «frei». Lech Wałęsa entscheidet die Präsidentschaftswahl für sich. Er war Mitbegründer von Solidarność und wurde 1981 noch ins Gefängnis gesteckt.
2004 tritt Polen schliesslich der Europäischen Union bei. Die Mitgliedschaft ist an Bedingungen geknüpft: Polen muss garantieren, dass die Institutionen stabil sind, Menschenrechte geachtet und Minderheiten geschützt werden. Das hat sofort Folgen für den Freiheitsindex: Er sinkt auf den tiefsten Wert von 1. Polen erhält damit erstmals die Bestnote.
Ein Jahrzehnt später folgt ein Dämpfer. Bei den Wahlen von 2015 wird die rechtspopulistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die stärkste Kraft; es entbrennt ein Machtkampf um das Verfassungsgericht. Freedom House urteilt darauf in ihrem Bericht, die Partei versuche durch hastig ausgearbeitete Gesetze den Einfluss der Regierung auf die Medien, die Justiz, den öffentlichen Dienst und das Bildungssystem des Landes auszuweiten.
Die Untergrabung des Rechtsstaats hinterlässt ab 2016 ihre Spuren im Freiheitsindex. Der Wert steigt schrittweise auf 2, Polen ist damit nur noch knapp im freien Bereich. Auch die EU mischt sich ein. 2021 verurteilt der Europäische Gerichtshof Polen zu einer Strafe von einer Million Euro pro Tag, als Reaktion auf eine Justizreform, die im Widerspruch zu EU-Regeln steht und den Rechtsstaat aushöhlt.
Ukraine
Wenn Polen ein Land ist, das sich nach dem Zerfall der Sowjetunion mehr und mehr westeuropäischen Freiheitsstandards genähert hat, dann steht die Ukraine für einen Staat, der in diesem Prozess irgendwo in der Mitte stecken geblieben ist.
Die Ukraine ist 1922 eines der Gründungsmitglieder der Sowjetunion und damit im Gegensatz zu Polen bereits vor dem Zweiten Weltkrieg kommunistisch. Sieben Jahrzehnte später, im August 1991, erklärt sich die Ukraine für unabhängig. Im Dezember bestätigt dies das Volk mit grosser Mehrheit an der Urne. Es wählt den ersten unabhängigen Präsidenten des Landes: Leonid Krawtschuk.
Die Wahl wird 1991 von Russland anerkannt, wo Boris Jelzin einige Monate zuvor vom russischen Volk zum Präsidenten gewählt worden war, und gilt als Gnadenstoss für Michail Gorbatschows damalige Bemühungen, die Sowjetunion zusammenzuhalten. So erklären Russland, die Ukraine und Belarus nur wenige Tage danach die Sowjetunion für Geschichte.
In der Ukraine kommt es bereits bei der zweiten Präsidentschaftswahl zum ersten friedlichen Machtwechsel: 1994 übernimmt Leonid Kutschma.
Freedom House bemängelt bald darauf, dass sich Parlament und Regierung gegenseitig blockieren und dass mächtige Oligarchen – Grossunternehmer, die oft enge Bande zur Regierung pflegen – unangemessen starken Einfluss auf die Politik und öffentliche Institutionen ausüben. Wie Kutschma tickt, zeigt sich im Jahr 2000: Es tauchen Tonbandaufnahmen auf, in denen er die Liquidierung eines regierungskritischen Journalisten fordert.
Als anlässlich der Präsidentschaftswahlen von 2004 Unregelmässigkeiten auftauchen – die von der Wahlkommission verkündeten Ergebnisse unterscheiden sich deutlich von den Nachwahlbefragungen –, kommt es in Kiew und weiteren Städten zu Demonstrationen. Auch Beobachterinnen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gehen von Wahlbetrug aus. Die anhaltenden und friedlichen Massenproteste werden zur «Orangen Revolution» und erzwingen eine Wiederholung der Wahl. Der eher prowestliche Oppositionsführer Wiktor Juschtschenko setzt sich dabei gegen den eher prorussischen Wiktor Janukowitsch durch.
Der Regierungswechsel wirkt sich positiv auf die Freiheit aus. Bereits 2005 erreicht die Ukraine im Index von Freedom House einen Wert von 2,5 und damit den Status «frei». Doch die Stabilität ist von kurzer Dauer. Janukowitsch schafft 2006 das Comeback als Ministerpräsident. Er rückt teilweise von seiner prorussischen Aussenpolitik ab und gewinnt 2010 die Präsidentschaftswahlen.
Unter Janukowitsch klettern die Werte wieder Richtung unfrei. Freedom House kritisiert, dass der neue Präsident die Regeln des ukrainischen politischen Systems schnell neu definiere und dass die Macht zugunsten des Präsidenten umverteilt werde. Die Ukraine wird deshalb 2010 zurückgestuft: Sie gilt neu wieder nur als «teilweise frei».
Diesen Status hat die Ukraine nach wie vor. Denn das Land findet keine Ruhe: Im November 2013 kommt es auf dem Maidan in Kiew erneut zu Protesten, da Janukowitschs Regierung auf Druck von Moskau ein Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen will. Im Februar 2014 eskalieren die Proteste: Es kommt zu Gewaltausbrüchen und Schiessereien, über 100 Menschen sterben. Janukowitsch flüchtet daraufhin nach Russland und wird vom Parlament abgesetzt.
Kurz darauf beginnen auch die Ereignisse, die den Bogen bis zur Gegenwart spannen: Im März 2014 annektiert Russland die Halbinsel Krim, im April 2014 beginnt in der Ostukraine ein Krieg. Seither wurden zwei weitere Präsidenten gewählt: Erst Petro Poroschenko im Mai 2014, dann Wolodimir Selenski im März 2019. Unter beiden pendelt der Freiheitsindex zwischen 3 und 3,5. Im Februar 2022 beginnt die russische Armee einen Angriffskrieg gegen die ganze Ukraine.
Russland
Es liegt nicht nur an dieser Invasion, dass Russland zunehmend mit Unfreiheit in Verbindung gebracht wird. Denn die Freiheit leidet in Russland schon seit längerer Zeit. Das lässt sich anhand von vier Ereignissen nachverfolgen.
Das erste Ereignis datiert aus den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. 1991 wird Boris Jelzin Präsident – Russland bekommt von Freedom House die Bewertung «teilweise frei». Doch es folgen turbulente Zeiten mit einem unrühmlichen Höhepunkt: 1993 löst Jelzin verfassungswidrig das Parlament auf und lässt Panzer aufs Parlamentsgebäude feuern.
Das zweite Ereignis folgt zur Jahrtausendwende. Als Boris Jelzin Ende 1999 vorzeitig seinen Rücktritt erklärt, übergibt er das Amt an seinen Wunschnachfolger: Ministerpräsident Wladimir Putin. Dieser hat sich kurz zuvor mit dem Einmarsch in Tschetschenien als starker Mann profiliert. In vorgezogenen Wahlen wird er 2000 zum Präsidenten gewählt. In der Folge schnellt der Freiheitsindex in die Höhe: Die Präsidentschaftswahl sei nicht sauber verlaufen, hält Freedom House damals fest. Zudem sei Putin bestrebt, die Autorität der Zentralregierung zu festigen.
Die dritte Stufe auf der Treppe zur Unfreiheit ist bald erklommen. Putin eliminiert oppositionelle Parteien und ihre Geldgeber. Er schafft die Wiederwahl 2004 quasi konkurrenzlos, konzentriert die Macht auf sich und missbraucht sie. Symbolisch dafür steht das Schicksal von Michail Chodorkowski. Der reiche Ölunternehmer kritisiert Putins System öffentlich und landet im Gefängnis.
Mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 erreicht Russland schliesslich Freiheitsbewertungen wie zu Zeiten der Sowjetunion. Inzwischen drohen Bürgerinnen selbst für friedliche Proteste Strafen von bis zu 15 Jahren Haft. Der Kreml weitet die Medienkontrolle aus. Freedom House stellt «ein dramatisch erhöhtes Mass an Propaganda im staatlich kontrollierten Fernsehen» fest.
Der Freiheitsindex dokumentiert, wie Russland in den drei Jahrzehnten seit dem Ende der Sowjetunion Schritt für Schritt autokratischer geworden ist. Putin habe eine «kleptokratische Günstlingswirtschaft etabliert, welche die demokratischen Institutionen vereinnahmt und pervertiert hat», hält Freedom House 2021 fest. Die jüngst ergriffenen Massnahmen zur Repression sind noch nicht berücksichtigt.
Die Invasion der Ukraine hat den Weg aus der Unfreiheit weiter verbarrikadiert. Seither ist unabhängiger Journalismus blockiert und verbannt. Das Fernsehen ist bereits seit langem gleichgeschaltet. Facebook und Twitter sind gesperrt. Und das Netz aus staatlich verbreiteten Lügen ist inzwischen so dicht, dass viele Russen selbst ihren eigenen Familienangehörigen in der Ukraine nicht glauben können oder wollen, dass Russland gegen die Ukraine Krieg führt.