Selenski auf dem Bundesplatz, Comeback der Velovignette – und im Parlament gibts IT-Stress
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (184).
Von Dennis Bühler, Priscilla Imboden und Cinzia Venafro, 24.03.2022
«Lieber Wolodimir, wir sind beeindruckt», sagte Bundespräsident Ignazio Cassis vergangenen Samstag in Bern. Wie einen guten Freund sprach er den ukrainischen Präsidenten an, der zugeschaltet auf einer Grossleinwand über dem Bundesplatz schwebte. Cassis zeigte sich beeindruckt von der Entschlossenheit, mit der sich die Ukraine wehrt. «Und vor allem, lieber Wolodimir, sind wir beeindruckt, wie ihr Grundwerte der freien Welt verteidigt.» Selenski, wie mittlerweile gewohnt im militärgrünen T-Shirt, hörte in Kiew Cassis’ Worte: «Du sollst spüren, dass wir mitfühlen, auch wenn wir das ganze Leid und den ganzen Schrecken nicht ermessen können, den dein Land jetzt trifft.»
Cassis sprach vielleicht zu viel, vielleicht zu oberflächlich, vielleicht zu trivial angesichts der Kriegsverbrechen in der Ukraine. Und doch: Die Worte des freisinnigen Bundesrates wirkten echt, nicht aufgesetzt. Auch wenn sein via Twitter an Selenski gerichtetes «take care, my friend» später für Kontroversen sorgte.
Wo sonst Berner Marktfahrerinnen ihre Ware feilbieten, war der Krieg an diesem Samstagnachmittag spürbar – und durch Selenskis Anrede («Lieber Ignazio») rückte er noch einmal näher. «Die Schweizer sollen wie die Ukrainer gegen das Böse kämpfen», sagte der ukrainische Präsident. Er dankte der Schweiz, ganz diplomatisch, für die Übernahme der Sanktionen, das Einfrieren russischer Gelder und Konten – und er prangerte dann, ganz undiplomatisch, das Unternehmen Nestlé an, das seinen Hauptsitz in der Schweiz hat und Russland nicht verlassen wolle. «Geschäfte in Russland funktionieren, obwohl unsere Kinder sterben und unsere Städte zerstört werden.»
Danach empörte sich die SVP, Cassis habe «sich vorführen lassen wie ein Schuljunge», er habe sich mit einer Kriegspartei verbrüdert. Diplomatie, die etwas bewegen soll, finde nicht «öffentlich auf dem Bundesplatz statt», sagte Parteipräsident Marco Chiesa.
Im Bundeshaus wiederum hatte der Krieg diese Woche noch ganz andere innenpolitische Auswirkungen: Justizministerin Karin Keller-Sutter setzte erstmals einen Sonderstab Asyl ein, Finanzminister Ueli Maurer verhandelt mit Katar über Gaslieferungen – und nach dem Ständerat will jetzt auch die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates das Armeebudget erhöhen.
Cassis wiederum machte sich nach seinem Auftritt auf dem Bundesplatz an die ukrainisch-polnische Grenze auf. Dort wurde der Bundespräsident von seinen Emotionen übermannt: Die Tränen des Tessiners sorgten für einen denkwürdigen Augenblick in der Geschichte der Schweizer Aussenpolitik.
Und damit zum Briefing aus Bern.
Strategielos und unprofessionell: Die IT des Parlaments war angreifbar
Worum es geht: Das digitale System, das Parlamentsmitglieder nutzen, um Vorstösse einzureichen oder Protokolle einzusehen, ist nicht ausreichend gesichert. Das stellt die eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) in einem neu publizierten Bericht fest. Die Finanzkontrolle untersuchte die beiden IT-Projekte Curiaplus und Cervin der Parlamentsdienste und stellte «wesentliche Probleme und Risiken» fest – «insbesondere in der Informationssicherheit». Beide Projekte seien strategielos und unprofessionell durchgeführt worden, Warnungen von Mitarbeitenden seien missachtet worden. Das parlamentarische Informatiksystem weise Sicherheitslücken auf, und es sei nicht feststellbar, ob diese von Hackern genutzt wurden.
Warum Sie das wissen müssen: Um die parlamentarische Arbeit effizienter zu machen, treiben die Parlamentsdienste seit 2018 die Digitalisierung des Ratsbetriebes voran. Das System muss aber gegen unzulässige Eingriffe gesichert sein, denn die Arbeit der Kommissionen beispielsweise ist vertraulich. Falls sich jemand Zugang zu ihren Protokollen oder Berichten verschaffen könnte, wäre das problematisch. Ebenso schädlich wäre es, wenn jemand das Profil eines Parlamentsmitgliedes hacken und sich mit dieser Identität im System bewegen könnte.
Wie es weitergeht: Die Parlamentsdienste, die die IT-Projekte verantworten, schreiben in einer Stellungnahme, beim Bericht der Finanzkontrolle handle es sich um eine «Momentaufnahme». Viele der aufgeführten Probleme seien erkannt. Inzwischen seien externe Expertinnen engagiert worden, um die Organisation der digitalen Transformation zu begleiten und die Qualität des Projektes zu überwachen. Curiaplus solle wie geplant im Jahr 2023 vollständig eingeführt werden. Die Finanzkontrolle stellt indes die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, das Projekt zu sistieren.
Comeback der Vignette? Bürgerliche wollen Velofahrer zur Kasse bitten
Worum es geht: Wer in die Pedale tritt, soll «die Infrastruktur für den Veloverkehr» möglichst selbst finanzieren. Das fordert SVP-Nationalrat Benjamin Giezendanner, Sohn von Fuhrhalter und Alt-Nationalrat Ulrich Giezendanner. Unterstützt wird seine Motion von einer bürgerlichen Allianz aus Mitgliedern der SVP, der FDP und der Mitte. Ihnen schwebt eine Velovignette vor, die 20 Franken pro Gefährt und Jahr kosten soll.
Warum Sie das wissen müssen: Gemäss Berechnungen der «SonntagsZeitung» würden Velobesitzer mit der Vignette jährlich rund 110 Millionen Franken bezahlen, hinzu kämen die Abgaben von E-Bike-Fahrerinnen und Velo-Sharing-Unternehmen. Damit würden sie eine Verkehrsabgabe leisten, um den Anfang März vom Parlament beschlossenen Ausbau des Radwegnetzes mitzufinanzieren. Gemäss Bundesamt für Statistik kostete Velofahren mit Unterhalt der Velowege, Unfall- und Anschaffungskosten 2015 insgesamt 5,6 Milliarden Franken, zehn Prozent davon trug die öffentliche Hand. 2012 schaffte der Bundesrat die alte Velovignette ab. Diese finanzierte jedoch nicht die Veloinfrastruktur, sondern war eine Art Haftpflichtversicherung für die Fahrerin.
Wie es weitergeht: SP-Nationalrat und Pro-Velo-Präsident Matthias Aebischer kündigte an, die Vorlage bekämpfen zu wollen. «Vom Ausbau der Velowege profitieren nicht nur die Radfahrer, sondern alle», sagte er der «SonntagsZeitung». Als Nächstes nimmt der Bundesrat Stellung zu Giezendanners Idee.
Bundesrat ist gegen Initiative von Impfgegnern
Worum es geht: Der Bundesrat empfiehlt, die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» ohne Gegenvorschlag abzulehnen. Die Initiative verlangt, dass das Grundrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit vom Staat nur eingeschränkt werden darf, wenn die betroffene Person zustimmt. Die Unterschriftensammlung hatte im Dezember 2020 begonnen, auf dem Höhepunkt der zweiten Covid-Infektionswelle. Die Initiative wurde schon nach neun Monaten eingereicht.
Warum Sie das wissen müssen: Hinter der Initiative steht die Freiheitliche Bewegung Schweiz, die vom ehemaligen Sekretär der SVP Luzern gegründet wurde, nachdem er aus der Partei ausgeschlossen worden war. Dem Komitee gehören unter anderem die SVP-Nationalrätin Yvette Estermann, der Komiker Marco Rima, der Impfgegner Daniel Trappitsch sowie Marion Russek von den sogenannten «Freunden der Verfassung» an. Der Bundesrat weist darauf hin, dass der Initiativtext thematisch weit über das Impfen hinausgehe, und warnt vor Rechtsunsicherheit in zahlreichen anderen Bereichen; dazu gehöre beispielsweise die Unterbringung von Asylsuchenden, die Pflege von urteilsunfähigen Personen sowie der Kindes- und Erwachsenenschutz. Zudem betont die Regierung, dass schon heute niemand zu einer Impfung gezwungen werden könne. In dem von der Stimmbevölkerung gutgeheissenen Epidemiengesetz sei einzig geregelt, dass etwa Gesundheitsfachpersonen allenfalls zum Wechsel in eine andere Abteilung des Spitals aufgefordert werden können, wenn sie sich nicht impfen lassen.
Wie es weitergeht: Bevor der National- und der Ständerat über die Initiative debattieren, muss das Innendepartement bis Ende Jahr eine Botschaft ausarbeiten.
Legalisierung der Eizellenspende nimmt erste Hürde
Worum es geht: Der Nationalrat will die Eizellenspende für Ehepaare ermöglichen. An der letzte Woche zu Ende gegangenen Frühjahrssession hat er einer entsprechenden Motion seiner Wirtschaftskommission zugestimmt. Mit 107 zu 57 Stimmen bei 16 Enthaltungen will er die Eizellenspende legalisieren, falls der Grund der Unfruchtbarkeit bei der Frau liegt.
Warum Sie das wissen müssen: Die Schweiz und Deutschland sind die einzigen Länder in Westeuropa, in denen die Eizellenspende gänzlich verboten ist. Als Folge fahren Schweizer Paare ins Ausland, um sich den Kinderwunsch zu erfüllen. 2019 waren es laut dem Bundesamt für Statistik 430 Paare oder Personen, wobei die Dunkelziffer um einiges höher liegen dürfte. Angeführt von GLP-Nationalrätin Katja Christ, machen die Befürworter einer Legalisierung geltend, es sei nicht nachvollziehbar, warum die Samenspende erlaubt sei und die Eizellenspende nicht. Darum will die Wirtschaftskommission den «Exotenstatus» der Schweiz beenden. Auch die Mehrheit der Nationalen Ethikkommission (NEK) ist der Ansicht, dass das Verbot fragwürdig sei.
Wie es weitergeht: Der Bundesrat ist bisher skeptisch und beantragt die Ablehnung der Motion. Als Nächstes geht das Geschäft in den Ständerat. Sagt auch dieser Ja, muss der Bundesrat die gesetzlichen Grundlagen schaffen. Werden diese durchs Parlament bestätigt, dürfte ein Referendum so gut wie sicher sein.
Boykott der Woche
«Thomas Aeschi hat eine dreckige Phantasie», twitterte Satiriker Mike Müller. Was war geschehen? Der SVP-Fraktionschef hatte am Rednerpult des Nationalratssaals gesagt: «Es darf nicht sein, dass Nigerianer oder Iraker mit ukrainischen Pässen plötzlich 18-jährige Ukrainerinnen vergewaltigen!» In der «Arena» des Schweizer Fernsehens hielt Moderator Sandro Brotz gegenüber Gast Aeschi am vergangenen Freitag fest, seine Aussage sei laut befragten Strafrechtsexperten, Staatsanwältinnen und der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus «glasklar rassistisch» gewesen. Aeschi reagierte mit der Behauptung, diese Kommission sei sehr links – obgleich ihre Mitglieder vom Bundesrat gewählt werden, in dem SVP und FDP bekanntlich über eine Mehrheit verfügen. Am Dienstag kündigte die SVP einen «Arena»-Boykott an: In einem offenen Brief teilte sie mit, sie verzichte wegen Brotz’ «grober Entgleisung» bis auf Weiteres auf die Teilnahme, und forderte die SRG-Leitung zu einer Aussprache auf. Damit ist der Ukrainekrieg schon jetzt zum Abstimmungs- und Wahlkampfthema verkommen. Die inszenierte Kontroverse um die «Arena» hilft der Halbierungsinitiative, mit der die SVP die Fernseh- und Radiogebühren auf 200 Franken begrenzen und im Herbst 2023 bei den Wählerinnen punkten will. Und sie hilft der SVP generell, weil sie damit seit Tagen im Gespräch ist. Die Prognose sei gewagt: Aeschis «dreckige Phantasie» wird noch öfters für Ärger sorgen.
Illustration: Till Lauer