Briefing aus Bern

Der Bundesrat beendet die Pandemie, die SVP geht auf die SRG los – und eine Kämpferin mag nicht mehr

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (179).

Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler, Priscilla Imboden und Cinzia Venafro, 17.02.2022

Vor lauter Nachrichten den Überblick verloren? Jeden Donnerstag fassen wir für Sie das Wichtigste aus Parlament, Regierung und Verwaltung zusammen.

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Die Spatzen pfiffen es von den Dächern – jetzt ist es fix: Der Bundesrat hat gestern die Turbo-Öffnung beschlossen. «La lumière à l’horizon est bel et bien là à l’horizon» – «das Licht am Horizont ist sehr wohl sichtbar», freute sich Bundespräsident Ignazio Cassis. Das umstrittene Wort vom «Freudentag» nahm er allerdings nicht mehr in den Mund. Lieber blickte er zurück: Am 16. März 2020 erklärte der Bundesrat die ausser­ordentliche Lage. Exakt 23 Monate später nimmt er nun fast alle Massnahmen gegen die Pandemie zurück. Allerdings sprach der Bundes­präsident der Bevölkerung auch ins Gewissen: «Wir gewinnen ein Stück Freiheit zurück. Aber Freiheit bedeutet auch Verantwortung.» Nach wie vor gebe es Menschen, die geschützt werden müssten.

Die konkreten Beschlüsse

  • Ade Maske drinnen und Zertifikat für Restaurant, Kino und Sport: Ab heute Donnerstag sind Läden, Restaurants, Kultur­betriebe und öffentliche Einrichtungen und Veranstaltungen wieder ohne Maske und Zertifikat zugänglich.

  • Schluss mit Pyjama am Homeoffice-Pult: Aufgehoben sind auch die Masken­pflicht am Arbeits­platz und die Homeoffice-Empfehlung.

  • Hallo Freunde und Verwandte: Ab heute gibt es keine Einschränkungen für private Treffen mehr.

  • Auf zu Open Airs, Konzerten und Fussball­spielen: Die Bewilligungs­pflicht für Gross­veranstaltungen fällt.

  • Ahoi volle Gondeln und Läden: Die freiwilligen Kapazitäts­beschränkungen im Detail­handel und in den Seilbahnen werden aufgehoben.

Aber halt! In Zug, Tram und Bus reisen wir weiterhin mit Mund-Nasen-Schutz. Erst ab April ist voraus­sichtlich auch die Masken­pflicht im ÖV Geschichte.

Was bleibt?

  • Die Isolation. Werden Sie positiv getestet, müssen Sie sich weiterhin fünf Tage daheim verschanzen.

  • Maske in Gesundheits­einrichtungen wie Spital oder Altersheim, ausser für die Bewohnerinnen. Zudem können einzelne Einrichtungen eine Masken­pflicht verhängen, beispiels­weise die Hausarzt­praxis oder der Coiffeursalon.

  • Repetitive Tests, allerdings wird die allgemeine Empfehlung und somit die staatliche Finanzierung dafür aufgehoben. Die Tests werden einzig in Gesundheits- oder sozial­medizinischen Einrichtungen weiter finanziert. Einzel­tests werden weiterhin bezahlt: Antigen­tests in jedem Fall; PCR-Tests für Personen mit Symptomen oder nach engem Kontakt mit positiv getesteten Personen. In Schulen wird bis Ende März weiter auf Kosten des Staats getestet.

Am 1. April fallen dann die letzten Schutz­massnahmen, dann endet die besondere Lage – sofern sich die epidemiologische Lage «entwickelt wie erwartet», so der Bundesrat in einer Mitteilung.

Trotz aller Zuversicht mahnte der Bundesrat gestern: «Wir müssen wachsam bleiben.» Alain Berset appellierte an die viel beschworene Eigen­verantwortung: Jeder müsse mit den Risiken der Pandemie nun «weitgehend selbst umgehen».

Und damit zum Briefing aus Bern.

Medien: Neuer Angriff auf SRG-Gebühren

Worum es geht: Ein Komitee unter Führung der SVP will die Radio- und TV-Gebühren mit einer Volks­initiative senken. «Wir kritisieren, dass die SRG als mächtigstes Medium der Schweiz die Welt mehrheitlich aus einer linken Optik beschreibt», erklärt SVP-Präsident Marco Chiesa die Motivation für die Initiative.

Warum Sie das wissen müssen: Der Kampf um die Medien­finanzierung geht auch nach dem Nein zur ausgebauten Medien­förderung weiter. Eine neue Initiative verfolgt das Ziel, die Empfangs­gebühren von 335 Franken entweder auf 200 Franken zu senken oder sogar zu halbieren. Vor vier Jahren verwarf die Stimm­bevölkerung die komplette Abschaffung der Radio- und Fernseh­gebühren mit mehr als 71 Prozent Nein-Stimmen. Während sich FDP-Chef Thierry Burkart zum neuen Vorstoss vorsichtig skeptisch äusserte, lehnt Mitte-Präsident Gerhard Pfister die «radikale Initiative» dezidiert ab. Am Montag formierte sich bereits eine Art Gegenkomitee zur Initiative: Der «Allianz Pro Medien­vielfalt» gehören mehrere ehemalige und aktuelle Bundes­parlamentarier sowie Kultur­schaffende an. Helfen könnte den Initiativ­gegnerinnen, dass die Radio- und TV-Gebühren ohnehin sinken dürften, weil wegen des Bevölkerungs­wachstums in den letzten Jahren mehr Geld im Gebühren­topf landete als erwartet.

Wie es weitergeht: Wann die SVP und ihre Verbündeten mit dem Sammeln von Unterschriften beginnen, ist ungewiss. Voraussichtlich wird die Halbierungs­initiative zu einem wichtigen Wahlkampf­instrument – im Herbst 2023 werden National- und Ständerat neu bestellt.

Klimapolitik: Kommission verwässert Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative

Worum es geht: Die national­rätliche Kommission für Umwelt, Raum­planung und Energie lehnt die Gletscher­initiative ab, unterstützt jedoch einen direkten Gegenentwurf. Im Gegensatz zum Bundesrat spricht sich die bürgerliche Mehrheit in der Kommission aber dagegen aus, eine lineare Absenkung der Emissionen auf Verfassungs­stufe festzuschreiben.

Warum Sie das wissen müssen: Die Gletscher­initiative will das Netto-null-Ziel in der Verfassung verankern und fossile Brennstoffe ab 2050 verbieten. Die Rückweisung linearer Absenk­pfade – das heisst, der Rückgang muss Jahr für Jahr denselben Betrag umfassen – durch die Kommission ist insofern bemerkens­wert, als sich Klima­wissenschaftlerinnen weitest­gehend einig sind, dass nicht nur das Ziel, sondern auch die Art und Weise, wie es erreicht wird, eine wesentliche Rolle spielt: Je schneller die Emissionen sinken, desto weniger klima­schädliche Treibhaus­gase werden über die Zeit ausgestossen.

Wie es weitergeht: Das Parlament wird die Gletscher­initiative in der Sommer­session behandeln und höchst­wahrscheinlich der vorberatenden Kommission folgen. Später wird die Vorlage dann auch noch im Ständerat beraten. Die Abstimmung dürfte erst in ein bis zwei Jahren erfolgen.

AHV-Reform: Referendum steht und Gewerkschafts­bund will National­bank anzapfen

Worum es geht: Die Stimm­bevölkerung wird bei der Reform der ersten Säule, der sogenannten AHV 21, das letzte Wort haben. Laut eigenen Angaben hat ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, linken Parteien und Verbänden innerhalb von 50 Tagen bereits 100’000 Unterschriften für das Referendum gesammelt – mehr als doppelt so viele wie nötig. Am Freitag lancierte der Gewerkschafts­bund die Volks­initiative «National­bank­gewinne für eine starke AHV». Sie will mit den Ausschüttungs­reserven der National­bank das AHV-Loch stopfen.

Warum Sie das wissen müssen: Die Politik von links bis rechts ist sich einig, dass es eine Renten­reform braucht, weil sonst der AHV das Geld ausgeht. Doch seit vielen Jahren schafft es die Politik nicht, eine mehrheits­fähige Lösung zu finden. Zuletzt scheiterte 2017 das Grossprojekt Alters­vorsorge 2020. 2021 hat das Parlament eine schritt­weise Erhöhung des Frauen­renten­alters beschlossen. Linke gehen dagegen auf die Barrikaden, weil Frauen bereits mit erheblich kleineren Renten auskommen müssen. Das Parlament hatte lange über die Kompensation für die besonders betroffenen Frauen­jahrgänge gestritten. Schliesslich obsiegten die bürgerlichen Parteien.

Wie es weitergeht: Der Initiativ­text des Gewerkschafts­bunds muss zunächst bei der Bundes­kanzlei eingereicht werden, danach beginnt die Unterschriften­sammlung. Über das Referendum gegen die AHV 21 wird die Stimm­bevölkerung aller Voraussicht nach im Herbst abstimmen.

Armee: Amherd verteidigt Entscheid für F-35

Worum es geht: Der Bundesrat hat die Armee­botschaft 2022 verabschiedet. Sie beinhaltet den grössten Rüstungs­kauf der Schweizer Geschichte: 36 Kampf­flugzeuge des Typs F-35 sowie fünf Einheiten von Boden-Luft-Abwehrraketen des Typs Patriot. Der Preis der Flugzeug­beschaffung liegt mit 6,035 Milliarden Franken um eine Milliarde höher, als man im Juni bei der Typen­wahl kommuniziert hatte. Das erklärte Bundesrätin Viola Amherd am Mittwoch vor den Medien damit, dass nun auch die Teuerung, die Mehrwert­steuer und der Risiko­zuschlag einberechnet wurden.

Warum Sie das wissen müssen: Der Typen­entscheid steht anhaltend in der Kritik. Diese versuchte Amherd am Mittwoch zu kontern. Der F-35 sei aus der Evaluation als beste und günstigste Wahl hervor­gegangen: «Es geht um eine transparente Beschaffung, die nicht irgend­welche schwer nachvollzieh­baren und unsicheren Händel beinhaltet.» Die Verteidigungs­ministerin ging auch auf die in der Republik thematisierten Kritik­punkte ein. So erklärte sie etwa den auffällig tiefen Risiko­zuschlag für das technologisch hoch­komplexe Flugzeug damit, dass es bei Rüstungs­käufen aus den USA seit dem Kauf des F/A-18 in den 1990ern nie zu Kosten­überschreitungen gekommen sei. Doch damit bringt sie die Kritik nicht zum Verstummen. Der Bundesrat schaffe in der Armee­botschaft keine echte Transparenz, sagt die grüne Sicherheits­politikerin Marionna Schlatter: «Es ist nicht nachvollziehbar, wie die Kosten­berechnungen zustande gekommen sind, welche Kriterien bei der Evaluation angewendet wurden und warum der F-35 für die Luftpolizei geeignet sein soll.»

Wie es weitergeht: Der Bundesrat beantragt beim Parlament, die Verpflichtungs­kredite für die Beschaffung der Flugzeuge und Boden-Luft-Abwehr­systeme zu genehmigen. Die Geschäfts­prüfungs­kommission des National­rats will eine Untersuchung über die Kampfjet­beschaffung durchführen. Die Eidgenössische Finanz­kontrolle nimmt die finanziellen Risiken unter die Lupe. Beide Berichte sollten im Frühsommer vorliegen. SP, Grüne und die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) sammeln Unterschriften für eine Initiative, um den F-35 zu stoppen.

Impfstoffe: Verträge werden nun doch offengelegt

Worum es geht: Wie viel bezahlt der Bund eigentlich für die Corona-Vakzine? Nach langem Mauern will das Bundes­amt für Gesundheit (BAG) die Verträge nun doch öffentlich machen.

Warum Sie das wissen müssen: Bundes­behörden und die Pharma­branche haben sich bisher erfolgreich gegen Transparenz bei der Impfstoff­beschaffung gewehrt. Im Dezember scheiterte ein entsprechender Antrag am Nein des Ständerats. Nun beugt sich das BAG einer Empfehlung des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeits­beauftragten. Dieser hatte für Transparenz plädiert, nachdem ein Rechts­anwalt gestützt auf das Öffentlichkeits­prinzip verlangt hatte, die Verträge offenzulegen. Die Gegnerinnen der Offenlegung argumentierten, die Schweiz würde damit vertrags­brüchig und wäre in der Folge künftig in einer schlechteren Verhandlungs­position.

Wie es weitergeht: Sobald die Impfstoff­beschaffung für das Jahr 2023 abgeschlossen ist, will das BAG die Hersteller konsultieren, um allfällige Schwärzungen in den Verträgen zu besprechen. Spätestens Ende Juni 2022 sollen die Vereinbarungen dann veröffentlicht werden.

Auszeit der Woche

Als am Sonntag die Abstimmungs­resultate kamen, vergoss Jacqueline Badran Freuden­tränen. Wochen­lang hatte die Zürcher SP-National­rätin gegen die Abschaffung der Stempel­steuer gestritten – und schliesslich gewonnen. Und so erschien der Ausbruch als emotionale Reaktion einer Politikerin, die dafür bekannt ist, sich stets mit voller Kraft und Leidenschaft für ihre Anliegen einzusetzen. Doch nur einen Tag später teilte Badran auf Facebook mit, ihr Hausarzt habe ihr «dringlich eine Auszeit» verschrieben: «Die vielen Abwehr­kämpfe der letzten Jahre, in die die SP gezwungen wurde, haben mir […] physisch und psychisch zugesetzt.» Darum nimmt sich Badran bis zum Sommer eine «Politik-Pause». In rund 500 Kommentaren wurde ihr gute Erholung gewünscht, und in vielen schwang die Hoffnung mit, Badran möge gestärkt zurück­kehren – weil sie noch gebraucht werde. Doch genau diese Beanspruchung setzt Politikern zu. Sie sei «ratlos und ermüdet», schrieb Badran, was auch mit der zunehmenden «Aggressivität und Respektlosig­keit gegenüber der Politik» zu tun habe. Selbst eine «Naturgewalt» ist nicht unverwundbar, denn auch wenn Medien und Politiker Badran gern als «Zugpferd» oder «Schlachtross» bezeichnen – eine Politikerin ist zunächst einmal ein Mensch.

Illustration: Till Lauer

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