Der Bührle-Skandal erreicht das Bundeshaus
Das Debakel um die Sammlung des Kanonenkönigs im Zürcher Kunsthaus ruft das Parlament in Bern auf den Plan. Eine geplante Motion fordert eine nationale Expertenkommission. Sie soll künftig helfen, strittige Besitzansprüche auf Kunstwerke zu klären.
Von Daniel Binswanger, 26.11.2021
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Der Chipperfield-Bau des Zürcher Kunsthauses sollte ein kultureller Meilenstein sein – und wird zum erinnerungspolitischen Desaster. Zu viele Fragen im Zusammenhang mit der Bührle-Stiftungs-Sammlung, die jetzt im Erweiterungsbau gezeigt wird, sind ungeklärt, zu heftig sind die Reaktionen in der nationalen und der internationalen Öffentlichkeit. Die Schweiz steht vor einem Scherbenhaufen. Jetzt ist die Politik gefordert.
Das Kunsthaus ist in erster Linie eine Zürcher Angelegenheit. Unter dem öffentlichen Druck haben Stadt und Kanton nun angekündigt, die Herkunftsforschung der Stiftungssammlung einer unabhängigen Prüfung zu unterziehen. Sie tragen für den Transfer der Bührle-Bilder ins öffentlich subventionierte Museum die Verantwortung, an ihnen ist es jetzt auch, eine Lösung zu finden. Zudem haben sich inzwischen Vertreterinnen der Kunstszene und der breiteren Zivilgesellschaft mit einer Petition zu Wort gemeldet. Der nötige Prozess der Bereinigung des Skandals muss auf lokaler Ebene in Gang kommen.
Emil Bührle, grösster Nazi-Waffenlieferant im Zweiten Weltkrieg, schrieb eines der dunkelsten Kapitel der Schweizer Kriegsschuld. Der Transfer seiner Sammlung ins Zürcher Kunsthaus ist ein Akt kollektiver historischer Verdrängung. Zur Übersicht.
Doch der Bührle-Skandal hat nicht nur eine lokale, sondern auch eine nationale und internationale Dimension. Er wirft ein Schlaglicht auf Versäumnisse der Schweiz im Umgang mit Kulturgütern, die zu Zeiten der NS-Herrschaft unter zweifelhaften Umständen die Hand wechselten.
Nicht umsonst haben sich vor knapp drei Wochen die ehemaligen Mitglieder der Bergier-Kommission, darunter zahlreiche international renommierte Historiker, mit einem dringenden Appell an die Öffentlichkeit gewandt. Ihre wichtigste Forderung: Auch der Bund muss aktiv werden. Die Schweiz braucht eine nationale beratende Kommission für Restitutionsfragen.
Helvetischer Nachholbedarf
Das Bewusstsein für die Problematik des Umgangs mit Kulturgütern, die während der Naziherrschaft ihren ursprünglichen Besitzern abhandengekommen sind, hat sich in den letzten zwanzig Jahren international stark entwickelt. Zahlreiche europäische Staaten haben spezialisierte Instanzen geschaffen, die einen verantwortungsvollen Umgang mit solchen Kulturgütern garantieren sollen. Deutschland, Österreich, die Niederlande, Frankreich und Grossbritannien – sowohl NS-Täter- als auch NS-Opfer-Nationen – haben allesamt Kommissionen ins Leben gerufen, die bei der Klärung von strittigen Besitzansprüchen beratend intervenieren können.
Doch die Schweiz ist bisher in diesem Feld nicht aktiv geworden. Dieses Versäumnis sollte rasch behoben werden. Und zwar aus mehreren Gründen.
Erstens hat die Eidgenossenschaft genau wie die überwiegende Mehrzahl der westlichen Demokratien 1998 die sogenannten «Washingtoner Richtlinien» und 2009 die «Erklärung von Theresienstadt» unterzeichnet. Diese internationalen Verpflichtungen sind zwar rechtlich nicht bindend, sollten vom Bund aber dennoch nicht kaltschnäuzig missachtet werden. Unser Land muss auf seine offiziellen Erklärungen berufen werden können, so wie andere Länder auch. Bereits die Erklärung von Washington forderte die Staaten dazu auf, sogenannte Restitutionskommissionen einzurichten. Es wäre höchste Zeit, dass der Bundesrat seinen Worten Taten folgen liesse.
Zweitens besteht in der Schweiz in diesem Bereich ein ausgeprägter Handlungsbedarf. Die Eidgenossenschaft hat als neutrales, nicht besetztes Land während des Zweiten Weltkriegs eine führende Rolle als Umschlagplatz für Kulturgüter gespielt; nicht nur auf Anbieter-, sondern auch auf Sammlerseite konnte der Kunsthandel während der problematischen Kriegsjahre ungehindert und teilweise sogar mit besonderer Intensität fortgesetzt werden. Der Schweiz stünde es deshalb gut an, ihre Verantwortung so wahrzunehmen, dass sie nicht hinter den Anstrengungen anderer europäischer Länder zurücksteht.
Drittens hat sich in der Schweiz im Bereich der NS-belasteten Kulturgüter eine Unterscheidung etabliert, die überwunden werden sollte: die Unterscheidung zwischen «Raubkunst» und «Fluchtkunst». Als Raubkunst bezeichnet man gemeinhin Kunstwerke, die von den Nazis expropriiert, ihren Besitzerinnen also im eigentlichen Sinn geraubt wurden. Diese Fälle sind gut aufgearbeitet, und in der Regel wurden die betreffenden Werke restituiert. Raubkunstfälle können immer wieder von neuem auftauchen, scheinen aktuell in der Schweiz aber nicht in grosser Zahl offen zu sein.
Ganz anders sieht die Lage bei der sogenannten Fluchtkunst aus. So werden Werke bezeichnet, welche Opfer der Naziverfolgung – fast immer jüdische Sammler – während der Kriegsjahre verkaufen mussten, sei es, um die sogenannte Reichsfluchtsteuer zu bezahlen, sei es, um auf der Flucht zu überleben. Solche Verkäufe erfolgten häufig nicht freiwillig, und immer wieder wurde die Notlage der Verkäuferinnen ausgenutzt. Oft wurden auch zu niedrige, nicht marktgerechte Preise für die Werke bezahlt oder gar die ausgemachten Geldsummen gar nie überwiesen.
Verfolgungsbedingter Verlust
Die Frage, ob eine Verkaufstransaktion von «Fluchtkunst» korrekt und marktgerecht verlief – und die Handänderung deshalb als legitim zu betrachten ist – oder ob sie missbräuchlich und «konfiskatorisch» war, ist häufig schwierig aufzuklären. Ihre Beantwortung erfordert nicht nur eine genaue Rekonstruktion der Provenienz, also der konkreten Besitzerwechsel, sondern muss auch die Erforschung der genauen biografischen Umstände, unter denen die Verkäufer handelten, und eine Einschätzung der Geschäftsbeziehungen in ethischer Hinsicht zwischen Käuferin und Verkäufer umfassen.
Die Beurteilung solcher Fälle ist anspruchsvoll. Es wäre deshalb wünschenswert, dass sich auch in der Schweiz ein qualifiziertes Expertengremium dieser wichtigen Aufgabe annimmt.
Da der Rechtsweg häufig nicht mehr gangbar ist, werden diese Fälle nach aktueller Praxis nämlich ganz einfach dem Gutdünken der heutigen Besitzerinnen überlassen. Wenn sich diese aufgeschlossen zeigen für «faire und gerechte Lösungen», können solche Lösungen auch gefunden werden – wie das zum Beispiel der Umgang des Kunstmuseums Bern mit dem Gurlitt-Legat eindrücklich demonstriert. Doch wenn der gute Wille fehlt, können sich die Nachfahren von Vorbesitzerinnen, die einen Anspruch auf verloren gegangene Werke stellen, in der Schweiz gar nicht zur Wehr setzen.
Das ist eine unhaltbare Situation. Der Bührle-Fall führt eindrücklich vor Augen, zu welch skandalösen und rufschädigenden Ergebnissen diese Rechtslücken letztlich führen können. Er sollte Anlass sein, jetzt Abhilfe zu schaffen.
Schliesslich gibt es noch einen vierten wichtigen Grund, weshalb die Schweiz ihre institutionelle Infrastruktur zur Beurteilung von Kulturgüterverlusten ausbauen muss. In den letzten Jahren hat auch das Bewusstsein für die oft äusserst problematischen Umstände von Kulturgütertransfers aus kolonialen Kontexten zugenommen. Auch hier besteht Aufarbeitungs- und potenzieller Restitutionsbedarf, auch hier ist in der Schweiz bisher noch wenig geschehen. Es handelt sich um ein anderes Themenfeld als der Umgang mit Kunstwerken, die belastet sind durch NS-Verfolgung, aber es besteht dasselbe Defizit. Auch Restitutionsfragen im Zusammenhang mit Kunst aus kolonialen Kontexten sollten künftig in Übereinstimmung mit internationalen Standards geprüft werden können. Auch zu diesem Zweck muss ein geeignetes Expertengremium institutionalisiert werden.
Der SP-Nationalrat Jon Pult will deshalb nun eine Motion lancieren, um den Bundesrat zum Handeln aufzufordern. Er will eine permanente, unabhängige Expertenkommission einrichten, die solche strittigen Fälle beurteilen und Empfehlungen abgeben kann. «Es geht hier absolut nicht um Parteipolitik», sagt Pult auf Anfrage der Republik.
«Ich bin überzeugt, dass sich für eine beratende Kommission ein breiter Konsens finden lässt. Mit der Bührle-Stiftung muss Zürich ins Reine kommen. Aber die Schweiz steht hinter den Washingtoner Richtlinien und der Erklärung von Theresienstadt. Es geht hier um Grundsätze der historischen Verantwortung im Umgang mit Kulturgütern, die international akzeptiert sind. Aus meiner Sicht sollten der Bundesrat und das Parlament diese Grundsätze nun auch umsetzen.» Zur Ausarbeitung seiner Motion hatte Pult im Übrigen einen berufenen Berater: den Kunstrechtsexperten Andrea Raschèr, der seinerzeit als Gesandter der Eidgenossenschaft die Washingtoner Richtlinien mitaushandelte.
Unterstützung erhält der Vorstoss auch vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG), von der Dachorganisation des Schweizer Judentums. In einem Communiqué hält der SIG fest, dass die Einrichtung einer beratenden Kommission für Restitutionsfragen, die sich an vergleichbaren Institutionen im Ausland orientiert, sein dringender Wunsch ist. Es gebe keine Alternative dazu, die Washingtoner Richtlinien hochzuhalten und in strittigen Fällen in deren Rahmen nach Lösungen zu suchen.
Raschèr und der SIG plädieren auch für eine Änderung des juristischen Sprachgebrauchs. Bisher wird in der Schweiz mit der Unterscheidung von Raub- und Fluchtgut operiert, was international nicht üblich und juristisch problematisch ist. Die Experten schlagen deshalb vor, dass der Begriff des «NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes» ins Zentrum der Restitutionsdebatten rücken soll. Mit diesem in der bundesdeutschen Praxis geläufigen Ausdruck wird ein klares Kriterium benannt, weshalb der Handwechsel eines Kulturguts gegebenenfalls als problematisch betrachtet werden und nach einer «fairen und gerechten Lösung» gesucht werden muss. Der Fluchtgut-Begriff dagegen mag zwar für Historikerinnen seinen Nutzen haben, ist juristisch aber zu unscharf und sorgt für Verwirrung. Allein schon die Präzisierung der Terminologie könnte die Beurteilung von problematischen Provenienzen in Zukunft erleichtern.
Das Bundesamt für Kultur zeigt sich Praxisänderungen gegenüber im Prinzip offen – glänzt bisher aber vor allem durch konsequente Zurückhaltung. Benno Widmer, der Leiter der Sektion Museen und Sammlungen, welcher die Anlaufstelle Raubkunst angegliedert ist, betonte letzte Woche gegenüber den Medien, es gebe in der Schweiz nur wenige Fälle von strittigen Rückgabeforderungen – und deshalb auch keinen Handlungsbedarf. Auch die Anfrage der Republik wurde in diesem Sinne beantwortet.
Widmer selber war 2012 jedoch in die immer noch nicht geklärte Forderung nach Rückgabe eines Gemäldes von Claude Monet involviert, das die Erben von Max Emden an die Bührle-Stiftung richten. Allerdings musste sich der Leiter der Anlaufstelle Raubkunst unverrichteter Dinge aus dem weiter schwelenden Disput wieder zurückziehen, weil gemäss aktueller Regelung der Bund nur dann beratend beistehen darf, wenn beide Konfliktparteien das wünschen. Der Fall illustriert mit aller Deutlichkeit, weshalb dringender Handlungsbedarf besteht und endlich ein vernünftiges institutionelles Setting auf die Beine gestellt werden sollte.
Jetzt ist das Parlament gefordert.
Am 20. November 2021 diskutierte ein hochkarätiges Panel über die drängenden Fragen im Nachgang des Zürcher Bührle-Skandals in einer Veranstaltung von Republik und «Kosmos». Hier gehts zum Podcast des Gesprächs.