«Das Richteramt ist grösser als die Person, die es ausübt»

Die Justizinitiative, über die Ende November abgestimmt wird, will den Parteien­klüngel bei Richterwahlen abschaffen. Patrick Guidon, St. Galler Kantonsrichter und Präsident der Richter­vereinigung, hält dagegen: «Das Parteibuch sorgt für Transparenz.»

Ein Interview von Brigitte Hürlimann (Text) und Joan Minder (Bilder), 09.11.2021

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Allein Entscheidungen treffen, Urteile fällen …
... ist nicht im Sinne von Patrick Guidon, er bevorzugt den Austausch im Gremium.

Herr Guidon, wann ist ein Richter ein guter Richter?
Xenophon liefert eine gute Antwort auf Ihre Frage. Der antike griechische Politiker, Philosoph und Schriftsteller verlangt von den Richterinnen und Richtern vier Eigenschaften: höflich anhören, weise antworten, vernünftig erwägen und unparteiisch entscheiden.

Und Sie teilen diese Meinung?
Absolut, Xenophons Aussage gilt meines Erachtens bis heute. Ergänzen kann ich sie damit, dass ein guter Richter fachlich und persönlich geeignet sein muss. Das mag wie eine Selbst­verständlichkeit klingen – aber: Der persönlichen Eignung kann gar nicht genug Bedeutung beigemessen werden. Gibt es hier Defizite, lässt sich das nicht kompensieren. Anders als bei fachlichen Mängeln.

Zur Person

Der 45-jährige Patrick Guidon ist seit 2007 als Richter am Kantonsgericht St. Gallen tätig. 2018 wurde er von der Universität St. Gallen zum Honorar­professor ernannt; Guidon lehrt Strafrecht und Strafprozess­recht. Der promovierte Jurist und Rechtsanwalt präsidiert seit vier Jahren die Schweizerische Vereinigung der Richterinnen und Richter; turnusgemäss wird er dieses Amt Mitte November abgeben. Patrick Guidon ist seit 2007 Mitglied der SVP, vierfacher Vater und lebt mit seiner Familie in St. Gallen. In seiner Freizeit widmet sich der gebürtige Bündner dem Fahnenschwingen, und er engagiert sich als Vizepräsident in einem humanitären Hilfswerk in Afrika.

Mich erstaunt eher, dass der griechische Gelehrte die Höflichkeit erwähnt. Ist das wichtig für die Richterarbeit?
Sehr wichtig sogar. Die Art und Weise, wie ein Prozess geführt wird, ist entscheidend für die Akzeptanz der Urteile.

Anders als Xenophon betonen Sie die persönlichen Eigenschaften, die es fürs Richten braucht. Warum?
Sozialkompetenz und Lebens­erfahrung sind zentrale Elemente. Daneben würde ich Bescheidenheit und Demut gegenüber dem Amt als die wichtigsten Charakter­eigenschaften für das Richteramt bezeichnen. Je länger ich in der Justiz tätig bin, desto mehr wird mir die Verantwortung bewusst, die wir Richter gegenüber den Recht­suchenden tragen. Die Erwartungen der Betroffenen und der Gesellschaft an die Gerichte sind gross.

Mehr Bürde als Würde?
Sagen wir es so: Auch Richter sind nur Menschen. Wir können den hohen Ansprüchen, die an uns gestellt werden, nie vollständig gerecht werden. Bestenfalls gelingt eine Annäherung. Das Amt ist letztlich grösser als die Person, die es ausübt, und man hat es ja auch nur eine bestimmte Zeit lang inne. Deshalb sollte man als Richter demütig und bescheiden sein und bleiben. Als Strafrichter wird mir immer wieder bewusst, dass auch ich auf dem Platz eines Beschuldigten sitzen könnte, hätte ich im Leben nicht so viel Glück gehabt. Diese Erkenntnis darf einen allerdings nicht daran hindern, im Einzelfall hohe Strafen auszusprechen – wenn es vom Gesetz verlangt wird.

Richter sind in der Tat nur Menschen. Sie bringen ihren ganz persönlichen Hinter­grund in die Verhandlung und die Urteils­beratung ein.
Die menschlichen Eigenschaften, Fähigkeiten, Schwächen und Erfahrungen spielen beim Richten eine Rolle. Das sind lauter Faktoren, die sich auf die Recht­sprechung auswirken können. Es ist wichtig, dass sich die Richter ihres persönlichen Hinter­grunds und ihres Vorverständnisses bewusst sind.

Was meinen Sie mit Vorverständnis?
Eben alles, was einen Menschen prägt. Das kann die Herkunft sein, die familiäre Situation, die Lebens­erfahrung, das Alter oder das Geschlecht. Richterinnen und Richter müssen sich in jedem Stadium ihrer Arbeit fragen, ob sich ihre persönlichen Faktoren nicht in einer sachfremden Art und Weise auswirken.

Aber es ist doch klar, dass solche Faktoren einfliessen. Eine Richterin kann weder ihre Herkunft noch ihr Geschlecht oder Alter abstreifen.
Natürlich. Aber sie kann sich damit auseinander­setzen. Nur schon das hat eine präventive Wirkung. Die Gefahr einseitiger Urteile wird auch dadurch gebannt, dass spätestens ab der zweiten Instanz in der Regel ein Kollegial­gericht entscheidet; das heisst, drei bis fünf Richter beugen sich über den Fall. Das gewährleistet, dass unterschiedliche Betrachtungen einfliessen. Ich bin deshalb ein dezidierter Gegner des Einzel­richtertums, das in den letzten Jahrzehnten ausgebaut wurde; vor allem aus finanziellen Überlegungen und der Effizienz zuliebe. Es kann sich auf die Qualität der Urteile auswirken, wenn ein einzelner Richter entscheidet. Zwangsläufig fliessen in dieser Konstellation nicht unterschiedliche Betrachtungs­weisen in die Urteile ein.

Wie muss man sich das konkret vorstellen: Wenn Sie als Teil eines Dreier­gremiums ein Urteil fällen – erwähnen Sie dann jedes Mal, dass Sie vierfacher Vater und Fahnen­schwinger sind? Oder dass Sie sich für ein Hilfswerk in Senegal engagieren?
Nein, und das ist auch gar nicht nötig. Ich muss daran erinnern, dass wir Richterinnen und Richter allein dem Recht verpflichtet sind; so steht es in der Bundes­verfassung. In vielen Bereichen gibt es gar keinen Spielraum, der zulassen würde, dass der persönliche Hintergrund der Richter eine entscheidende Rolle spielt. Ich mache ein Beispiel: Ob eine Geld­forderung aus einem Auftrags­verhältnis verjährt ist oder nicht, beurteilt sich nach dem Zivilrecht. Für den Einfluss einer persönlichen richterlichen Grund­haltung besteht hier kein Raum. Oder wenn, dann nur minimal.

Im Strafrecht sieht es anders aus. Es gibt ein richterliches Ermessen, etwa was die Art und die Höhe der Strafe betrifft.
Auch Ermessensentscheide müssen vor dem Recht standhalten. Wichtig ist, dass sich die Richter der Einflüsse, die im Hintergrund mitschwingen, bewusst sind. Sie müssen sich damit auseinandersetzen.

Auch mit ihrer Partei­zugehörigkeit?
Die Parteimitgliedschaft ist Ausdruck einer gewissen politischen Grundhaltung, einer Wertevorstellung. Sie ist aber nur einer von vielen Faktoren, die den persönlichen Hintergrund ausmachen. Nach meiner Erfahrung spielen die anderen Faktoren – also Herkunft, Familie, Alter oder Geschlecht – eine deutlich grössere Rolle als die politische Zugehörigkeit. Ich behaupte, dass Sie am Ende einer Urteils­beratung nicht herausfinden würden, welche Richter in welcher Partei sind.

Wirklich?
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Richter kennt aus seinem nächsten Umfeld ein Opfer von sexueller Gewalt und weiss, wie sich die Tat aufs Opfer ausgewirkt hat. Diese Erfahrung wird ihn vermutlich deutlich mehr prägen als die Partei­zugehörigkeit. Wichtig ist, ich kann es nicht genug betonen, dass die Richter selbstkritisch bleiben, sich hinterfragen. Dass sie sich bewusst sind, was beim Urteilen alles auch noch eine Rolle spielt.

Sie sind Mitglied der SVP. Warum?
Für meine Partei­mitgliedschaft war entscheidend, dass sich die SVP für eine freie und neutrale Schweiz, für die direkte Demokratie und das Prinzip der Eigen­verantwortung einsetzt. Als langjähriger Fahnen­schwinger kam für mich dazu, dass ich einen engen Bezug zur Land­bevölkerung und zum Brauchtum habe.

Was kam zuerst? Das Fahnen­schwingen oder die Partei?
Ich war schon viel früher Fahnen­schwinger. Aber was die SVP betrifft: Als Sohn von Eltern, die nicht studiert haben, gefiel mir, dass es in der SVP auch viele Nicht­akademiker gibt.

Und wie ging es weiter?
Im Frühling 2007 nahm ich mit dem damaligen Präsidenten der Kantonalpartei, Toni Brunner, Kontakt auf. Es ging nicht um eine konkrete Vakanz an einem Gericht. Ich wusste aber, dass ich für meinen Berufstraum, Richter zu werden, früher oder später einer politischen Partei beitreten muss. Insofern bestand ein Konnex, den ich auch transparent machte. Kurze Zeit später wurde erstmals ein SVP-Ersatzrichter zum hauptamtlichen Kantons­richter gewählt. Ich trat der Partei wie beabsichtigt bei und stellte mich im Herbst 2007 der Wahl als Ersatzrichter.

Und Sie wurden gewählt. Wären Sie auch Partei­mitglied geworden, wenn Sie keine Richter­karriere angestrebt hätten?
Die Frage ist im Nachhinein schwierig zu beantworten. Wichtig ist: Mit oder ohne Richter­karriere, ich würde nie Mitglied einer politischen Partei, deren Grund­ausrichtung ich nicht teile.

Es ist Ihnen aber bekannt, dass es Richter gibt, die sich gezielt jene Partei aussuchen, die ihre Chance auf den Job oder auf einen Karriere­schritt erhöht. Aus den gleichen Gründen kommt es auch zu Partei­wechseln – sogar von der SP zur SVP oder umgekehrt.
Von solchen Vorgängen hört man gelegentlich, vor allem aus dem Kanton Zürich. Ich stelle mir das sehr anstrengend vor. Für mich käme es nicht infrage, der Karriere zuliebe die Partei zu wechseln.

Diese karrierebedingten Parteieintritte oder -wechsel führen die Vorstellung, dass die Partei­mitgliedschaft die Wertehaltung der Richterinnen transparent machen soll, ad absurdum.
Das ist richtig, falls der Partei­eintritt oder der Partei­wechsel nicht der Wertehaltung entspricht.

Wie stark beeinflusst die Erwartungs­haltung der Partei die richterliche Arbeit? 2010 wurden Sie zum ordentlichen Richter am Kantons­gericht St. Gallen ernannt, in einer Kampfwahl, gegen einen SP-Kandidaten. Die kantonale SVP jubilierte über Ihren Sieg.
Seit ich Kantonsrichter bin, habe ich kein einziges Mal nur schon den Versuch einer Einflussnahme durch die Partei erlebt. Ich wurde in all den Jahren nicht einmal mit Kritik konfrontiert. Den Parteien ist in der Regel bewusst, dass die Partei­mitgliedschaft nicht an die Erwartung geknüpft werden darf, ein Richter habe entlang eines Partei­programms zu entscheiden. Wie gesagt: In der Bundes­verfassung steht, dass Richterinnen und Richter unabhängig und nur dem Recht verpflichtet sind.

Was sagen Sie zu den Ereignissen rund um Bundes­richter Yves Donzallaz? Der von seiner Partei, der SVP, nicht mehr zur Wiederwahl empfohlen wurde wegen Urteilen, die nicht auf Parteilinie lagen?
Die periodische Wiederwahl von Richterinnen ist problematisch – dieser Aspekt steht bei der Affäre Donzallaz im Vorder­grund. Wiederwahlen bieten gewissen Parlaments­mitgliedern ein heikles Einfallstor zur Disziplinierung missliebiger Richter. Aber nur jenen Parlamentariern, welche die richterliche Unabhängigkeit missachten und eine parteikonforme Recht­sprechung erwarten. Darum setzt sich die Schweizerische Richter­vereinigung schon seit Jahren für eine Abschaffung der Wiederwahl ein.

Auf die Problematik der Wiederwahl kommen wir noch zu sprechen – sie ist auch Thema der Justiz­initiative. Doch was Donzallaz betrifft: Sie können nicht verneinen, dass die SVP Druck auf ihn ausgeübt hat, oder?
Diese Druckversuche gab es. Jedoch nicht nur von der SVP, wie das oft behauptet wird. Auch ein FDP-Parlamentarier und eine Vertreterin der damaligen CVP äusserten öffentlich, sie würden «derartige Richter» nicht wiederwählen. Die Richter­vereinigung hat in aller Deutlichkeit auf diese Voten reagiert. Die Wiederwahl dient nicht der Abstrafung missliebiger Richter. Solche Angriffe auf die richterliche Unabhängigkeit sind inakzeptabel. Yves Donzallaz wurde dann übrigens mit einem sehr guten Resultat wiedergewählt.

«Ich bin für eine Öffnung des heutigen Wahlsystems für Parteilose, …
… aber ich bin gegen die gänzliche Abschaffung des Parteiproporzes. Das System hat sich grundsätzlich bewährt.»

Es gab aber nicht nur den Fall Donzallaz. Aus dem Kanton Zürich wurde bekannt, dass sämtliche Mandats­träger der SVP eine «Ehrencharta» unterschreiben mussten, mit der sie sich verpflichten, die Parteilinie einzuhalten. Martin Burger, der ehemalige Präsident des Zürcher Obergerichts, hat das öffentlich kritisiert. Er hat die «Ehrencharta» nicht unterzeichnet und ist aus der Partei ausgetreten.
Derartiges wie diese «Ehrencharta» habe ich aus keinem anderen Kanton gehört. Ich würde deshalb bestreiten, dass es sich um ein breites Problem handelt. Der Vorgang erinnert mich an eine Aussage von Stefan Zweig. Der österreichische Schriftsteller sagt, die Unabhängigkeit existiere nur im Individuum, in der Einzahl. Es sei immer der Einzelne, der die Unabhängigkeit für sich allein errichte. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Denn neben der institutionellen Unabhängigkeit, die rechtlich gewährleistet sein muss, liegt es auch am einzelnen Richter, sich gegen unzulässige Druckversuche zu verwahren. Das ist in Bezug auf die «Ehrencharta» offenbar gelungen. Und im Fall Donzallaz auch.

Wenn Ihnen die SVP des Kantons St. Gallen eine «Ehrencharta» vorgelegt hätte, hätten Sie unterschrieben?
Ich kenne den Inhalt dieses Dokuments nicht. Für meine richterliche Arbeit sind Verfassung und Gesetz massgebend. Andere Leitlinien gibt es nicht, und anderen Leitlinien würde ich mich nicht verpflichten.

Was geschieht eigentlich mit all den gut qualifizierten Richter­kandidaten, die keine Chance auf ein Amt haben, weil sie nicht einer Partei beitreten wollen? Die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht Parteimitglied.
Diese Kandidaten gehen für die Rechtsprechung verloren, wenn sie sich nicht zu einer Partei­mitgliedschaft durchringen können. Wie die Richter­vereinigung befürworte ich deshalb eine Öffnung des Wahl­prozederes für Nicht­parteimitglieder. Aber: Das oft gehörte Narrativ, parteilose Richter seien per se neutral oder unabhängiger, halte ich für falsch. Auch Parteilose haben Wert­vorstellungen. Anders als bei Richtern, die Mitglied einer politischen Partei sind, ist diese Grund­haltung jedoch nicht ohne weiteres erkennbar.

Die faktische Zwangspartei­mitgliedschaft für Richterinnen ist dem Komitee der Justiz­initiative ein Dorn im Auge. Das System ritzt an der Gewalten­teilung, es entspricht nicht den demokratischen Standards in der Schweiz.
Wie erwähnt bin ich für eine Öffnung des heutigen Wahlsystems für Parteilose. Aber ich bin gegen die gänzliche Abschaffung des Partei­proporzes. Das System hat sich grundsätzlich bewährt. Es sollte auch nicht das Umgekehrte passieren: Eine Partei­mitgliedschaft darf nicht dazu führen, dass ein Richter­kandidat als ungeeignet eingestuft wird.

Ich will es genauer wissen: Darum geht es bei der Justizinitiative

Die Justizinitiative, eingereicht von einem Komitee rund um den Unternehmer Adrian Gasser (der auch in die Republik investiert hat), will das heutige Richterwahl­system ändern. Die Initiative thematisiert zwar ausschliesslich die Wahlen ans Bundesgericht – würde sie am 28. November aber angenommen, dürfte sie Auswirkungen auf sämtliche Gerichts­instanzen haben. Gefordert wird die Abschaffung des Partei­proporzes und damit der faktische Zwang, dass Richterinnen einer Partei angehören müssen; Stand heute haben Parteilose spätestens ab der zweiten Instanz keine Chance mehr auf einen Richterposten.

Nach Auffassung des Initiativkomitees sollen die Parteien nicht länger einen Anspruch auf Richterposten geltend machen und Mandats­steuern einkassieren dürfen; heute teilen die Parteien die Richterämter unter sich auf, je nach Wahlerfolg. Der Partei­proporz ist in keinem Gesetz verankert, es handelt sich um ein Gentlemen’s Agreement – und er spielt auf jeder Ebene: der kommunalen, der kantonalen und der eidgenössischen.

Die Initiantinnen schlagen vor, dass eine von den Behörden unabhängige, vom Bundesrat eingesetzte Fachkommission nach objektiven Kriterien die geeigneten Bundesrichter­kandidaten bestimmt. Aus diesem Kreis wird dann in einem zweiten Schritt per Los entschieden, wer das Amt übernehmen kann. Abgeschafft werden soll zudem die periodische Wiederwahl. Bundes­richterinnen sollen neu bis fünf Jahre nach Erreichen des Pensionsalters im Amt bleiben dürfen; bei einer schweren Amtspflicht­verletzung oder beim Verlust der Amtsfähigkeit kann ein Abberufungs­verfahren ausgelöst werden. Der Bundesrat, das Parlament und sämtliche Parteien lehnen die Justiz­initiative ab.

Macht es einen Unterschied, ob ein SP-Einzelrichter einen Fall entscheidet oder ein SVP-Richter?
Ich würde das nicht an der Partei­zugehörigkeit festmachen. Ich kann es nicht genug betonen: Sie ist ein Faktor von mehreren Faktoren. Es spielt ebenso eine Rolle, ob man vor einem Richter mit einer gewissen Herkunft, einer gewissen familiären Situation steht, ob es eine Frau oder ein Mann ist, eine Hausbesitzerin oder ein Mieter, wie alt der Richter ist, in welchen Kreisen er verkehrt … Um das auszugleichen, ist es vor allem bei Ermessens­entscheiden wichtig, dass ein Gremium entscheidet, also mehrere Richterinnen und Richter. Damit wird am ehesten ein ausgewogenes Urteil gewährleistet. Ich will damit nicht sagen, ein Einzelrichter könne kein ausgewogenes Urteil fällen. Von der institutionellen Absicherung her ist es einfach besser, wenn nicht ein einzelner Richter entscheidet.

Was die Herkunft der Richterschaft betrifft: Wirklich heterogen ist die Gruppe nicht. Richter aus Unterschichts­verhältnissen, aus bildungs­fernen Familien oder mit Migrations­hintergrund sind selten anzutreffen.
In der Tendenz stammen die Richter eher aus bildungsnahen Schichten, das ist jedenfalls meine Wahrnehmung. Aber das betrifft generell die Frage, wer studieren geht – und wer nicht.

Wie sieht Ihr Hintergrund aus?
Mein Vater war Maurer und später Hochbau­zeichner, meine Mutter Pflege­helferin. Wir wohnten in einem ganz normalen Quartier mit Miet­wohnungen. Auch heute lebe ich mit meiner Familie in einer Gegend, die in jeder Hinsicht durchmischt ist. Das war ein bewusster Entscheid. Es ist ein Quartier, in dem neben Akademikern viele Arbeiter und Handwerker wohnen, auch viele Ausländer. Das ziehen wir einem Viertel, in dem nur Reiche und Akademiker leben, ganz klar vor. Meine Herkunft hat mich geprägt. Ich finde es wichtig, dass ein Gerichts­gremium die verschiedensten Hinter­gründe widerspiegelt. Denn die Fälle, die wir vor Gericht antreffen, sind genauso vielfältig. Wir haben alles, vom gut verdienenden Akademiker bis zum sozialhilfe­abhängigen Drogen­süchtigen – die ganze Bandbreite an menschlichen Existenzen.

Wie stark muss sich eine Richterkandidatin in der Partei engagieren, dass sie die Chance hat, portiert zu werden? Haben brave Partei­soldaten die besseren Karten als Juristinnen, die keine Lust haben, Flyer zu verteilen und an Stand­aktionen mitzumachen?
Das mag früher der Fall gewesen sein. Heute können die meisten Parteien, von links bis rechts, bei den Richter­wahlen nicht mehr auf einen riesigen Pool an langjährigen Partei­mitgliedern zurückgreifen. Da können interne Partei­verdienste nicht den Ausschlag dafür geben, ob man vorgeschlagen wird oder nicht.

Ein weiteres Argument gegen den Parteiproporz, weil die potenziellen Richter nur einer Partei beitreten, um ins Amt gewählt zu werden. Das hat nichts mit einer transparenten Werte­haltung zu tun.
Nein, das sehe ich nicht so. Es mag wohl sein, dass Juristen heute vermehrt im Hinblick auf eine Vakanz einer Partei beitreten. Der Zeitpunkt des Partei­beitritts sagt aber nichts darüber aus, ob die betreffende Person die Werte der Partei teilt oder nicht. Dass Leute einer Partei beitreten, deren Werte­haltung sie nicht vertreten, entspricht nicht meiner Erfahrung.

Zurück zur periodischen Wiederwahl der Richter. Und damit zur Justiz­initiative. Die Schweizerische Richter­vereinigung lehnt sie ab. Warum?
Das Begehren macht zwar auf gewisse Schwächen aufmerksam, gerade in Bezug auf die periodische Wieder­wahl oder auf die Mandats­steuer. Doch die Justiz­initiative löst die Probleme nicht überzeugend. Die Richter­vereinigung hat grosse Bedenken wegen des vorgeschlagenen Losverfahrens. Damit würde die demokratische Legitimation der Richter geschwächt.

Was schlägt die Richter­vereinigung vor?
Wir haben Bundesrat und Parlament aufgefordert, die bestehenden Schwächen mit einem Gegen­entwurf anzugehen. Das ist leider nicht passiert. Wir haben drei Verbesserungen vorgeschlagen: die Einführung der einmaligen Wahl mit der Möglichkeit der Amts­enthebung aus triftigen Gründen, wie das heute schon der Kanton Freiburg kennt; als einziger Kanton in der Schweiz. Ausserdem die Abschaffung der Mandats­steuer sowie eine Professionalisierung des Auswahl­verfahrens.

Was möchten Sie am Auswahlverfahren ändern?
Die Kriterien müssen objektiviert und konkretisiert werden. An der Wahl durchs Parlament halten wir fest. Idealerweise würde aber eine neue, unabhängige Kommission eingesetzt, die sich aus Fachleuten aus der Wissenschaft, der Anwaltschaft und den Gerichten zusammensetzt. Sie soll dem Parlament und der Gerichts­kommission beratend zur Seite stehen, die Kandidaturen vorgängig prüfen und Empfehlungen abgeben.

Dann hätten auch Parteilose eine Chance?
Ja, denn die Fachkommission würde die Kandidaturen nach festgelegten Kriterien prüfen: Fachkompetenz, Sozial­kompetenz, Lebens­erfahrung, Geschlecht und Sprache. Auch Nicht­parteimitglieder können ihre Kandidaturen einreichen. Eine ausgewogene Zusammen­setzung der Gerichte nach weltanschaulichen Kriterien muss dabei ein Ziel bleiben. Unabhängig davon, ob jemand in einer Partei ist oder nicht.

Herr Guidon, hat die Bevölkerung eigentlich Vertrauen in die hiesige Richterschaft?
Sämtliche wissenschaftlichen Studien kommen zum Schluss, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz sehr hoch ist. Auch im Vergleich zu anderen Behörden. Wenn die Initianten also sagen, man könne den Richtern nicht trauen, weil sie vom Parlament gewählt werden, so trifft dies nicht zu.

Bloss weiss kein Mensch, wie die Gerichte arbeiten.
In den letzten Jahren ist viel passiert in Sachen Öffentlichkeits­arbeit. Aber es stimmt, die Richterinnen und Richter müssen ihre Arbeit immer wieder erklären. Das gehört zu einem modernen Staats­verständnis, zur Aufgabe der Gerichte. Es ist wichtig, aufzuzeigen, dass die Richter keine abgehobene Kaste sind. Sondern Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen.

Zur Transparenz

Die Justizinitiative, über die es in diesem Beitrag auch geht, wurde von einem Aktionär der Republik lanciert. Warum wir trotzdem auch darüber kritisch berichten können – und Sie uns dabei nicht einfach vertrauen müssen.

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