Bundesrat warnt vor Stromlücken, Armee verpulvert IT-Budget und keine Folter in Schweizer Asylzentren
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (164).
Von Elia Blülle, Dennis Bühler und Cinzia Venafro 21.10.2021
Vor lauter Nachrichten den Überblick verloren? Jeden Donnerstag fassen wir für Sie das Wichtigste aus Parlament, Regierung und Verwaltung zusammen.
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2000 Gaskraftwerke. Damit soll die Schweiz nach den Vorstellungen des Energieverbands Powerloop möglichen Stromengpässen vorbeugen. Die Idee mag zunächst abstrus wirken, will doch die Schweiz so rasch wie möglich von fossilen Brennstoffen wegkommen. Aber im Zuge der Energiewende drohen ernsthafte Versorgungsprobleme, die schnelle Lösungen erfordern.
Hintergrund: Das institutionelle Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU wäre Voraussetzung für ein Stromabkommen gewesen, das der Schweiz einen vollwertigen Zugang zum europäischen Strombinnenmarkt gewährt hätte. Nachdem die Schweiz das Rahmenabkommen beerdigt hat, liegt aber auch das Stromabkommen auf Eis.
Eine im Auftrag des Bundes erstellte und letzte Woche veröffentlichte Studie skizziert nun, was passieren könnte, wenn die Schweiz weder über ein Stromabkommen mit der EU noch über technische Vereinbarungen mit EU-Ländern verfügt.
Im schlimmsten Fall, so die Studie, könnte ab 2025 der inländische Strombedarf für 47 Stunden nicht mehr gedeckt werden. Ein solcher Stromausfall würde mehrere Milliarden Franken kosten. Deshalb erhielten nun 30’000 Unternehmen Post aus Bern: Der Bund könne Firmen, die jährlich mehr als 100’000 Kilowattstunden Strom verbrauchen, zwingen, im Ernstfall ihren Stromverbrauch zu drosseln.
Der Bau von 2000 kleinen Gaskraftwerken würde es der Schweiz ermöglichen, im Notfall die Stromversorgung aufrechtzuerhalten und damit hohe wirtschaftliche Kosten zu verhindern. Der Vorschlag erhält breite Unterstützung. SP-Nationalrat und Energiepolitiker Roger Nordmann bezeichnet ihn gegenüber der «NZZ am Sonntag» als «vielversprechend».
Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder stellt derweilen das AKW-Bauverbot infrage und fordert eine Verlängerung der Laufzeiten der bestehenden Atomkraftwerke. «Alles andere wäre töricht», sagte er im Gespräch mit der «SonntagsZeitung».
Der Bundesrat prüft nun verschiedene Massnahmen. Ausserdem wird das Parlament bald das überarbeitete Stromversorgungsgesetz behandeln, das eine längerfristige sichere Versorgung mit erneuerbaren Energien garantieren soll. Die einfachste Lösung der unmittelbaren Probleme wäre eine ausgebaute Kooperation mit der Europäischen Union.
Nach dem einseitigen Verhandlungsabbruch wird die EU aber nicht sofort wieder mit der Schweiz an einen Tisch sitzen.
Und damit zum Briefing aus Bern.
Asylzentren: Bericht bestreitet Folter – Kritik an privatem Sicherheitspersonal bestätigt
Worum es geht: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat den Untersuchungsbericht über die Anwendung exzessiver Gewalt in Bundesasylzentren vorgestellt. Untersucht hatte Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer schwere Vorwürfe, die «Amnesty Schweiz», die SRF-«Rundschau» und die Wochenzeitung WOZ im Frühling erhoben hatten. Im Kern kommt Oberholzer zum Schluss: Es gebe keine Hinweise darauf, dass Rechte von Asylsuchenden «systematisch» missachtet würden. Diese Lesart unterstreicht das SEM denn auch in seiner Kommunikation. Doch in Oberholzers Untersuchungsbericht wird das SEM auch scharf kritisiert: So hätten Mitarbeiter der privaten Sicherheitsdienste sehr wohl «in einzelnen Fällen unverhältnismässigen Zwang angewendet». In sechs Fällen wurde dazu eine Strafuntersuchung eingeleitet.
Warum Sie das wissen müssen: Die Vorwürfe vom Frühling waren happig: Es würden «schwere Misshandlungen» durch das Sicherheitspersonal begangen. «Die für diese Recherche gesammelten Fälle und Informationen deuten auf schweren Missbrauch hin, der in einzelnen Fällen den Tatbestand der Folter oder anderer Misshandlungen erfüllen und die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz verletzen könnte», schrieb Amnesty International. Den Foltervorwurf sieht Oberholzer nun nicht bestätigt. Hingegen teilt er die Kritik am Einsatz privater Sicherheitsfirmen. Das SEM hatte im Zuge des revidierten Asylgesetzes die Sicherheitsaufgaben in Bundesasylzentren an private Unternehmungen ausgelagert, namentlich Protectas und Securitas. Oberholzer empfiehlt dem SEM nun, «die Ausbildung des Sicherheitspersonals zu überprüfen und zu verbessern sowie Schlüsselpositionen in diesem Bereich mit eigenen Mitarbeitenden zu besetzen». NGOs fordern seit Jahren, das Sicherheitspersonal müsse speziell geschult werden, es könne nicht sein, dass in Asylzentren Leute arbeiten, die ansonsten bei Fussballspielen für Sicherheit sorgen.
Wie es weitergeht: SEM-Direktor Mario Gattiker sagte am Montag vor den Medien, gewisse Konflikte seien nicht zu vermeiden. Als Sofortmassnahme kündigte er an, eine Regelung zu den sogenannten «Besinnungsräumen» zu erlassen. Diese dürften «ausschliesslich in Notsituationen» Verwendung finden. Diese «Besinnungsräume» waren von «Amnesty Schweiz» scharf kritisiert worden. Zudem will der Staatssekretär klären, ob es mehr eigene Angestellte brauche. Am Einsatz von Personal von privaten Sicherheitsfirmen will das SEM grundsätzlich festhalten, ohne dieses könnten die Schwankungen der Asylzahlen nicht bewältigt werden. «Wir prüfen aber die Verstärkung des SEM im Sicherheitsbereich und werden in diesem Zusammenhang die Frage klären, ob gewisse Schlüsselpositionen künftig mit SEM-Mitarbeitern besetzt werden sollen», so Gattiker.
Armee: IT-Budget überschritten – jetzt wird bei der Munition gespart
Worum es geht: Der Schweizer Armee laufen die Informatikkosten aus dem Ruder. Wie der «Tages-Anzeiger» berichtet, hat die Armee-Informatik 2021 bereits 460 Millionen Franken für die Informations- und Kommunikationstechnologie budgetiert. Das sind fast 10 Prozent des Gesamtbudgets von 5 Milliarden Franken. Doch das reicht offenbar nicht aus: Wie Armeesprecher Stefan Hofer bestätigt, überschreitet die Armee ihr Informatikbudget um 100 Millionen Franken.
Warum Sie das wissen müssen: Die Budgetüberschreitung ist besonders für Thomas Süssli peinlich – der aus der Privatwirtschaft stammende Armeechef ist selber Wirtschaftsinformatiker und ausgebildeter Programmierer. Ab 2020 habe man bemerkt, dass die Kosten immer höher wurden. «Doch erst im Laufe des Jahres 2021 wurde das volle Ausmass sichtbar», so Armeesprecher Hofer. Besonders unangenehm für Süssli: Er hatte vor seiner Berufung an die Spitze der Armee just diesen Bereich verantwortet, der jetzt viel zu teuer wird.
Wie es weitergeht: Derzeit gibt es 100 Vollzeitstellen für die Informatikprojekte der Armee. «Doch um alle derzeit laufenden Projekte im geplanten Umfang ausführen zu können, bräuchten wir circa 400», so der Sprecher. Um diese Leute zu finanzieren, muss anderswo gespart werden. So habe man in den letzten Monaten notfallmässig Gelder umgeschichtet: Man beschaffte weniger Munition und konnte so 60 der fehlenden 100 Millionen einsparen. Sicherheitspolitikerinnen reagieren irritiert. Für die Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission Ida Glanzmann muss «sicher eine Diskussion stattfinden», und FDP-Ständerat Josef Dittli will von der Armee wissen, wo die Probleme denn genau lägen.
Frontex: Referendum gegen mehr Geld aus der Schweiz
Worum es geht: In der Herbstsession hat das Parlament dem Antrag des Bundesrats zugestimmt, die Schweiz möge sich finanziell stärker an der Europäischen Grenz- und Küstenwache Frontex beteiligen. Am Mittwoch hat die Regierung entsprechende Anpassungen auf Verordnungsebene in die Vernehmlassung geschickt. Doch es formiert sich Gegenwehr.
Warum Sie das wissen müssen: Seit fünf Jahren rüstet die Europäische Union Frontex mit Personal und technischer Ausrüstung auf. Weil es sich um eine Weiterentwicklung des Schengen-Abkommens handelt, muss auch die Schweiz ihren Beitrag dazu leisten – von ursprünglich 14 Millionen Franken pro Jahr steigt dieser bis 2027 auf 61 Millionen jährlich. Im Juni sagte der Ständerat Ja dazu, im September der Nationalrat. In beiden Kammern kam es allerdings zu grossen Diskussionen. Nur knapp scheiterten Anträge, die Schweiz solle in Zusammenarbeit mit dem Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR deutlich mehr Resettlement-Flüchtlinge aufnehmen. Am vergangenen Freitag hat das linke Aktivistennetzwerk «Migrant Solidarity Network» angekündigt, das Referendum gegen den Parlamentsentscheid zu ergreifen. Frontex schotte Europa gewaltsam ab und mache Flucht und Migration unsicherer, heisst es in einer Mitteilung. Frontex spiele eine zentrale Rolle bei der «Entrechtung und der Entwürdigung von Flüchtlingen durch Abschiebungen». Im Frühling zeigten Recherchen der Republik, dass Frontex mit der libyschen Küstenwache kooperiert und Flüchtlinge so in Lebensgefahr bringt.
Wie es weitergeht: Das «Migrant Solidarity Network» hat bis zum 20. Januar 2022 Zeit, um 50’000 Unterschriften zu sammeln. Schon zuvor – am 22. Dezember 2021 – endet die Vernehmlassung des Bundesrats zu den gestern beschlossenen Ausführungsbestimmungen.
Organspende: Referendum gegen «erweiterte Widerspruchslösung»
Worum es geht: In der Herbstsession hat das Parlament einen indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» angenommen, laut dem für eine Organspende künftig keine explizite Zustimmung mehr nötig sein soll. Kirchliche Kreise sammeln nun Unterschriften für ein Referendum.
Warum Sie das wissen müssen: Die Volksinitiative sah vor, dass von der Zustimmung zur Organspende ausgegangen werden soll, sofern die verstorbene Person dieser zu Lebzeiten nicht widersprochen hat («enge Widerspruchslösung»). Der von National- und Ständerat am 1. Oktober gutgeheissene Gegenvorschlag geht etwas weniger weit: Die «erweiterte Widerspruchslösung» gibt den Angehörigen der verstorbenen Person das Recht, die Organentnahme zu untersagen, wenn sie damit dem mutmasslichen Willen der verstorbenen Person entsprechen. Das Komitee hat angekündigt, seine Initiative zurückzuziehen, sofern der Gegenvorschlag in Kraft tritt. Verhindert werden kann dies nur noch mittels Volksabstimmung – und just das hat ein Komitee im Sinn, das sich Ende vergangener Woche an die Öffentlichkeit wandte. Ihm gehören Vertreterinnen aus Politik, Ethik und Theologie an, bekannteste Exponentin ist die ehemalige EVP-Präsidentin Marianne Streiff. Sie warnen vor einer Verletzung des Rechts auf Selbstbestimmung. Dieses erlaube einen Eingriff in den Körper nur nach informierter Zustimmung der betroffenen Person.
Wie es weitergeht: Das Komitee hat bis zum 20. Januar 2022 Zeit, um 50’000 Unterschriften zu sammeln. Gelingt es ihm nicht, tritt die neue Regel im Jahr 2023 in Kraft. Auch gegen eine zweite in der Herbstsession verabschiedete Gesetzesänderung ist vergangene Woche ein Referendum ergriffen worden: Der Jungfreisinn, der GLP- und der SVP-Nachwuchs wollen die «Lex Netflix» verhindern, die private TV-Sender und Streaming-Anbieter verpflichtet, künftig vier Prozent ihres hierzulande erzielten Umsatzes in Schweizer Produktionen zu investieren.
Cannabisliberalisierung: Der nächste Schritt ist gemacht
Worum es geht: Cannabis soll nicht mehr generell verboten sein. Nach der zuständigen Nationalratskommission sprach sich diese Woche auch die Gesundheitskommission des Ständerats deutlich für einen weiteren Liberalisierungsschritt aus. Dabei geht es um eine Neuregelung für Produktion, Handel und Konsum.
Warum Sie das wissen müssen: Seit Jahren gibt es Diskussionen um die Liberalisierung von Cannabis. Je nach Kanton geht die Polizei unterschiedlich gegen Kifferinnen vor. Mittlerweile haben auch frühere Gegner umgedacht – zum Beispiel der Initiant der nun vorgeschlagenen Neuregelung, der Berner Mitte-Nationalrat Heinz Siegenthaler. Früher hielt der Bauer Cannabis für «etwas Furchtbares». Dann begann er selbst Hanf anzubauen und probierte sogar mal ein Stück Haschkuchen. Und seit dem damit verbundenen «Mega-Flash» kämpft er für die Liberalisierung. Er lancierte eine parlamentarische Initiative, die «Regulierung des Cannabismarkts für einen besseren Jugend- und Konsumentenschutz». Siegenthaler und rund 40 Mitunterzeichner wollen damit den Schwarzmarkt austrocknen und die Qualität der Hanfprodukte sicherstellen. Heute wüssten Konsumentinnen schlicht nicht, was sie konsumieren.
Wie es weitergeht: Als Nächstes geht das Geschäft in die grosse Kammer. Nächstes Jahr starten in verschiedenen Schweizer Städten Pilotversuche. Dort werden in Apotheken und sogenannten Social Clubs Cannabisprodukte legal verkauft. Erst im Frühjahr hatte das Parlament mit einer Gesetzesänderung den Anbau und Verkauf dafür mittels «Experimentierartikel» erlaubt.
Patient der Woche
«Ohne zusätzliche Sauerstoffzufuhr hätte ich es nicht geschafft», erzählte Peter Hegglin Ende Juli dem «Blick». Der Zuger Mitte-Ständerat hatte im Juni sechs Tage wegen einer Corona-Infektion auf der Intensivstation gelegen. Ungeimpft. Jetzt fordert ausgerechnet der einstige Patient die Aufhebung der Corona-Massnahmen: «Wenn man Geimpfte und Genesene zusammennimmt, haben wir eine Impfquote von über 80 Prozent – das reicht, um die Massnahmen aufzuheben.» Die Warnungen des BAG, dass durch die tiefen Temperaturen die Ansteckungszahlen wieder zunehmen würden – und, wie am Dienstag verkündet, sogar eine Trendwende da ist, teilt er nicht. Hobbyvirologe Hegglin ist überzeugt: «Die Durchseuchung der Gesellschaft ist so weit fortgeschritten, dass es nicht mehr zu einer Überlastung der Spitäler kommen wird.» Besonders enerviert sich der ehemalige Intensivpatient über das Covid-Gesetz, über das am 28. November abgestimmt wird. Im Stöckli sagte er dazu zwar noch zähneknirschend ja, aber anders als seine Partei will er sich im Abstimmungskampf nicht dafür einsetzen. Vielleicht lege er ein Nein dazu in die Urne: «Das hängt von der Ausstiegsstrategie des Bundesrats ab», sagt er. Es bleibt zu hoffen, dass die Sauerstoffzufuhr für Patient Hegglin nie mehr von einem freien Intensivbett abhängt.
Illustration: Till Lauer