Happening

Wer schwächelt, stirbt

Die Serie «Squid Game» hat einen gigantischen Hype ausgelöst. Dabei ist sie auch gigantisch brutal. Soll man sich das antun?

Von Ronja Beck, 15.10.2021

Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!

In der südkoreanischen Serie «Squid Game», die vor ein paar Wochen auf Netflix angelaufen ist, werden Kopfschüsse wie Handküsse verteilt. Fliehenden wird in den Rücken geschossen, Körper bleiben leblos in roten Pfützen liegen. Allein in der ersten Folge werden Hunderte Menschen ermordet. Und zwar nicht: Peng, Mann fällt um, Schnitt. Nein, das Blut spritzt in Zeitlupe aus den Körpern Richtung Kamera.

Sollte man sowas zeigen? Und vor allem: Sollte man sich das anschauen?

In «Squid Game» werden Menschen, die hochverschuldet sind oder anderweitig mit dem Schicksal auf Kriegsfuss stehen, einem perfiden Spiel ausgesetzt. Als Arena dient eine eigenartige Anlage, optisch irgendwo zwischen Militärbunker und verzwickter, letztlich ins Nichts führender M.-C.-Escher-Treppe angesiedelt. Dort müssen sich die Squid Gamer (wörtlich: Tintenfischspieler) in mehreren Runden durch Kinderspiele kämpfen. Wer am Ende gewinnt, kriegt eine gewaltige Menge Geld. Aber, kleiner Haken: Wer verliert, der wird erschossen. Und es verlieren sehr viele in diesem Spiel.

«Squid Game» hat im ersten Monat so viele Menschen erreicht wie noch keine Netflix-Serie zuvor. Und wenn eine gewalttätige Serie einen derart grossen Erfolg feiert, muss das früher oder später in der Frage gipfeln:

Was macht das eigentlich mit den Kindern?!

Vor vier Tagen schrieb das deutsche Magazin «Stern» über «Squid Game»: «Die brutalen Bilder und die körperliche und psychische Gewalt, die in der Serie dargestellt wird, scheinen auf einige Kinder keinen guten Einfluss zu haben.»

Hintergrund: In einer belgischen Schule hätten Kinder ein Spiel aus der Serie nachgespielt – und die Verlierer zwar nicht erschossen, aber doch immerhin verprügelt. In verschiedenen Schulen weltweit, so der «Stern», würden Eltern inzwischen vor der Serie gewarnt.

Auf den Pausenhöfen meiner Kindheit wurde übrigens auch geprügelt. Warum, weiss ich nicht mehr. Vielleicht wegen der toxischen Maskulinität von Super Mario. Oder wegen Arabella Kiesbauer. Wahrscheinlich prügelten wir uns wegen Pro-7-Moderatorin Arabella Kiesbauer.

Die Gewalt schiesst der Zuschauerin in «Squid Game» nur so ins Gesicht. Sie ist explizit, schonungslos und anonym. Die Menschen sterben in Slow Mo, damit auch ja keiner das Grauen verpasst. Klingt komisch, aber das hat alles seine Berechtigung.

«Squid Game» zitiert laufend aus der dicken Bibel der Kapitalismuskritik: Es geht um die Lüge von der Chancengleichheit, um Selbstverrat des Geldes wegen, um eine manipulative Elite, die sich am Gemetzel bereichert. Offiziell haben die Kandidatinnen die Wahl, ob sie an dem Spiel teilnehmen wollen. Aber natürlich haben sie in Wirklichkeit keine Wahl, weil zuhause in ihrem Alltag nur Abgrund auf sie wartet.

In diesem sogenannten battle royale (die Stärkste gewinnt) braucht es die Gewalt. Weil sie ein inhärenter Teil des Systems ist, das Regisseur und Drehbuchautor Hwang Dong-hyuk kritisiert.

Dieses System, sagt uns Dong-hyuk, tut weh, und deshalb muss es auch beim Zuschauen weh tun. Jeder Mord, verübt meist durch anonyme Soldaten an Kandidatinnen, die die gewünschte Leistung nicht erbringen, ist für die Charaktere wie auch für die Zuschauerinnen ein Schock. Die Täter sind Täter, keine Helden, wie das zum Beispiel ein James Bond ist, wenn er im Tuxedo Headshots verteilt. Das ist heftig, ja. So heftig, dass die Serie manchmal fast ins Satirische kippt.

Doch ohne die explizite Gewalt wäre «Squid Game» nichts anderes als eine überlange Runde «Fortnite». Und ich spreche aus Erfahrung, wenn ich schreibe, dass das nichts ist, bei dem Sie zuschauen wollen.

Die Gewalt in «Squid Game» muss sein, denn sie ist die Gewalt des Gesellschafts­systems, das Dong-hyuk anklagt. Ohne sie wäre diese Anklage dünn wie Brühe.

Am Ende der Staffel dann wird wenig überraschend klar, was das Morden bewirkt: nichts Gutes. Als Zuschauerin verlässt man die Serie geläutert. Nicht gegruselt wie bei einem Splatter-Film oder bespasst wie bei James Bond.

Man kann jetzt sagen, dass das Konzept von «Squid Game» etwas gar aufgesetzt ist. Und alles andere als neu, siehe «Hunger Games» und Co. Oder dass die Star-Wars’sche Wendung gegen Ende der Serie vorhersehbar ist.

Vielleicht zielt so eine Haltung, wie sie etwa der Kritiker der« New York Times» einnimmt, aber auch gerade daneben.

«Squid Game» kommt zu einer Zeit, in der viele Menschen, vor allem jüngere, desillusioniert sind. Mit Pandemie, breitflächiger Verschuldung und dem Wissen, dass die Reichen nochmal reicher und die Armen ärmer geworden sind, ist der Gedanke naheliegend, dass die Spielregeln des grossen Ganzen gar nicht mal so fair sind. Und so stösst die Serie – die Viewer-Zahlen zeigen es – voll auf Gold. Natürlich mit der ironischen Pointe, dass sie ausgerechnet auf der Plattform eines superkapitalistischen Tech-Giganten zu sehen ist.

«Squid Game» tut weh. Es ist ein Schmerz, den viele Zuschauerinnen wiedererkennen werden. Lassen wir uns nicht von Pausenhof­prügeleien darüber hinwegtäuschen.

(Obwohl die natürlich auch wehtun.)

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!