Nicht von dieser Welt

War der 14. Oktober 2017 ein ziemlich normaler Tag, der wichtigste Tag der Geschichte – oder der Anfang vom Ende der Menschheit? Oder anders gefragt: Was zur Hölle ist Oumuamua?

Von Constantin Seibt, 15.05.2021

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So sieht Oumuamua aus. Vielleicht. Aber vielleicht auch überhaupt nicht. Science Photo Library/Imago

Was war das? Im Grunde gibt es drei radikal verschiedene Möglichkeiten:

  1. Die schlechteste Nachricht, die die Menschheit je bekommen hat: mit hoher Wahrschein­lichkeit ihr Todesurteil.

  2. Der Beginn einer kühnen Wette auf eine noch kühnere Zukunft.

  3. Ein Stück Weltraum-Seife.

Aber von Anfang an:

Am 19. Oktober 2017 entdeckte der Astronom Robert Weryk einen winzigen Licht­punkt, der sich mit bisher ungesehenem Tempo von der Sonne entfernte – mit rund 300’000 Kilometern pro Stunde.

Das bedeutete, dass der Punkt schnell genug war, um der Anziehungs­kraft der Sonne zu entkommen. Und weiterhin, dass er nie Teil ihres Systems gewesen war.

Dafür sprach auch die Flugbahn. Sie schnitt das scheiben­förmige Sonnen­system fast rechtwinklig. Am 9. September kam das Objekt der Sonne am nächsten, am 14. Oktober passierte es – noch unentdeckt – die Erde in nur etwa 24 Millionen Kilometer Abstand und entfernte sich danach eilig in Richtung des Stern­bilds Pegasus.

Sämtliche Astronominnen waren sich darin einig, dass Weryk eine Sensation entdeckt hatte: das erste interstellare Objekt.

Damit endete ihre Einigkeit.

Daten

Das Observatorium, in dem Weryk arbeitete, ist eines der besten der Welt. Um die zwei Teleskope so gut wie möglich von Licht- und Luft­verschmutzung abzuschirmen, hatte man sie an einem sehr romantischen Ort gebaut: 3000 Meter über dem Meer, in einem erloschenen Vulkan­krater in Hawaii, dem Haleakalā.

Deshalb wurde das neu entdeckte Objekt auf Hawaiianisch getauft: Oumuamua – was (je nach Übersetzung) Folgendes bedeutet: «Anführer», «der Allererste, der kommt», «Bote aus der Vergangenheit» oder «ein Späher von weit weg, der uns nun erreicht hat».

Nach Weryks Entdeckung richten sich die Teleskope des Planeten auf Oumuamua. Wegen dessen Geschwindigkeit blieb für Beobachtungen nur eine Woche Zeit. Aber das genügte, genug präzise Daten zu sammeln, um maximale Unklarheit herzustellen.

So unklar, dass ein Harvard-Astronom fluchte: «Oumuamua ist so verwickelt, dass mir lieber wäre, man hätte es nie entdeckt!»

Die Unklarheit begann schon bei der Katalogisierung. Die astronomische Union war gezwungen, das Objekt innert dreier Wochen dreimal neu zu taufen: Zunächst auf «C/2017 U1» – das «C» steht für Komet. Dann korrigierte sie auf «A/2017 U1» – das «A» steht für Asteroid. Schliesslich entschied sich die Behörde am 6. November 2017 für den endgültigen Namen: «1I/2017 U1» oder auch «1I/ʻOumuamua» – wobei das «I» für Interstellar steht.

Der Grund für die Umetikettierungen: Oumuamua tat gleich mehrere Dinge, die keines der zuvor katalogisierten 600’000 Objekte aus dem Sonnen­system je getan hatte.

Und zwar Folgendes:

  • Kein Wunder, wurde Oumuamua deshalb zunächst für einen Kometen gehalten. Denn diese verhalten sich exakt gleich: Sie beschleunigen ebenfalls in Sonnen­nähe, ebenfalls abnehmend mit dem Quadrat der Entfernung. (Das, weil Kometen schmutzige Schnee­bälle aus Eis, Stein und Staub sind. Je näher sie der Sonne kommen, desto stärker verdampft das Eis – was ihnen einen Rückstoss gibt.)

  • Nur fehlte bei Oumuamua das Merkmal aller Kometen: der Schweif. Die Instrumente fanden keine Spur von austretenden Gasen. Also wurde es zu einem Asteroiden umetikettiert. (Ein trockener Brocken Stein oder Metall, der durchs All rast.)

  • Doch dazu passte wiederum die für Kometen typische Beschleunigung nicht. Also erfand die astronomische Union mit diplomatischem Geschick die neue Kategorie «Interstellar».

  • Zusätzlich verhielt sich der winzige Licht­punkt irritierend exzentrisch. Zum Ersten war er für ein winziges Objekt viel zu hell – seine Oberfläche reflektierte das Licht zehnmal stärker als alle bisher beobachteten Asteroiden oder Kometen. Zum Zweiten nahm die Helligkeit in einem Zyklus von 8 Stunden erst um den Faktor 10 ab und dann wieder zu.

  • Erste Computer­simulationen ergaben, dass Oumuamua also auch eine für Weltraum­trümmer einzigartige Form haben musste: eine etwa 800 Meter lange, rötlich-schwarze Zigarre, die auf- und abwippend um zwei Achsen gleichzeitig rotierte. Jemand in der Nasa zeichnete ein Bild, das sofort um die Welt ging.

Rätselhaft, in jeder Beziehung. Science Photo Library/Keystone

Misstrauische Köpfe brauchten nicht lange, um festzustellen, dass Oumuamuas Flug­bahn eine weitere exzentrische Eigenschaft hatte. Es war eine fast perfekte Route, beinahe so, als habe jemand geplant, alle vier inneren Planeten des Sonnen­systems zu beobachten. Nicht zuletzt die Erde, der sich Oumuamua auf ein Viertel ihres Abstands zur Sonne näherte. Jede nur halb brauchbare Kamera hätte das künstliche Licht auf der Nacht­seite fotografieren können.

Kein Wunder, richteten die Wissenschaftler von Seti, die normaler­weise den Himmel nach ausser­irdischen Funk­sprüchen abhörten, ihren Wald von Radio­teleskopen auf den verdächtigen Eindringling. Doch Oumuamua blieb stumm.

All diese Theorien

Mit der Zeit erschienen die ersten Erklärungsversuche:

  • Die vietnamesisch-amerikanische Forscherin Jane Luu vermutete, dass Oumuamua im Prinzip eine Art Staubwusel war: ein lang gestrecktes Häufchen von losem kosmischem Schmutz, das nur durch statische Elektrizität zusammen­gehalten wurde.

  • Etwas Ähnliches vermutete Amaya Moro-Martín vom Space Telescope Science Institute in Baltimore: ein poröser Teppich, fast zwei­dimensional, gewebt aus einer fraktalen Struktur von Eis und Staub.

  • Darryl Seligman und Greg Laughlin von den Universitäten Chicago und Yale dagegen berechneten, dass es sich bei Oumuamua um einen beinahe lupen­reinen Eisberg aus gefrorenem Wasserstoff handeln könnte. Ein kosmischer Eisberg würde nicht nur die Beschleunigung erklären, sondern auch die Abwesenheit des Schweifs – weil reiner Wasser­stoff für weit entfernte Instrumente so gut wie unsichtbar ist.

  • Yun Zhang vom Observatoire de la Côte d’Azur und Douglas Lin von der UC Santa Cruz entdeckten mithilfe von Computer­simulationen, dass eine Zigarre dann ein plausibler Trümmer eines Asteroiden sein kann, wenn dieser zu nah an seinem Heimat­stern (wahrscheinlich einem Weissen Zwerg) vorbeiflog und dabei durch die Gravitations­kräfte zerrissen wurde.

Sind Gravitationskräfte für die Zigarren­form verantwortlich? Eine Illustration von Yun Zhang und Douglas Lin.

Fast alle Autorinnen führten an, ein grosser Vorzug ihrer Theorie sei, dass Oumuamua damit endlich natürlich erklärt werde – und nicht mithilfe von Ausserirdischen.

Das richtete sich gegen den Harvard-Professor Avi Loeb, der zum Entsetzen seiner Kollegen mit seinem Assistenten Shmuel Bialy ein mit Formeln und Tabellen vollgestopftes Papier geschrieben hatte, in dem er die These aufstellte, dass die wahrscheinlichste Hypothese bei Berücksichtigung aller bekannten Daten sei, dass Oumuamua ein etwa 500 Millionen Jahre altes Stück Weltraum­schrott sei.

Alien

Loeb berief sich dabei auf Sherlock Holmes: «Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, egal wie unwahrscheinlich es ist.»

Um alles Unmögliche zu eliminieren, drehte Loeb allen anderen Erklärungs­versuchen den Hals um.

Zum ersten wies er – zu Recht – darauf hin, dass sämtliche Autorinnen als «natürliche» Erklärung auf eine Lösung kamen, die noch nie zuvor in der Natur beobachtet worden war. Zu den 600’000 bisher im Sonnen­system katalogisierten Objekten gehören weder ein galaktischer Staub­wusel noch ein fraktaler Teppich noch ein zigarren­förmiger Trümmer noch ein Klumpen pures Wasserstoffeis.

Die Erklärungen waren, doppelte Loeb nach, nicht nur in der Natur, sondern sogar in der Theorie unmöglich: Die Wusel zu wenig stabil, das Wasserstoff­eis wäre auf der Milliarden Jahre dauernden Reise von seinem einzig möglichen Entstehungs­ort, einer ultra­kalten Gaswolke, schon spätestens nach 10 Millionen Jahren geschmolzen.

Dazu erklärte selbst auf dem Reiss­brett keine der Annahmen alle Phänomene: die Zigarren­theorie etwa nicht die Beschleunigung, die Eis­theorie nicht, wie Oumuamua trotz ausströmenden Gasen mindestens eine Woche lang stoisch die acht­stündige Rotations­periode beibehalten hatte.

Das Schockierende war, dass Avi Loeb nicht irgendwer, sondern einer der führenden Köpfe seiner Branche ist: Professor für theoretische Astrophysik in Harvard – und dort der am längsten amtierende Vorsteher für den Fachbereich Astronomie.

Und nicht zuletzt war Loeb einer der produktivsten Autoren seines Fachs: 800 wissenschaftliche Aufsätze, am häufigsten zu seinem Spezial­gebiet, der Dämmerung im Universum, das 100 bis 200 Millionen Jahre stockdunkel war, bis die ersten Sterne geboren wurden. Aber daneben hatte Loeb auch Hunderte Papiere zu Themen veröffentlicht, die das Weltall furcht­erregend, spektakulär und verstandes­sprengend machen: massive schwarze Löcher, Gamma­blitze, hyperschnelle Sterne (mit fast Licht­geschwindigkeit), die Entstehung von Super­erden, mögliche Biomarker auf Exoplaneten, der künftige Zusammen­stoss von Andromeda-Galaxie und Milch­strasse. Dazu hatte Loeb eine Menge praktischer Methoden entwickelt: Seine berühmteste war die – 2019 ausgeführte – Idee, wie man von der Erde aus den Schatten eines Schwarzen Lochs fotografieren könnte.

Schon seit langem hat Loeb eine Ader für Exzentrik: Er ist begeisterter Unterstützer des Seti-Programms zum Abhorchen des Himmels nach den Signalen von Ausser­irdischen. Und wurde 2016 Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der «Starshot»-Initiative des russischen Internet-Milliardärs Juri Milner, der 100 Millionen Dollar gespendet hatte – mit dem Ziel, noch zu Lebens­zeiten Milners eine Sonde zum nächsten, fast 4,3 Licht­jahre entfernten Stern Alpha Centauri zu schicken.

Der Plan dafür ist, einen Mini­computer an einem Licht­segel zu befestigen und dieses mit einem ultrastarken Laser innert zweier Minuten auf ein Fünftel der Licht­geschwindigkeit zu beschleunigen.

Kein Wunder, kam Loeb auf die Idee, seine Berechnungen zu Lichtsegeln aus dem Computer zu recyceln. Und sie zusammen mit seinem Assistenten Bialy für Oumuamua durchzurechnen.

Und alles passte – die taumelnde Rotation, die extreme Reflexion, der periodische Helligkeits­wechsel und die sanfte Beschleunigung, angetrieben durch den Strahlen­druck der Sonne. Das unter der Bedingung, dass es ein im Minimum 20 Meter breites, ultra­leichtes Lichtsegel von höchstens 1 Millimeter Dicke war.

Etwa so:

Die Idee mit dem Lichtsegel als Beschleuniger. Wikimedia Commons/Andrzej Mirecki

Die Frage, die sich die Welt danach stellte, war die: Hatte Loeb, weil beschäftigt mit Licht­segeln, deshalb überall Licht­segel gesehen? Oder hatte er, weil beschäftigt mit Licht­segeln, deshalb das Lichtsegel gesehen?

Wie auch immer: Loeb kam zum Schluss, dass die bisher wahrscheinlichste Hypothese im Fall Oumuamua war: ein längst ausrangiertes, spottbilliges Stück Weltraum­technik, das vor etwa 500 Millionen Jahren von wahrscheinlich längst verschollenen Herstellerinnen in Massen­produktion gebaut worden war.

Kurz: eine Art weggeworfene Plastik­flasche am Strand.

Das Papier erschien am 26. Oktober 2018 auf einer wissenschaftlichen Vorpublikations­seite im Netz. Am nächsten Tag stand die Weltpresse in Professor Loebs Vorgarten.

Die Wette

Die Kollegen schüttelten sich angewidert. (Hier ein schönes Beispiel­video.) Und zitierten Sätze wie: «Der wichtigste Grundsatz in der Astronomie ist doch: Es waren nie die Ausser­irdischen.»

Doch Avi Loeb doppelte diesen Januar mit einem schwungvoll geschriebenen Buch mit dem Titel «Ausserirdisch. Intelligentes Leben jenseits unseres Planeten» nach. Es zerfällt in etwa fünf Teile:

  • Die melancholische und charmante Beschreibung des eigenen Lebens als Ergebnis von wenigen eigenen und vielen fremden Entscheidungen: etwa der seines Grossvaters, der die Weitsicht hatte, 1936 aus Nazi­deutschland nach Palästina auszureisen. Oder seine dem Zufall geschuldete Karriere, die damit begann, dass Loeb, der eigentlich Philosophie studieren wollte, in seinem israelischen Militär­dienst in die Abteilung für Waffen­entwicklung versetzt wurde, sich dort für ultra­heisses Plasma (übrigens dem statistisch häufigsten Zustand von Materie in diesem Universum) zu interessieren begann – und von einem Professor in Harvard zu seiner Überraschung ein fünfjähriges Stipendium angeboten bekam, unter der Bedingung, dass er Astrophysik studieren würde. Was er tat – ohne damals auch nur Bescheid zu wissen, wie die Sonne funktionierte.

  • Der Verteidigung der Neugier in den Wissenschaften: Loeb spricht sich für kurze, interessante Papiere und einen nüchternen, poetischen Blick aus – für die akribische Recherche aller Daten und die Bereitschaft, sich durch Anomalien darin jederzeit überraschen zu lassen. Anstatt wie es derzeit Mode ist, immer komplexere mehrdimensionale String- oder Parallel­universums­modelle durchzurechnen, die nur noch mit Mathematik, aber nichts mehr mit dem beobachtbaren Universum zu tun haben. Und er verzweifelt daran, dass seine Studentinnen ihm antworten: Schön, Professor Loeb, Ihre Ideen können Sie sich nur leisten, weil Sie bereits Instituts­leiter in Harvard sind. Wären Sie das nicht, hätten Sie keine Chance mehr, es wieder zu werden. (Der klassische Fall eines Boomers, der die Welt der Millennials nicht mehr versteht.)

  • Zu Oumuamua bringt Loeb eine interessante Zusatz­these: Verblüffender­weise befand sich Oumuamua vor der Begegnung mit unserem Sonnen­system in der Ruhe­position – es flog exakt im durch­schnittlichen Tempo der umliegenden Sterne durch den Raum. Was nur sehr junge Sterne tun und überhaupt nur einer von 500. (Die Sonne beispiels­weise nicht – man könnte sagen, dass nicht Oumuamua das Sonnen­system gekreuzt hat, sondern das Sonnen­system mit über 20 Kilometern pro Sekunde auf Oumuamua geprallt ist.) Kurz, Loeb äussert die Vermutung, dass ein derart im Raum positioniertes Objekt zumindest auf der Erde eine klare Funktion hätte: als Boje. (Oder vielleicht auch: als Alarmanlage.)

  • Loebs wichtigstes philosophisches Anliegen lehnt sich an die berühmte Wette des französischen Mathematikers Blaise Pascal an, eines Pioniers der Wahrschein­lichkeits­rechnung: Es lohne sich, schrieb Pascal, so zu leben, als würde Gott existieren. Tut er das nicht, hat man zwar auf ein paar Vergnügungen verzichtet. Existiert er aber, gewinnt man den Haupt­preis: eine Ewigkeit im Himmel. Und man verhindert das Schlimmste: eine Ewigkeit in der Hölle.

  • Deshalb, so Loeb, lohnt es sich auch – trotz ihrer letztlichen Unbeweisbarkeit – auf die These eines ausser­irdischen Ursprungs von Oumuamua zu setzen: Man gewinnt dadurch die Möglichkeit, die Menschheit, ihre Ziele, ihre Technologien ganz neu zu denken. Und dadurch auf produktive Ideen zu kommen, etwa zu neuen Wissenschafts­zweigen wie etwa Astro­archäologie; zu neuen Technologien wie etwa dem Lichtsegel; zu neuen Überlebens­techniken wie dem Massen­versand von Mini­raumschiffen mit Erbgut. Und man bekäme nicht zuletzt einen wacheren Blick für die Gefahren der Zivilisation – auch hoch entwickelte Technologie schützt nicht vor dem Aussterben.

Der leere Himmel

Beim letzten Thema ist Professor Loeb ungewöhnlich optimistisch – als würde die Warnung bereits vor der Katastrophe schützen. Der Mainstream der philosophisch interessierten Astronomen sieht die Sache anders: Die Entdeckung von Mikroben – vielleicht auf dem Mars oder in der Atmosphäre der Venus – wäre für die Menschheit eine schlimme Nachricht. Die Entdeckung von höher entwickeltem Leben wie Mehrzellern oder sogar komplexeren Tieren wäre eine noch üblere Botschaft. Und das Auffinden von ausser­irdischen Artefakten wäre so gut wie ein Todesurteil.

Das aus einem logischen Grund – dem Fermi-Paradox. 1950 unterbrach der Atom­physiker und Nobel­preis­träger Enrico Fermi ein Mittag­essen in der Universitäts­kantine, zeigte nach oben und fragte: «Wo sind sie alle?»

Das war eine teuflisch gute Frage. Das Universum ist nun 13,8 Milliarden Jahre alt. Die Anzahl der Sterne allein im sichtbaren Universum beträgt etwa 70’000’000’000’000’000’000’000 – 70 Trilliarden. (Angeblich mehr, als es Sand­körner auf der Erde gibt, das haben zumindest australische Astronomen so berechnet, es gibt Gegenstimmen.) Allein in der Milch­strasse befinden sich zwischen 100 und 300 Milliarden Sterne – also zwischen 100 und 1000 Milliarden Planeten. Sollte nur ein winziger Prozent­satz davon tauglich sein, kommt man auf 100 Millionen bis 1 Milliarde bewohnbare Planeten.

Kurz: Der Astronom Carl Sagan hatte recht, als er sagte: «Wenn wir die Einzigen im Universum sind, ist das eine ziemliche Platz­verschwendung.»
Denn wenn das Leben nur einiger­massen verbreitet ist, müsste es in den knapp 9 Milliarden Jahren vor der Existenz der Erde genug Chancen und Zeit gegeben haben, dass sich die Zivilisation und die Technologie so weit hätten entwickeln müssen, dass inter­stellare Raumfahrt möglich sein müsste.

Und trotzdem ist der Himmel vollkommen leer – ohne das geringste Zeichen von Leben, nicht einmal von einer einzigen Bakterie.

Fermi hat recht: Warum zum Teufel ist da niemand?

Die bestechendste Erklärung lieferte 1998 der Physiker und Ökonom Robin Hanson mit seiner Theorie des grossen Filters. Hanson schrieb, dass offensichtlich etwas die Entwicklung zu einer im grossen Stil den Weltraum bereisenden Spezies bis jetzt verhindert hat – weil zumindest eine Stufe des Wegs dorthin derart schwer ist, dass fast alle daran scheitern.

Der grosse Filter kann an sehr vielen Orten sitzen. Etwa

  • bei der Bildung eines geeigneten Planeten (der nicht nur bewohnbar sein muss, sondern – was verblüffend viel Glück braucht – über mindestens 3 Milliarden Jahre durchgehend bewohnbar sein muss);

  • bei der Entstehung von Leben überhaupt;

  • bei der Entwicklung der ersten Mehrzeller;

  • bei der Erfindung von Sex – und damit genetischer Vielfalt;

  • bei der Benutzung von Werkzeugen;

  • beim Aufbau von abstrakter Sprache;

  • bei der Entwicklung von Technologie, später Raum­fahrzeugen (auf reinen Wasser­planeten etwa lässt sich mangels Feuer kein Stahl schmieden);

  • bei der Aufgabe, sich nach der Entwicklung von Technologie nicht selber in die Luft zu sprengen;

  • oder bei weiss der Henker was.

Die entscheidende Frage lautet: Liegt der grosse Filter vor oder hinter uns? Liegt der grosse Filter hinter uns – etwa, weil der Sprung vom Ein- zum Mehrzeller beinahe unmöglich ist –, sind wir fein raus: Wir haben als vielleicht erste Spezies diese Hürde genommen – und haben damit alle Chancen für eine glückliche Zukunft. Liegt der grosse Filter aber vor uns – etwa mit einer von allen bisherigen Zivilisationen gemachten Erfindung, die alles Leben auf dem Planeten vernichtet –, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass wir das gleiche Schicksal erleiden werden wie alle anderen Zivilisationen vor uns.

Deshalb bedeutet jede Entdeckung von ausser­irdischem Leben: Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die tödliche Falle noch vor uns liegt. Und der Fund von ausrangierter ausser­irdischer Technik lässt die Wahrscheinlichkeit fast zur Gewissheit werden. Ist Oumuamua tatsächlich ein Sonnen­segel einer unter­gegangenen Zivilisation, bedeutet das mit einiger Sicherheit das Todes­urteil für die Menschheit: Wir werden den grossen Filter auch nicht überstehen.

Die Ameisenstrasse

Diesen März erschien eine weitere Oumuamua-Theorie – und verschaffte allen anti­ausserirdischen Astro­physikerinnen wie den Anhängern der Theorie des grossen Filters kurz Erleichterung.

Alan Jackson und Steven Desch von der Universität Arizona veröffentlichten zwei Papiere, in denen sie behaupteten, das Rätsel des exzentrischen Eindringlings geknackt zu haben.

Die Lösung: Oumuamua war ein grosser Klumpen Stickstoff­eis, das bei einer Kollision vor rund 500 Millionen Jahren im Chaos bei der Bildung eines jungen Planeten­systems von einem Zwerg­planeten abgesprengt und ins Weltall geschleudert wurde.

Diese Lösung wurde von mehreren Astronominnen als extrem elegant anerkannt. Und zwar deshalb:

  • Zwar hatte noch niemand ein riesiges Stück gefrorenen Stickstoff durch das All treiben sehen – doch 2015 hatte die Sonde «New Horizons» ein enormes Vorkommen davon entdeckt. Fast die ganze Oberfläche des Klein­planeten Pluto liegt unter einem dicken Panzer aus Stickstoff- und Methaneis.

  • Die These von der Jugend des Planeten­systems machte zwei Dinge plausibler: Ein eben entstehendes Planeten­system ist zum einen ein Tollhaus von Kollisionen. Und zum Zweiten statistisch weit häufiger im Vergleich zu den umliegenden Sternen in Ruheposition.

  • Dass sich das Objekt zwar wie ein Komet verhielt, aber kein Schweif sichtbar war, erklärt sich mit Stickstoffeis ganz locker: Gas aus reinem Stickstoff ist für Messungen von der Erde so gut wie unsichtbar.

  • Doch vor allem beeindruckte die Eleganz, mit der Jackson und Desch durch das Material Stickstoff­eis gleich weitere zwei vertrackte Probleme Oumuamuas lösten – den Antrieb und die seltsame Form. Eis reflektiert weit mehr Licht als Stein oder Metall – sodass Jackson und Desch die mutmassliche Grösse von Oumuamua massiv reduzieren konnten, wodurch das Objekt wiederum viel weniger Gas zur Beschleunigung brauchte.

  • Nicht zuletzt löste das Material das Problem der exzentrischen Form. Oumuamua war ursprünglich völlig anders geformt, war aber auf dem langen Weg durch das Sonnen­system zu 95 Prozent geschmolzen. «Stickstoff­eis erklärt alles», erklärte Alan Jackson. «Als die äusseren Schichten verdampften, wurde Oumuamua immer flacher – so wie ein Stück Seife, deren Aussen­schicht bei ihrer Benutzung immer wieder abgerieben wird.»

Nach Berechnungen des Duos sah Oumuamua also etwa aus wie ein Pfannkuchen:

Oder sieht Oumuamua doch so aus? William Hartmann in der «New York Times». William Hartmann/Michael Belton/AP/Keystone

Jacksons Kollege Steven Desch nahm sich danach Professor Loeb vor: «Jeder interessiert sich für Aliens – und vielleicht war es unvermeidbar, dass das erste Objekt von ausserhalb des Sonnen­systems die Leute an Ausser­irdische denken liess (…) Aber es ist in der Wissenschaft wichtig, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen», sagte er bei der Veröffentlichung der Studie. «Doch es brauchte ja nur zwei oder drei Jahre, um für alles, was wir zu Oumuamua wissen, eine vollkommen natürliche Erklärung zu finden: ein Brocken Stickstoff­eis. Das ist keine lange Zeit in der Wissenschaft – und viel zu früh, um zu sagen, dass wir alle natürlichen Erklärungen gefunden haben.»

Nun, damit wäre alles geklärt, ausser … ausser dass – wie Avi Loeb wenig später anmerkte – ein weiteres Mal eine natürliche Ursache präsentiert wurde, die in der Natur noch nie beobachtet worden war. «Warum sollte das erste natürliche Objekt, das wir aus dem inter­stellaren Raum entdecken, so aussehen wie keines, das wir zuvor gesehen haben?»

Und ausserdem finde auch dieses Modell keine Erklärung dafür, warum die Emission von Gas die Rotation eines winzigen Objekts wie Oumuamua unverändert lasse.

Und dazu – so Loeb – besteht das Problem, dass auch gefrorener Stickstoff im All so gut wie nie gänzlich rein vorkommt, da Stickstoff in allen Sternen immer zusammen mit Kohlen­stoff gebildet wird. Und selbst Spuren von entweichendem Kohlen­stoff hätten die Instrumente gemessen.

Oumuamua wird das eigene Rätsel nicht mehr lösen. Aktuell befindet es sich 3,6 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt und wird Ende der 2030er-Jahre die letzten Ausläufer des Sonnen­systems verlassen. (Falls Sie die exakte Entfernung während Ihrer Lektüre wissen wollen, klicken Sie hier.)

Doch, so Professor Loeb, wird mit ziemlicher Sicherheit die Zukunft die Frage klären. Das, weil es statistisch so gut wie ausgeschlossen sei, dass das erste beobachtete interstellare Objekt ausgerechnet ein Unikat wäre. Was auch immer Oumuamua sei, es würden mehr kommen – Eisberge oder Welt­raummüll.

«Das ist, wie wenn man im Bade­zimmer eine Ameise sieht», sagte Loeb. «Dann weiss man, es kommen noch mehr Ameisen.»

PS: Falls Sie mehr von Professor Loeb hören wollen, lesen Sie dieses sehr lebendige Interview, das er vor zwei Jahren Sibylle Berg für die Republik gab.

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