Briefing aus Bern

Bundespräsident soll Rahmen­abkommen in Brüssel retten, Bund plant mehr Freiheiten für Geimpfte – und der russische Botschafter gibt Medien Nachhilfe

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (143).

Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler und Cinzia Venafro, 22.04.2021

Vor lauter Nachrichten den Überblick verloren? Jeden Donnerstag fassen wir für Sie das Wichtigste aus Parlament, Regierung und Verwaltung zusammen.

Kommen Sie an Bord, und abonnieren Sie unser wöchentliches «Briefing aus Bern»!

«Draussenminister» nannte der «Blick» Ignazio Cassis diese Woche – und spielte damit darauf an, dass der Tessiner Freisinnige im Bundesrat zusehends isoliert ist. Wäre die Landes­regierung eine Schulklasse, kein Gspänli würde mit Ignazio spielen wollen. In seiner Rolle als Bundesrat wird er auf andere Weise ausgegrenzt: Im letzten Akt der Verhandlungen um das Rahmen­abkommen mit der EU darf ausgerechnet der Aussen­minister nicht mitspielen.

Dabei befinden sich die Verhandlungen gerade an einem äusserst kritischen Punkt: Am Freitag kommt es in Brüssel zum Krisen­gipfel zwischen der Schweiz und der EU. Auf höchster Minister­stufe will man das vertrackte Dossier Rahmen­abkommen doch noch irgendwie retten. Doch nicht der dafür zuständige Cassis soll das tun, sondern Bundes­präsident Guy Parmelin.

Cassis war fest davon ausgegangen, dass er nach Brüssel reisen würde. Doch an seiner Isolation innerhalb des Bundesrates sei er selbst schuld, sagen mittler­weile sogar Partei­freunde hinter vorgehaltener Hand. Weil die FDP um ihren zweiten Bundesrats­sitz zittern muss, findet er auch in seiner Partei- und Amtskollegin Karin Keller-Sutter keine Verbündete. Die Ostschweizerin macht keinen Hehl daraus, dass sie den von Cassis vorgestellten Vertrags­entwurf mit der EU unbrauchbar – oder besser gesagt, innen­politisch nicht mehrheitsfähig findet.

Auch die eigene Bundeshaus­fraktion ist dem Vernehmen nach sauer auf Cassis: Schliesslich ist das Rahmen­abkommen mit der EU ein Kern­anliegen der FDP, die sich als Wirtschafts­partei positioniert. Und nicht nur die FDP-Fraktion ist verstimmt. Tiana Angelina Moser (GLP), Präsidentin der Aussen­politischen Kommission des Nationalrats, will endlich wissen, was Sache ist, und zitiert gleich vier Bundesräte an die Sitzung vom 26. April.

Bis dahin ringen die Schweiz und die EU weiter um drei wesentliche Punkte: die staatlichen Beihilfen (da hat man sich einigen können), die Unionsbürger­richtlinie und den Lohnschutz. Ohne Letzteren gehen die Gewerkschaften auf die Barrikaden – und ohne die gibt es kein linkes Ja.

Wird am Freitag der letzte Vorhang im Trauer­spiel fallen? Oder wird dem Rahmen­abkommen doch noch neues Leben eingehaucht? Wie «Swissinfo» am Mittwoch meldete, soll die EU in den strittigen Punkten – also auch beim Lohnschutz – zu Kompromissen bereit sein.

Was der Bundesrat kurz vor der Stunde der Entscheidung im Schild führt, ist unklar. Auf entsprechende Fragen antwortete Bundesrats­sprecher André Simonazzi am Mittwoch: «Der Bundesrat ist bereit, wenn Sie das meinen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.» Derweil machen die Befürworterinnen des Rahmen­abkommens Druck: Die kantonalen Handels­kammern fordern, dass die strittigen Punkte mit der EU geklärt werden und der Vertrag dann dem Parlament vorzulegen sei.

Chaostage in Bundesbern, Rätselraten in Brüssel – und mit Guy Parmelin übernimmt nun ausgerechnet ein SVP-Politiker das EU-Dossier, das von seiner eigenen Partei zur neuen EWR-Abstimmung und somit zur urhelvetischen Schlacht gegen fremde Vögte stilisiert wird. Durch diese extrem enge Gasse muss er kommen, der Bundespräsident.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Covid: Bundesrat plant Freiheiten für Geimpfte, Getestete und Genesene

Worum es geht: Schutzphase, Stabilisierungs­phase, Normalisierungs­phase – der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom Mittwoch seine Strategie für die kommenden Monate konkretisiert. Wie lange die einzelnen Phasen dauern, hänge von der Impf­bereitschaft der Bevölkerung und dem weiteren Verlauf der Impf­kampagne ab, sagte Gesundheits­minister Alain Berset vor den Medien. Zu reden geben dürfte vor allem, dass ab Sommer nur Geimpfte, Getestete und Genesene von gewissen Lockerungs­schritten profitieren sollen.

Warum Sie das wissen müssen: Die derzeit laufende «Schutzphase» soll so lange andauern, bis alle impfwilligen, besonders gefährdeten Personen zwei Impfdosen erhalten haben. Bei einer Impf­bereitschaft von 75 Prozent in dieser Gruppe ist dies voraus­sichtlich Ende Mai der Fall. Während der folgenden «Stabilisierungs­phase» soll die gesamte erwachsene Bevölkerung Zugang zur Impfung erhalten: Hier rechnet der Bundesrat mit einer Impf­bereitschaft von 60 Prozent, was es ermöglichen würde, bis Ende Juli jeweils zwei Dosen zu spritzen. In dieser Phase könnten weitere Lockerungs­schritte geprüft werden, etwa die Aufhebung der Homeoffice-Pflicht und allenfalls auch die Öffnung der Innen­bereiche von Restaurants. Brisant: Sobald die Durchimpfungs­rate 40 bis 50 Prozent beträgt, sollen Geimpfte, Getestete und Genesene wieder an Gross­veranstaltungen, in Bars und Diskotheken gehen dürfen. Zum Nachweis werde derzeit ein «einheitliches, fälschungs­sicheres und leicht überprüfbares Zertifikat» entwickelt, sagte Berset, der an der Medien­konferenz einmal mehr eindringlich zum Impfen aufforderte. In der «Normalisierungs­phase» schliesslich sollen die Massnahmen allmählich aufgehoben werden. Wer dann kein Covid-Zertifikat vorweisen kann, wird unter Umständen jedoch weiterhin Maske tragen und die Abstandsregeln befolgen müssen.

Wie es weitergeht: Das Drei-Phasen-Modell befindet sich nun bei den Kantonen in der Konsultation. Wegen der weit­reichenden Öffnungen vom vergangenen Montag kommen weitere Öffnungs­schritte für den Bundesrat erst am 26. Mai wieder infrage – beraten will er darüber am 12. Mai.

Pestizide: Bio-Dachverband torpediert Trinkwasser­initiative

Worum es geht: Bio Suisse hat die Nein-Parole zur Trinkwasser­initiative beschlossen. Dass ausgerechnet der Dachverband der Bio-Bäuerinnen gegen ein Umwelt­anliegen Stellung bezieht, löst heftige Kritik aus. SP-Nationalrat Matthias Aebischer empfiehlt ihm eine Umbenennung in «Profitsuisse».

Warum Sie das wissen müssen: Die Initiative fordert, dass der Bund nur noch Betrieben, die keine Pestizide einsetzen, Direkt­zahlungen gewährt. Das geht den Bio-Bauern zu weit – trotz Sympathie für das Ziel der Initiative. «Die Anliegen, welche die Trinkwasser­initiative aufnimmt, sind absolut berechtigt: Artensterben, Überdüngung, Rückstände von Pestiziden und Antibiotika­resistenzen sind wissenschaftlich belegte Fakten», sagt Bio-Suisse-Präsident Urs Brändli. Der Weg ans Ziel ist seinem Verband jedoch zu radikal. Ohne Veränderungen im Konsum­verhalten würden heutige Bio-Betriebe bei Annahme der Initiative «unter existenziellen Druck geraten» argumentiert Brändli. Zudem konkurrenzieren am Abstimmungs­sonntag im Juni zwei ähnlich gelagerte Volks­begehren: Die Pestizidinitiative geht zwar auch sehr weit, dreht den Bauern aber nicht gleich den Direktzahlungshahn zu. Sie fordert ein komplettes Verbot von Pestiziden mit einer Übergangs­frist von zehn Jahren. Für diese Vorlage haben Bio-Vertreter wie Bio Suisse, aber auch das Bio-Label Demeter die Ja-Parole beschlossen.

Wie es weitergeht: Am 13. Juni kommen beide Initiativen an die Urne. Das Nein von Bio Suisse ist kein gutes Omen für die Trinkwasser­initianten: Denn wenn die Öko-Lobbyistinnen nicht einmal die eigenen Leute für ein Ja gewinnen konnten, ist ein Ja bei der breiten Bevölkerung sehr unwahrscheinlich. Der Abstimmungs­kampf um die Schweizer Landwirtschaft und ihren Umgang mit dem Gift hat jedoch erst begonnen.

SRG: Erste Konsequenzen nach Belästigungsvorwürfen

Worum es geht: Ende Oktober berichtete die Zeitung «Le Temps» über Mobbing, Macht­missbrauch und sexuelle Belästigungen beim West­schweizer Fernsehen RTS. Nun hat das Mutterhaus SRG die ersten Ergebnisse von bei Anwaltskanzleien in Auftrag gegebenen Untersuchungen präsentiert.

Warum Sie das wissen müssen: Wenn die SRG auf einen Befreiungsschlag hoffte, dann ist dieser missglückt. Während der TV-Chefredaktor und der Leiter der Personal­abteilung den Sender verlassen müssen, weil sie ihren Aufsichts­pflichten nicht nach­gekommen sind, darf RTS-Chef Pascal Crittin genauso im Amt verbleiben wie sein Vorgänger, der heutige SRG-General­direktor Gilles Marchand. Die Medien­gewerkschaft SSM gibt sich damit nicht zufrieden. In einer Mitteilung schrieb sie, dass die getroffenen Massnahmen – etwa Schulungen für Kader­mitarbeiter und die Etablierung von Vertrauens­personen – nicht ausreichten, um das Vertrauen der SRG-Mitarbeiterinnen in die Führung wieder­herzustellen. Auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga meldete sich zu Wort: Es sei inakzeptabel, dass Mitarbeiter belästigt worden seien, sagte sie. Ein Teil der von «Le Temps» im vergangenen Herbst anonymisiert veröffentlichten Vorwürfe hat sich nämlich durch die Untersuchungen erhärtet: Zwei Mitarbeitern konnten Belästigungen nachgewiesen werden. Freigesprochen wurde hingegen der ehemalige RTS-Starmoderator Darius Rochebin, der bereits im Herbst eine Verleumdungs­klage gegen «Le Temps» eingereicht hatte. Nun prüft auch die SRG rechtliche Schritte. Die Zeitung wiederum hält an den Vorwürfen fest.

Wie es weitergeht: Der finale Untersuchungs­bericht wird im Juni erwartet. Schon vorher wird Rochebin auf den Bildschirm zurückkehren: Ab Montag interviewt er wieder täglich eine prominente Person für den französischen Nachrichten­sender LCI, zu dem er im Sommer 2020 gewechselt hat.

Rohstoffbranche: Der Bundesrat zeigt sich zufrieden

Worum es geht: Die Landes­regierung stellt dem Rohstoff­sektor in der Schweiz ein gutes Zeugnis aus. Sie hat den ersten Zwischenbericht über den Stand der Umsetzungen seiner Empfehlungen aus dem Jahr 2018 verabschiedet. Darin ist von Fortschritten in den Bereichen Wettbewerbs­fähigkeit, Innovations­kraft, Integrität und Nachhaltigkeit die Rede.

Warum Sie das wissen müssen: Die Schweiz ist einer der wichtigsten Handels­plätze für Rohstoffe aus aller Welt. Allerdings sah sich die Branche zuletzt heftigem Gegenwind ausgesetzt: Die Konzernverantwortungs­initiative, die primär auf Rohstoff­konzerne abzielte, scheiterte im November einzig am Ständemehr. Auch wenn sich der Bundesrat nun mit den Entwicklungen zufrieden zeigt, bricht die Kritik nicht ab. So reagierte die einfluss­reiche Nichtregierungs­organisation Public Eye mit einem angriffigen Communiqué unter dem Titel: «Dürrer Bundesrats­bericht zu Skandal­branche». Unter anderem moniert die NGO, dass der bundes­rätliche Bericht nicht auf die «zahlreichen gerichtlichen Untersuchungen, Schuld­eingeständnisse und Strafbefehle» eingeht, in welche die Schwer­gewichte des Schweizer Rohstoff­handels in den letzten Jahren verwickelt gewesen seien.

Wie es weitergeht: In seiner Mitteilung kündigt der Bundesrat an, dass die Schweiz ihr Engagement für weltweit gleiche Wettbewerbs­bedingungen im Rohstoff­sektor weiter­führen werde. Im ersten Halbjahr 2023 will er sich das nächste Mal über erzielte Fortschritte informieren lassen.

Bundesrat: Neuer Anlauf für grösseres Gremium

Worum es geht: Seit der Gründung der modernen Schweiz 1848 besteht der Bundesrat aus sieben Mitgliedern. Eine Erweiterung wurde schon mehrfach diskutiert. Nun fordert Nationalrätin Nadine Masshardt mit einer parlamentarischen Initiative, die Landes­regierung auf neun Personen aufzustocken. «Mit neun Bundesrats­mitgliedern könnten die verschiedenen politischen Kräfte, Geschlechter, Landes­gegenden und Sprachregionen besser berücksichtigt werden», sagt die Berner SP-Politikerin. Damit hat sie die Staats­politische Kommission des Nationalrats überzeugt: Ihre Initiative setzte sich dort mit 14 zu 9 Stimmen durch.

Warum Sie das wissen müssen: Die Arbeits­belastung in der Landes­regierung ist immens. Darum sprachen sich wiederholt Alt-Bundesräte für eine Vergrösserung des Gremiums aus, zuletzt BDP-Alt-Bundesrat Samuel Schmid. Auch Alt-Bundesrat Didier Burkhalter hat die Debatte befeuert: Er erkrankte nach seinem Rücktritt Ende 2014 an Krebs und sagte rückblickend, er hätte «mehr auf meine Frau hören sollen», die ihn gebeten hatte, weniger zu arbeiten.

Wie es weitergeht: Die staatspolitische Kommission arbeitet als eigentliche Gesetzes­werkstatt jetzt ein Szenario mit neun Bundesräten aus. Bei ihrer Schwester­kommission im Ständerat wird sie jedoch einen schweren Stand haben: Dort sind Vertreter von Mitte und FDP in der Mehrheit, die in der Vergangenheit gegen eine Vergrösserung des Bundesrates waren.

Diplomat der Woche

Wenn Russland in Schweizer Medien kritisiert wird, liegt das daran, dass die Journalisten vorein­genommen sind und die Tatsachen verdrehen. So sieht es Sergei Garmonin, der russische Botschafter in Bern, der deshalb eigene Beiträge auf die Botschaftswebsite stellt. «Gerne helfen wir der Redaktion der Zeitung und ihrem Korrespondenten dabei, besseren Durchblick zu bekommen», heisst es etwa in seiner Reaktion auf einen Artikel im «Tages-Anzeiger» zu den jüngsten Spannungen mit der Ukraine. Doch der Botschafter will nicht nur helfen, er schimpft auch: Missliebige Artikel bezeichnet er als «Schmähschrift», «Giftbrühe» oder «gepfuschten Nebenjob». Einem «Autor, welcher sich für einen Journalisten hält», wünscht er «gute seelische Gesundheit». Manche mögen solchen Äusserungen einen gewissen Unterhaltungs­wert abgewinnen, die Aargauer Nationalrätin Marianne Binder-Keller hingegen macht sich Sorgen. «Die Art der persönlichen Angriffe könnte man meines Erachtens auch als versteckte Einschüchterung verstehen», sagt sie und will darum beim Bundesrat anfragen, ob dieser Umgangston «mit den diplomatischen Gepflogenheiten vereinbar» sei. Wir warten gespannt, ob Botschafter Garmonin unserer Landes­regierung zuvorkommt und der Nationalrätin Nachhilfe in der hohen Kunst der Diplomatie erteilt.

Illustration: Till Lauer

Die Republik bietet nicht nur Überblick, sondern auch Tiefblick: mit Recherchen, Analysen und Reportagen zur aktuellen Tagespolitik. Jetzt 21 Tage kostenlos Probe lesen: