Sieg der progressiven Schweiz
Die Konzernverantwortungsinitiative scheitert am Ständemehr. Aber ihre Gegner haben nicht gewonnen.
Ein Kommentar von Daniel Binswanger, 30.11.2020
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Die Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative hat zahlreiche Verlierer und nur eine Siegerin: die Schweizer Zivilgesellschaft. Es ist im Grunde ein glänzendes Resultat, das der gestrige Urnenentscheid gebracht hat. Zahlreiche NGOs und bedeutende Teile der Kirchen haben einen mehrjährigen, engagierten Kampf zur besseren Wahrung von Umweltstandards und Menschenrechten durch Schweizer Konzerne geführt. Sie haben die Mehrheit der Bevölkerung von ihrer Vorlage überzeugen können.
Dass die Vorlage am Ständemehr scheitert, wird die Initiantinnen fürchterlich enttäuschen, ist aber beinahe von untergeordneter Relevanz. Haftungsklagen werden in der Schweiz zwar weiterhin nicht möglich sein, aber der Druck auf die Unternehmen hat sich mit dem Abstimmungsergebnis massiv verstärkt. Gerade die Gegner der Vorlage, die nun monatelang auf allen Kanälen die Ansage machten, auch sie seien doch für Umweltschutz und Menschenrechte, stehen heute in der Pflicht. Sie haben viel Glaubwürdigkeitskapital eingesetzt – und werden Rechenschaft ablegen müssen.
Auch wenn die Initiative angenommen worden wäre, wäre es – da sind sich sämtliche Expertinnen einig – nur vergleichsweise selten zu Haftungsklagen in der Schweiz gekommen. Einen Effekt hätte die vor Schweizer Gerichten einklagbare Konzernhaftung vorwiegend als Drohkulisse gehabt, die den Umgang mit Sorgfaltspflichten in den international tätigen Unternehmen verbessert hätte. Diese Drohkulisse ist durch das Volksmehr nun auf anderem Weg verstärkt worden. Nur schon weil die internationale Rechtsentwicklung im Feld der Konzernverantwortung dynamisch bleiben wird, dürften sich die Schweizer Rohstoffhändler noch nicht einmal eine Atempause erkämpft haben. Diese Debatte geht bruchlos weiter – und das letzte Wort ist nicht gesprochen. Es wird den eigentlichen Siegerinnen gehören: der Mehrheit für Konzernverantwortung.
Wer sind die Verlierer? Die Wirtschaftsverbände haben einen extrem aufwendigen und extrem hässlichen Abwehrkampf geführt – und einen Pyrrhussieg errungen. Wären sie nicht deutlich besser gefahren, wenn sie den Gegenvorschlag des Nationalrats akzeptiert und sich mit den Initianten geeinigt hätten? Sie haben sich in eine Minderheitenposition manövriert, und dies in einer Frage, wo es nicht um matchentscheidende Standortfaktoren geht, sondern um ein simples Bekenntnis zu verbindlichen ethischen Grundstandards. Der Autoritätsverlust dürfte nachhaltig sein.
Beinahe rührend ist es, wenn Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder in einer ersten Reaktion behauptet: «Aus der hohen Zustimmung im Volk einen Vertrauensverlust für die Wirtschaft herzuleiten, wäre nicht gerechtfertigt.» Das Vertrauen zur Wirtschaft steht nicht zur Debatte. Das Vertrauen zu Economiesuisse und zu Swiss Holdings jedoch schon. Das aggressive Agieren von Economiesuisse-Direktorin Monika Rühl während der Kampagne war ungewöhnlich und befremdlich. Dass es von den Stimmbürgerinnen nicht goutiert wird, sollte in den Leitungsgremien doch noch ein paar Fragen aufwerfen.
Einen Pyrrhussieg hat auch Justizministerin Karin Keller-Sutter errungen. Sie hat in diesem Abstimmungskampf mehrere rote Linien überschritten. War es klug, das Ansinnen, Menschenrechtsverletzungen durch Schweizer Firmen vor Schweizer Gerichten einklagbar werden zu lassen, auch wenn diese Menschenrechtsverletzungen in Afrika stattfinden, als rassistisch zu disqualifizieren? War es klug, mit der behördlichen Desinformation so weit zu gehen, wie sie gegangen ist? Direktdemokratische Entscheidungsprozesse können nur dann zu einem guten Ende kommen, wenn ein Mindestniveau der Auseinandersetzung gewahrt bleibt. Wenn selbst die Regierungsvertreterinnen diese Standards nicht mehr respektieren, hat die Schweiz ein echtes Problem. Dieser Abstimmungskampf dürfte an Keller-Sutter haften bleiben. Es ist zweifelhaft, ob sie sich damit einen Gefallen getan hat.
Verliererin ist jedoch auch die Eidgenossenschaft beziehungsweise ihre föderalistischen Institutionen. Das politische Übergewicht der kleinen Kantone ist schon lange den modernen Lebensverhältnissen nicht mehr angemessen. Unsere Zeitungen sind voll von Artikeln, welche die dramatischen Folgen der Verzerrung des Volkswillens in den USA analysieren. Aber ganz so weit müssen wir nicht schauen.
Ist es wirklich in Ordnung, dass eine Appenzeller Stimme rund 20-mal so viel Gewicht hat wie eine Zürcher Stimme? Im Fall einer Volksinitiative erscheint die Blockademacht des Ständemehrs besonders stossend. Dass zwischen den Institutionen, zwischen den Gebietskörperschaften der Kantone und dem Bund eine Form von austariertem Machtgleichgewicht bestehen muss, ist nachvollziehbar. Aber bei einer Volksinitiative? Wo wenn nicht hier soll denn das Volksmehr den Ausschlag geben?
Die Tatsache, dass de facto eine Mehrheit der Bevölkerung hinter der Initiative steht, lässt zudem die alten Gräben – den Stadt-Land-Graben, den Röstigraben –, die sich auch diesmal wieder als virulent erweisen, umso destruktiver werden. Die Westschweizer sind auch gesamtschweizerisch mit ihrem deutlichen Ja-Votum in der Mehrheit – und haben trotzdem das Nachsehen. Es ist bezeichnend, dass es mit der Konzernverantwortungsinitiative erst zum zweiten Mal in der Geschichte der Schweiz dazu kommt, dass eine Initiative vom Ständemehr gestoppt wird. Ganz egal, auf welcher Seite man steht: Niemand wird behaupten können, diese Kantönli-Blockade sei eine Sternstunde der direkten Demokratie.
Das war kein normaler Abstimmungskampf – und es war keine normale Abstimmung. Es geschieht praktisch nie, dass eine Volksinitiative mit einem wirtschaftspolitischen Anliegen Erfolg hat. Bereits das Volksmehr ist insofern ein bedeutender historischer Erfolg. Die politischen Verwerfungen, zu denen diese Abstimmung führte, dürften nachwirken. Werden die bürgerlichen Traditionsparteien – die FDP und die CVP respektive die neu benannte «Mitte» – einen elektoralen Preis für ihre Anti-Kovi-Positionierung bezahlen? Das erscheint mindestens sehr plausibel.
Was sich in diesem Abstimmungskampf machtvoll manifestiert hat, ist eine progressive, urbane, durchaus wirtschaftsfreundliche Schweiz, die aber Wert legt auf die verbindliche Respektierung ethischer Standards und internationaler Normen. Die bürgerlichen Traditionsparteien dürften in diesem Wählersegment weiter verlieren – und die GLP gewinnen. Ein bestimmter rechtsbürgerlicher Konservatismus gerät stärker in die Defensive: keine schlechte Nachricht.
Die Schweizer Zivilgesellschaft ist wach. Sie fordert ethisches, verantwortungsvolles Handeln, gerade auch von den grossen wirtschaftlichen Playern. Die Wirtschaftsverbände, die «wirtschaftsnahen» Parteien, die Konzerne selber werden umdenken müssen. Es ist ein gesellschaftlicher Wertewandel im Gange, den auch das Ständemehr nicht wird stoppen können. Das ist die Botschaft dieser Abstimmung. Wir sollten sie hören!