Steht bei Ihnen ein Chrischtbaum, ein Wienachtsboum – oder einfach eine Tanne?
Dialektunterschiede zwischen Ost- und Westschweiz gibt es zuhauf. Bestehen die alten Sprachgrenzen noch, oder hat der Wandel auch das Christkind erfasst?
Von Marie-José Kolly, 21.12.2020
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Im Wohnzimmer meiner Eltern in Freiburg steht jedes Jahr um diese Zeit ein Wienachtsboum. Darunter liegt das Chrischtchindeli auf einer Handvoll Stroh. In der Mehrheit der Schweizer Familien, die überhaupt Baum und Krippe aufstellen, dürfte das anders sein. Oder zumindest: anders gewesen sein. Ob der Dialektwandel an den weihnachtlichen Sprachgrenzen gerüttelt hat, wollen wir gemeinsam mit Ihnen herausfinden.
Die Deutschschweizer Dialekte kennen eine ganze Reihe von Ost-West-Gegensätzen: Im Westen spricht man Vokale tendenziell mit weiter offenem Kiefer aus, ordnet Wörter in bestimmten Typen von Sätzen anders an, nutzt für gewisse Dinge unterschiedliche Wörter. Die Dialektgrenze verläuft je nach Vokal, Satztyp oder Wort etwas weiter westlich oder östlich – so ist es auch beim Baum, den wir daheim aufstellen und schmücken und bei der Figur, die Geschenke darunterlegt.
Blenden Sie kurz aus, dass Sie zum Baum vielleicht Boum oder Boom oder Bäum sagen. Egal ist auch, ob Sie Kind als Chind oder Chend oder sonst wie aussprechen. Uns interessiert gerade nur, was vornedran steht. Nämlich, gemäss dem Sprachatlas der deutschen Schweiz, Wienacht(s)- im Westen und Chrischt- im Osten. Dieses generelle Muster besteht beim Kind wie beim Baum.
Westschweizerinnen sprechen also vom Wienacht(s)-Baum, mal mit, mal ohne Fugen-s, Ostschweizer vom Chrischt-Baum:
Die Sprachgrenze verläuft etwa in der Mitte der deutschsprachigen Schweiz, wobei das Wallis und der grösste Teil der Zentralschweiz zusammen mit dem Osten Chrischtbaum sagt. Entlang der Sprachgrenze – aber auch anderswo – gibt es Orte, für welche der Sprachatlas mehrere Varianten angibt. In mehreren Luzerner Gemeinden zum Beispiel waren beide Varianten, Wienacht(s)- und Chrischt-, geläufig.
Auch vor dem Kind steht im Westen die Weihnacht, weiter östlich der Christ. Hier gibt es etwas mehr Variation als beim Baum: In vielen Berner Ortschaften wurde zum Beispiel das Wienacht(s)- zu Wiene- abgeschwächt. Das Chrischtchindli kann auch ohne -t, als Chrischchindli ausgesprochen werden – im Oberwallis häufig auch gleich ohne den ersten Laut von «Kind», als Chrischindli.
Die Sprachgrenze verläuft beim Kind weiter westlich als beim Baum. Hier gehört ein Teil des Aargaus noch zum Osten, ebenso fast alle Luzerner Gemeinden. Und: Fast alle deutschsprachigen Freiburger Gemeinden sagen, trotz westlichster Lage, Chrisch(t)chindli.
Bei solchen Unterschieden im Wortschatz seien die Sprachgrenzen häufig dann im Raum gestaffelt, wenn sie auch in der Zeit gestaffelt aufgetreten seien, erklärt die Dialektologin Elvira Glaser von der Universität Zürich am Telefon.
Das heisst: Möglicherweise hat sich das Wort für die Tanne (oder der Brauch, überhaupt eine Tanne aufzustellen) erst verbreitet, nachdem sich der Christkind-bringt-Geschenke-Brauch etabliert hatte. Oder umgekehrt: vielleicht hat sich zuerst der Tannenbrauch, dann der Christkindbrauch verbreitet. Nach dem gleichen groben Muster – aber geografisch doch nicht ganz gleich. «Unsere Gewohnheiten bei Kommunikation und Mobilität verändern sich eben über die Zeit, auch innerhalb weniger Jahrzehnte», sagt Glaser. Und diese Gewohnheiten sind es, welche die Verbreitung sprachlicher Varianten mitbestimmen.
Mehrheitlich in den Kantonen Aargau, Luzern und Freiburg haben wir also Ortschaften, die nicht zweimal Christ- oder zweimal Wienacht(s)- sagen, sondern beim Baum die Weihnacht und beim Kind den Christ voranstellen.
Warum überhaupt der Unterschied?
Die Religion spielte mit, als diese Sprachgrenzen entstanden: An den Kantonsgrenzen von Bern etwa lässt sich ablesen, dass man in gewissen reformierten Gebieten den Chrischt- lieber vermied. Dass der Kanton Freiburg mit dem Chrischtchindli im Westen eine Ausnahme stellt, deutet ebenfalls in diese Richtung. Auch im Aargau sei dieser Ost-West-Gegensatz konfessionell aufgeladen, schreibt Rudolf Hotzenköcherle, Mitbegründer des Sprachatlas: Dort ist der Westen traditionell protestantischer Konfession – und die Geschenke bringt das Wienachtschindli.
«Es ist aber nicht eine simple Konfessionsgrenze, auch die Veränderung des Brauchtums hat eine Rolle gespielt», sagt Dialektologin Glaser. «Schauen Sie etwa nach Zürich, wo Chrischt- gleich für beides verwendet wird, Baum und Kind – trotz mehrheitlich reformierter Bevölkerung.»
Abseits von Christ und Weihnacht
In meiner Familie stand ein Wienachtschindli nie zur Diskussion, wohl aber – Papa ist francophone – der Père Noël, der im neuenburgischen Jura, wo er aufgewachsen war, jeweils die Geschenke unter den sapin de Noël gelegt hatte. Dieser Père Noël wurde offenbar vor meinem ersten Weihnachtsfest wegverhandelt.
Die Figur unterscheidet sich zwar vom St. Nicolas, die Idee ist aber eine ähnliche: Ein alter Mann mit langem Mantel und Bart bringt zu Jahresende Gaben. Lebkuchen, Nüssli, Geschenke, etwas in dieser Art. In der Deutschschweiz heisst er mal Samichlaus, mal Niklaus, mal Sentiklous.
Er brachte – oder bringt, wir werden sehen – auch in wenigen Ortschaften der Deutschschweiz nach volkstümlicher Vorstellung die Weihnachtsgeschenke, vor allem im Appenzell:
Manchmal erledigt er den Job allein, manchmal ist er in der volkstümlichen Vorstellung lediglich Begleiter des Christkinds. «Hie und da trägt das Christkind dem Nikolaus auf, die Geschenke zu übergeben», heisst es im Atlas der schweizerischen Volkskunde. Dieser Atlas zeigt übrigens auch, dass der Brauch mit dem alten Mann früher verbreiteter war, etwa im Kanton Bern. Und dass es im Neuenburger Jura in älteren Zeiten nicht nur den Père Noël, sondern auch eine Dame de Noël gab, die Geschenke brachte.
Auch beim Baum gab es Benennungen, die – egal, ob Sie Tanne, Tane, Tana oder Toona sagen – nicht an eine religiöse oder weihnachtliche Vorstellung anknüpfen:
Wienachtsboum, Chrischtchindli und Tanne – was wir hier zusammengetragen haben, stammt aus dem Sprachatlas der deutschen Schweiz. Der Atlas ist eine wunderbare Fundgrube. Er beruht auf Feldforschung aus den 1940er- und 1950er-Jahren: Dialektologen besuchten fast 600 deutschsprachige Ortschaften in der Schweiz und in Norditalien. Dort gewannen sie ältere Personen, die im Ort aufgewachsen waren und deren Eltern aus demselben Ort stammten, für die Dialektforschung. Und stellten ihnen Tausende von Fragen zu Wörtern, Aussprache, Grammatik.
Das Material, das dabei zusammenkam, ist gewaltig. Aber: nicht mehr ganz frisch.
Sprachen und Dialekte sind keine festen Grössen, sie verändern sich mit ihren Sprecherinnen und den Kontakten, die sie pflegen – durch Freundschaften, Mobilität, Medienkonsum. Dadurch, dass in einer Familie verschiedene Sprach- oder Dialektgebiete zusammenkommen, entstehen vielleicht Mischformen.
Und wie ist es bei Ihnen?
Nennen Sie die Figur, die an Weihnachten Geschenke bringt, so wie die Menschen, die bei Ihnen daheim vor rund 80 Jahren für den Sprachatlas befragt wurden? Stellen Sie einen Baum auf, und benennen Sie ihn auch weihnachtlich? Stellen Sie vor den Baum dasselbe Wort wie vor das Kind?
Erzählen Sie es uns im Dialog zu diesem Artikel.