Am Gericht

Der König und die Kronzeugen

Man nennt ihn Boss, Cannabis-König, den grossen Zampano. Der Schweizer soll mit über sieben Tonnen Marihuana und Haschisch gehandelt haben. Einige seiner Kumpane belasten ihn schwer – um selbst glimpflich davonzukommen?

Von Brigitte Hürlimann, 21.10.2020

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Synthetische Stimme
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«Der Kronzeuge ist eine aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis stammende Beweisfigur. Als Kronzeugen kommen Personen in Frage, die zwar grundsätzlich als für die Straftat mitverantwortlich erscheinen, jedoch unter Zusicherung der Straf­freiheit oder anderer prozessualer Vorteile dafür gewonnen werden können, gegen Mitbeschuldigte als Zeugen auszusagen.»

Das Zitat stammt aus der Botschaft des Bundesrats, als es darum ging, die erste eidgenössische Strafprozess­ordnung zu schaffen. Diese ist seit 2011 in Kraft und ersetzt seither die kantonalen Strafprozess­ordnungen. Und um es gleich vorwegzunehmen: Die Schweiz hat darauf verzichtet, eine Kronzeugen­regelung einzuführen – zu gross waren die rechtsstaatlichen Bedenken und die Angst vor erkauften Geständnissen.

Doch gelingt es im Strafrechts­alltag, auf Kronzeugen zu verzichten? Ist die Idee nicht verlockend, dank belastenden Aussagen eines Mittäters den Haupt­verdächtigen hinter Gitter zu bringen? Der Fall des Zürcher Cannabis-Königs zeigt die gegensätzlichen Interessen exemplarisch auf.

Ort: Obergericht, Zürich
Zeit: 6. Oktober 2020, 8 Uhr
Fall-Nr.: SB190142
Thema: Qualifizierte Widerhandlung gegen das Betäubungs­mittel­gesetz, qualifizierte Geldwäscherei etc.

Es ist ein spektakuläres Urteil in einem spektakulären Fall, das jüngst vom Zürcher Obergericht gefällt wurde. Die Berufungs­instanz spricht Anfang Oktober einen 41-jährigen Schweizer unter anderem der qualifizierten Wider­handlung gegen das Betäubungs­mittel­gesetz und der qualifizierten Geld­wäscherei schuldig. Der Mann soll sechs Jahre lang mit über sieben Tonnen Cannabis gehandelt und dabei einen Umsatz von 37,7 Millionen Franken erzielt haben. Vermutlich handelt es sich um den bisher grössten Cannabis-Straffall in der Schweiz, mit einem halben Dutzend Indoor-Hanfplantagen quer durchs Land sowie einem regen Import aus Spanien und den Niederlanden. Angeklagt ist ein gewerbs- und bandenmässiges Vorgehen.

Am Geschäft sind rund zwanzig Leute beteiligt. Einige von ihnen wurden bereits verurteilt. Und mindestens vier der Komplizen belasten den 41-jährigen Schweizer schwer. Er sei der Boss gewesen, der Organisator, Vermittler, Auftrag­geber und Haupt­abnehmer der importierten Ware – der grosse Zampano. Diese Aussagen, sagt Staatsanwalt Peter Mucklenbeck, würden unter anderem durch die Resultate der Telefon­überwachung gestützt.

Der nur teilweise geständige Cannabis-König wird zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt, zu einer bedingten Geldstrafe und zur Zahlung von einer Million Franken «als Ersatzforderung für den unrechtmässig erlangten Vermögens­vorteil». Damit bestätigt das Obergericht das Urteil der Vorinstanz, des Bezirksgerichts Zürich. Die beiden Verteidiger hatten eine Freiheits­strafe von drei Jahren verlangt: einen Schuldspruch für einen Teil der Drogendelikte, einen Freispruch, was die Geld­wäscherei betrifft. Ihr Mandant befindet sich seit viereinhalb Jahren im Gefängnis. Wäre das Obergericht dem Antrag der Verteidigung gefolgt, der Mann hätte den Gerichtssaal als freier Mann verlassen können. Arm in Arm mit seiner Familie, die hinten auf den Zuschauer­stühlen sitzt und mitfiebert.

Ein Strafmass für Tötungsdelikte

«Elf Jahre Freiheitsstrafe verhängt man sonst für Tötungs­delikte», sagt Rechtsanwalt Diego Gfeller. «Meinem Mandanten wird zwar eine enorme Drogenmenge vorgeworfen, aber es geht um Cannabis; nicht um Heroin oder Kokain. Um ein Produkt also, über dessen Legalisierung weltweit gesprochen wird. Das für medizinische Zwecke eingesetzt und vielleicht auch in der Schweiz schon bald in Pilotversuchen erhältlich sein wird. Und bei dem es gemäss Betäubungsmittel­gesetz keinen schweren Fall geben kann.»

Doch das ist nicht der Hauptgrund, warum die Verteidiger Diego Gfeller und Ivo Harb eine viel mildere Bestrafung für den Cannabis-König verlangen. Sie sagen zum einen, die Anklageschrift äussere sich viel zu vage, viel zu ungenau zu den angeblichen Handlungen des Schweizers; mit unklaren Orts-, Mengen- und Zeitangaben. «Es genügt nicht, wenn pauschale Vorwürfe erhoben werden», heisst es dazu im einschlägigen Strafrechts­kommentar. Mit anderen Worten: Auf der Basis einer ungenauen Anklageschrift darf niemand verurteilt werden.

Zum anderen spricht Rechtsanwalt Gfeller aber auch das Thema der Kronzeugen­regelung an.

Eine grundsätzlich sympathische Figur

Die Kronzeugin ist eine Figur, die uns grundsätzlich sympathisch ist. Wir kennen sie aus Film und Fernsehen, der Plot ist oft der gleiche: Eine Kronzeugin sollte dringend vor Gericht aussagen, sonst kommt der schlimmste aller schlimmen Ganoven ungeschoren davon. Oder ganze Banden werden weiterhin ihr Unwesen treiben. Die Schufte wissen von der Kronzeugin und unternehmen alles, um sie mundtot zu machen. Sie suchen nach ihr, wollen sie entführen, einschüchtern, abmurksen.

Wir fiebern mit, ob es der Polizei und der Staats­anwaltschaft gelingt, die Kronzeugin rechtzeitig zu finden und zu schützen, sie zu Aussagen zu motivieren. Steht sie endlich vor Gericht und packt tatsächlich aus, lehnen wir uns erleichtert zurück. Das Gute wird siegen, der Böse seiner gerechten Strafe nicht entkommen. Wir können in Ruhe schlafen gehen.

Das ist die Welt von Film und Fiktion; sie macht es uns einfach, zwischen gut und schlecht, richtig und falsch zu unterscheiden. Blöde nur, dass es im wahren Leben nicht ganz so einfach ist. Die Ingredienzen sind zwar die gleichen: Es gibt Strafverfolger, Delikte, Beschuldigte, Mittäter, Opfer und Zeugen. Und es gibt Gerichts­verfahren mit dem Anspruch, alle gerecht zu behandeln: egal, welche Rolle sie einnehmen. Wir dürfen uns erst dann beruhigt zurücklehnen, wenn wir sicher sind, dass auch bei den schlimmsten Verbrechen die mutmasslichen Täter in einem fairen und transparenten Verfahren beurteilt werden – unter strikter Einhaltung der rechts­staatlichen Spielregeln.

Und damit weg von der Leinwand und zurück zur Realität.

Es widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz

In der Schweiz gibt es eine Kronzeugen­regelung offiziell nicht: wegen «schwerwiegender Bedenken». Der Bundesrat hält in seiner Botschaft zur Schaffung der eidgenössischen Strafprozess­ordnung fest, es widerspreche dem Gleichheitsgrundsatz in der Bundesverfassung, wenn «einzelnen Beschuldigten zu Lasten anderer Tatbeteiligter prozessuale Vorteile eingeräumt werden. Es bestehen auch Bedenken hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der auf solche Weise erkauften belastenden Aussagen sowie der Einhaltung des Anspruchs auf ein faires Gerichtsverfahren (…).»

Im Expertenbericht «Aus 29 mach 1» wird ausserdem erwähnt, es bestehe ein «erhöhtes Risiko der Irre­führung der Justiz» oder aber die Gefahr, «dass Kronzeugen von der Justiz unzulässig unter Druck gesetzt würden».

Was hat nun aber die Verurteilung des Cannabis-Königs konkret mit Kronzeugen zu tun?

«Faktisch hat die Staatsanwaltschaft eine verkappte Kronzeugen­regelung mittels Geheim­absprachen eingeführt», sagt Rechtsanwalt Gfeller in seinem Plädoyer. Und verlangt vergebens, dass vier Mitbeschuldigte und deren Verteidiger zu diesem Punkt vor Gericht befragt werden, sowie den Beizug der anwaltlichen Honorarnoten – oft der einzige Hinweis auf nicht protokollierte Treffen. Gfeller führt aus, diesen Mitbeschuldigten sei «eindeutig und unbestrittener­massen» signalisiert worden, sie kämen in den Genuss von tieferen Strafen, wenn sie den 41-jährigen Schweizer belasten würden.

Für seine Tochter hätte er alles getan

Der Verteidiger zitiert aus den Aussagen eines Mittäters: «Das habe ich gesagt, weil sie mir ein abgekürztes Verfahren angeboten haben. (…) In Wahrheit weiss ich nicht mehr, wie viel es war.» Er hätte alles getan, um wieder bei seiner Tochter zu sein, sagt der Komplize in dieser Einvernahme, er wäre auf jedes Angebot eingegangen: «Wenn sie mir sagen würden, dass ich dafür an die Langstrasse gehen müsse und ich in den Arsch gefickt werden würde für einen Deal, dann würde ich das auch machen. (…) Sie wissen, dass ich alles für meine Tochter machen würde.»

Bei diesem Mitbeschuldigten kam kein abgekürztes Verfahren zustande, aber bei einem anderen, der den «grossen Zampano» erheblich belastet. Es handelt sich bei ihm um den Verwalter der Stadtzürcher «Gammelhäuser», die vor drei Jahren die Schlagzeilen in der Limmat­stadt beherrschten: wegen des desolaten Zustands in den Wohnungen, in denen Arme, Sozial­hilfe­empfängerinnen, Drogensüchtige und Dealer hausten. Dem geständigen, kooperativen und aussagebereiten Verwalter wird die Beteiligung am Cannabis-Handel im Wert von rund zehn Millionen Franken vorgeworfen, was er anerkennt. Wie auch die Verurteilung zu drei Jahren Freiheitsstrafe.

Wenn nun aber der Verteidiger des Cannabis-Königs anführt, auf die belastenden Aussagen solcher Mittäter dürfe nicht abgestellt werden, weil sie nur in der Hoffnung auf eine mildere Bestrafung entstanden seien, so beisst er damit auf Granit. Weder der Staatsanwalt noch die Richterinnen am Bezirksgericht Zürich und später jene des Obergerichts wollen etwas von Hinterzimmer­gesprächen wissen.

Das Wort «Kronzeuge» nimmt niemand in den Mund.

«Keine unzulässigen Versprechungen»

Es könne ausgeschlossen werden, dass der Gammelhäuser-Verwalter den Cannabis-König «wider besseres Wissen übermässig belasten würde», schreibt das Bezirksgericht Zürich in seinem Urteil. Oder dass sich der Mann «übermässig unter Druck gesetzt gefühlt» habe. Dieser verfüge über eine juristische Ausbildung, habe jahrelang als Anwalts­substitut gearbeitet.

Und was den besorgten Vater betrifft, der für seine Tochter alles getan hätte: Es sei klar, dass der Staatsanwalt mit ihm über die Möglichkeit eines abgekürzten Verfahrens gesprochen habe, so das Bezirksgericht. Es sei aber zu keinen unzulässigen Versprechungen oder gar Drohungen gekommen, die über die «verfahrens­immanente Drucksituation» hinausgingen.

Staatsanwalt Mucklenbeck spricht von Verschwörungs­theorien der Verteidigung, die «falsch und realitätsfremd sind und jeglicher Grundlage entbehren». Es sei alles mit rechten Dingen zu- und hergegangen, die Beweislage komfortabel.

Hohe kriminelle Energie, professionelles Vorgehen

Dieser Auffassung schliesst sich auch das Obergericht an. Bei seiner kurzen, mündlichen Urteilsbegründung sagt der Gerichtsvorsitzende Daniel Bussmann, beim Verdacht auf geheime Gespräche handle es sich um reine Mutmassung. Es gebe keine konkreten Anhaltspunkte dafür, und es sei legitim, für ein abgekürztes Verfahren nicht nur ein Geständnis, sondern auch Kooperation und ein positives Nachtat­verhalten zu verlangen.

«Es geht hier zwar um eine weiche Droge, aber sie ist immer noch illegal, und man darf das Sucht- und Gefährdungs­potenzial nicht verharmlosen», so der Gerichts­vorsitzende. «Und es geht um über sieben Tonnen, das ist ein absolut singulärer Fall. Der Beschuldigte ist professionell, dreist und verwegen vorgegangen, mit einer grossen kriminellen Energie.»

Elf Jahre Freiheitsstrafe, so Daniel Bussmann, sei dafür nicht zu hoch.

Der Schweizer wird nach der Urteilsverkündung von den Polizisten zurück ins Gefängnis geführt. Vorher darf er noch kurz seine Mutter und seine Halbschwester umarmen. Aber nur ausnahmsweise.

Zum Update: Yuma Weber ist draussen

Nach mehr als sechs Jahren hinter Gittern ist der Cannabis-König wieder auf freiem Fuss – aber ganz losgelassen hat ihn die Strafjustiz noch nicht. Hier gehts zum Update.

In einer früheren Version hiess es fälschlicherweise, mit der ersten eidgenössischen Strafprozessordnung seien auch drei Prozess­ordnungen des Bundes ersetzt worden. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

Illustration: Till Lauer

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