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Niedergösgen statt Nablus

08.05.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Viele von uns träumen sich im Moment an einen anderen Ort. Weg von Homeoffice, Schichtarbeit, Kinderbetreuung, hin zu exotischen Destinationen, fremden Sprachen, kulinarischen Abenteuern. Bis wir wieder jäh auf den Boden der Realität zurückgeholt werden.

So zumindest ging es dem Journalisten Hannes von Wyl, der uns heute erzählt, wieso er doch lieber in Niedergösgen ist statt in Nablus oder Nairobi:

Sabah al-khair. Guten Morgen. So begrüsse ich die Tage. Der Klang des Arabischen verbindet mich mit dem Paralleluniversum, das bis Anfang März noch meine Realität war. Die Version, in der ich ohne Maske durch den Sommer tanze und dabei andere Menschen umarme. Und mir einen Sprachaufenthalt in Palästina gönne, um mehr arabische Worte zu lernen als sabah al-khair.

Niedergösgen statt Nablus. So sieht meine Corona-Realität heute aus. Statt einer Reise in den Nahen Osten gibt es einen Kurzurlaub in einem Solothurner Dorf, keine zehn Kilometer von meiner eigenen Wohnung entfernt.

Wobei: Der Glamping-Platz, wie Betreiber Nik ihn nennt, hat schon mediterranes Flair. Alte Wohnwagen aus den Sechzigern stehen in einem mit Retro-Krimskrams vollgestellten Garten direkt am Aareufer. Statt Hummus gibts Pide vom Türken. Das Zischen der Bierdose bringt Ferienfeeling. Alles halb so schlimm. Bis eine Nachricht meine Blase der Selbstzufriedenheit durchdringt.

Atanus, ein Freund aus Kenia, hat kein Geld mehr, weil er nicht mehr arbeiten kann. Lockdown. Im Dezember hatte er meine Freundin und mich auf unserer Reise noch festlich bewirtet. Jetzt muss seine Familie hungern. Atanus, seine Frau Erica und die zwei Kinder sind eine Familie aus dem Mittelstand, die in einem eigenen Haus mit Garten in der Nähe des Viktoriasees wohnt. Atanus schreibt: «Kürzlich gingen Leute mit Plakaten auf die Strasse, auf denen stand: ‹Lieber sterbe ich am Coronavirus als an Hunger›. So schlimm ist es.»

Kenia verzeichnet bislang offiziell weniger als 30 Tote durch das Virus. Die Massnahmen gegen die Ausbreitung sind strikt: Abstandsregeln, Versammlungsverbote und eine Ausgangssperre von 19 Uhr bis 5 Uhr. Polizei und Militär setzen diese mit grosser Brutalität durch, wie Atanus erzählt: «Vor zwei Wochen war ich mit dem Auto zu spät unterwegs nach Hause, eine halbe Stunde nach sieben, wegen des starken Verkehrs. Plötzlich war die Strasse voller Polizisten. Sie schlugen mit Eisenstäben auf alles ein, was sich bewegte. Ich musste aus dem Auto aussteigen und ihnen Papiere zeigen. Das war aber nur ein Vorwand. Kaum stand ich vor ihnen, schlugen sie auf mich ein. Ich versuchte mich mit den Händen zu schützen, flüchtete zurück ins Auto und fuhr davon. Meine rechte Hand schmerzt heute noch.»

In den ersten zehn Tagen des Lockdown wurden laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in Kenia sechs Menschen von Sicherheitskräften getötet. Medien berichten, dass die Polizei in Nairobi einen 13-jährigen Jungen erschoss, weil er mit seiner Mutter auf dem Balkon ihrer Wohnung stand.

Warum lässt ein Staat seine Bürgerinnen verprügeln und erschiessen, statt sie zu schützen? Wenn Atanus und seine Familie schon hungern müssen, wie geht es den Bewohnern von Slums wie Kibera, wo eine halbe Million Menschen von der Hand in den Mund leben? Haben die Kritiker recht, wenn sie sagen, dass die Massnahmen gegen das Virus in armen Ländern mehr Menschen töten als Covid-19?

Solche Fragen stelle ich mir. In Niedergösgen statt Nablus.

Mein eigener Frust fühlt sich plötzlich kleinlich an, verdammt privilegiert. Ich schicke meinem Freund Atanus 10’000 kenianische Shilling, umgerechnet rund 100 Schweizer Franken. Damit ist die Welt kein bisschen gerechter. Aber Atanus und seine Familie haben wenigstens eine Woche lang keinen Hunger.

Layla sa’ida. Gute Nacht.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählten die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen 30’207 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das 81 Fälle mehr. Bis Mitte April kamen täglich neue Fälle in einem hohen dreistelligen Bereich dazu.

Die neusten Entscheidungen aus Bern: Der Bundesrat ist heute das erste Mal nach der Corona-Sondersession wieder zusammengekommen. An einer Pressekonferenz hat er vorgestellt, was er beschlossen hat. Das sind die wichtigsten Punkte:

  • Registrierung in Restaurants ist freiwillig: Restaurants, die am Montag wieder öffnen dürfen, sollen von jeder Gästegruppe die Kontaktangaben einer Person erfassen, damit allfällige Infektionen nachverfolgt werden können. Gäste dürfen die Angaben jedoch verweigern.

  • Corona-App startet frühestens im Juni: Am nächsten Mittwoch beginnt eine zweiwöchige Testphase mit der App zur Nachverfolgung von Corona-Infektionen. Das vom Parlament verlangte Gesetz dazu soll in der Sommersession verabschiedet werden. Somit kann die App frühestens Mitte Juni im grossen Stil eingesetzt werden.

  • Risikogruppen dürfen sich freier bewegen: Bis zum Montag werden die Empfehlungen für Risikopersonen und über 65-Jährige angepasst. Sie dürfen sich wieder frei bewegen und auch Läden besuchen. Aufgrund der stark gesunkenen Zahl von Neuinfektionen sei das Risiko kleiner, sagte der Corona-Delegierte des Bundes, Daniel Koch. Vorsicht sei jedoch nach wie vor geboten.

  • Grenzregime wird gelockert: Einreisegesuche von Erwerbstätigen, die bereits früher gestellt worden sind, sollen zuerst bearbeitet werden. Für Schweizerinnen und EU-/Efta-Staatsangehörige soll zudem der Familiennachzug wieder möglich sein. Grenzübergänge werden in Absprache mit den in- und ausländischen Partnerbehörden geöffnet, zu beachten ist die entsprechende Kommunikation; Grenzkontrollen werden weitergeführt.

Die eindrücklichsten Bildstrecken

Es sind seltsame und schwierige Wochen, die hinter uns liegen. Unsere Welt hat sich verändert – auch optisch. Wir zeigen Ihnen vier der aussergewöhnlichsten Fotosammlungen, die ohne die Corona-Krise nicht entstanden wären.

  • Freie Fahrt: Die Pandemie hat sonst viel befahrene Strassen leergefegt. In der Schweiz zeigt dies die Bildstrecke «Chronik einer angekündigten Leere» der NZZ eindrücklich.

  • Plötzlich diese Leere: Besonders spektakulär ist die Bildstrecke der «New York Times», die unter dem Titel «The Great Empty» zeigt, wie einige der berühmtesten Orte der Welt menschenleer aussehen.

Ausserdem. Ein Lesetipp:

  • Jedem seine Krise: Nach dem coronabedingten Abbruch der Frühlingssession war das Parlament in Schockstarre. Unsere neue Bundeshausreporterin Cinzia Venafro wollte wissen, was passiert, wenn sich die Politikerinnen erstmals wieder treffen – und ob die historische Zäsur politische Haltungen verändert. Ihre Antworten lesen Sie hier.

Frage aus der Community: Wieso wird nirgends erwähnt, wie viele Personen in der Schweiz wieder genesen sind?

Das Bundesamt für Gesundheit weist die Zahlen der an Covid-19 erkrankten und wieder genesenen Personen nirgends aus, weil es selber keinen Überblick darüber hat. Im Gegensatz zu Todesfällen sind Genesungen nicht meldepflichtig. Dass geheilte Personen statistisch nicht erfasst würden, habe auch damit zu tun, dass man den Übergang von krank zu geheilt nicht immer genau definieren könne, sagt Epidemiologe Christian Althaus. Gilt eine Person als geheilt, wenn sie sich wieder gesund fühlt? Oder wenn sie zweimal negativ auf das Virus getestet wurde? Nicht immer gibt es einen eindeutig bestimmbaren Moment. «Deshalb sind die Zahlen zu den Geheilten immer eine Art Schätzung», sagt Althaus.

Vereinzelte Kantone publizieren in ihren Corona-Bulletins zwar die Anzahl geheilter Personen in ihrer Region, weisen aber – wie etwa im Aargau – darauf hin, dass die Zahlen vom kantonsärztlichen Dienst geschätzt oder, wie in Baselland, kalkuliert worden sind. Als Grundlage gelten dabei die Erkenntnisse zur durchschnittlichen Krankheitsdauer für leichte, mittlere und schwere Fälle. Somit gibt es auch für die Anzahl der schweizweit genesenen Personen nur Berechnungen: Das Interaktiv-Team des «Tages-Anzeigers» geht davon aus, dass gestern Donnerstag von den gut 30’000 bisher als infiziert registrierten Personen knapp 26’000 wieder geheilt waren.

Zum Schluss ein Blick nach Schweden, wo Firmen sich die Sache mit der Kurzarbeit doch noch einmal überlegen

Husch, husch passte das schwedische Parlament Anfang April sein Kurzarbeitsgesetz an, um zu vermeiden, dass die Corona-Krise eine Kündigungswelle auslöst. Voraussetzung für staatliche Unterstützung sind gemäss Gesetzesmaterialien «ernste ökonomische Schwierigkeiten», weshalb es «nicht als gerechtfertigt angesehen wird, wenn Arbeitgeber, die von der Allgemeinheit unterstützt werden, Dividenden ausschütten». Dass das eine das andere ausschliesst, wurde jedoch nicht ausdrücklich ins Gesetz geschrieben. Weshalb auch Grosskonzerne wie SKF oder Volvo, die riesige Summen an Dividenden ausschütten, Anträge stellten – und positive Bescheide bekamen. Politik und Bevölkerung reagierten mit einem Shitstorm, worauf die Behörden klarstellten: Firmen, die Dividenden ausschütten, erhalten kein Kurzarbeitsgeld. Ein Sonderermittler soll nun prüfen, wer zu Unrecht erhaltene Leistungen zurückzahlen muss. Zumindest in einem Fall wird das nicht nötig sein: SKF sah kurz darauf schon keinen Bedarf mehr für Kurzarbeit. Die Beschäftigten arbeiten wieder Vollzeit.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Ein schönes Wochenende und bis Montag.

Bettina Hamilton-Irvine, Patrick Venetz und Hannes von Wyl

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Gestern haben wir Ihnen zur Entspannung empfohlen, schwedischen Elchen per Livestream beim Baden zuzuschauen. Heute wurden wir freundlicherweise darauf aufmerksam gemacht, dass man gar nicht so weit in die Ferne schweifen muss, um sich ein eindrückliches Naturerlebnis in die Stube zu holen.

PPPPS: Die Postbotin hat den gestrigen Covid-19-Uhr-Newsletter an die falschen Adressen ausgeliefert. Will heissen: Alle Republik-Verleger haben ihn bekommen. Dafür haben «Nur»-Newsletter-Abonnentinnen vergeblich gewartet. Sie entschuldigt sich höflich und reicht ihn Ihnen hier nach.

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