So sieht sie aus – die Demokratie mit Schutzkonzept: Parlamentarier vor der Messehalle.

Jedem seine Krise

Diese Woche hat das Parlament seine Arbeit wieder aufgenommen. Was ist anders nach Corona?

Von Cinzia Venafro (Text) und Goran Basic (Bilder), 08.05.2020

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Weisswein-Apéro auf zwei Meter Distanz? «Das ist ein ziemlich einsames Saufen», sagt Gerhard Pfister. Der CVP-Chef, der melancholische Denker unter den Partei­präsidenten, diskutiert mit der Republik die Frage, was nach Corona alles anders sein wird. Und weil Weisswein-Apéros genauso zum Berner Politik­betrieb gehören wie trockene Kommissions­sitzungen, landen solche Gespräche irgendwann immer beim lustig machenden Flüssigen.

Blauer Himmel, 22 Grad, Sonnen­schein. Bern strahlt an diesem Montag­morgen, an dem das Parlament nach sieben Wochen Stillstand und Bundesrats-Alleingang wieder in die Debatte und den Diskurs steigt. Oder es zumindest versucht.

«Es ist ein bisschen zu DDR-artig hier drin, für meinen Geschmack», sagt SP-Präsident Christian Levrat beim Schwatz. «Man hat nicht so Lust zu streiten.»

15 Tramminuten vom Bundes­haus entfernt trafen sich diese Woche alle 200 National- und 46 Stände­rätinnen zur ausser­ordentlichen Corona-Session. «Lassen Sie die Demokratie wieder aufleben», sagt Bundes­präsidentin Simonetta Sommaruga zum Auftakt. Vor ihr sitzt das versammelte Parlament in der überdimensionierten Messe­halle – zwölfmal grösser als der National­rats­saal im Bundes­haus – mit zwei Metern Bein­freiheit für jeden, eigenem Pult und der gleichen Sitz­nachbarin wie unter der Bundeshaus­kuppel. Zuerst eine Regierungs­erklärung – ungewöhnlich für die Schweiz –, die Parlamentarier kommen erst danach an die Reihe.

Bundesrat Ueli Maurer, Finanzminister, bei der Ankunft.
Kommen sich näher, aber nicht zu nah: Jacqueline Badran, SP, diskutiert mit einem Polizisten.
Trug schon Maske, als es noch nicht cool war: Magdalena Martullo-Blocher, SVP, steht vor dem Eingang zur Bernexpo.

Man werde die Schweiz aus der Krise führen, und Corona werde das Land widerstands­fähiger machen, sagt Sommaruga ins frisch desinfizierte Mikrofon – und schiebt nach: «Corona fa pli robust.»

Auf Rätoromanisch klingt selbst Sommaruga martialisch.

Die Demokratie lebte dann vorwiegend dadurch wieder auf, dass das Parlament per Notrecht verfügte Gesetze legitimierte. Da und dort korrigiert es die bundes­rätlichen Entscheide. Für Kitas spricht es gegen den Willen des Bundes­rats 65 Millionen, die restlichen Milliarden winkt es durch. Einen Entscheid über den Erlass von Geschäfts­mieten vertagt es.

Geeint über Partei­grenzen hinweg, sprechen die Parlamentarier Milliarden­beträge und verabschieden Gesetze, über die in der reform­faulen Schweizer Legislative noch vor wenigen Monaten erbitterte Kämpfe ausgebrochen wären. Corona erschüttert den Schweizer Politikbetrieb.

Sichtbeton statt behaglicher Palmen

Ist etwas anders als vor Corona? Optisch gewiss. Grauer Sicht­beton statt geschnitzter Stuckaturen. Stimmungs­mässig tötet die Architektur der Bernexpo – geschaffen für Gewerbe­messen und allerlei Kongresse – so ziemlich jeden Charme. Tageslicht gibts auch keines – und nicht wenige Parlamentarierinnen vermissen sogar die «doofen Palmen», die in der Wandel­halle rumstehen. Nach ein paar Stunden in der grauen Beton­halle stellen viele fest: So «doof» waren diese Palmen wohl doch nicht; sie sorgten für Behaglichkeit und stumme Unterhaltung.

Ein Schild mit dem Logo des Bundeshauses auf dem Vorplatz.
Alfred Heer, SVP, macht mal Rauchpause.
Petra Gössi, FDP, verschafft sich einen Überblick.
Thomas Aeschi, SVP, gibt ein Interview.

CVP-Frohnatur Martin Candinas käfelet auf der Treppe. Er small­talkt und beisst genüsslich in ein Gipfeli, während sich seine Kollegen unbeholfen mit zwei Metern Distanz an ihm vorbeischlängeln. «Ach, i ksehhn das nita so eng», sagt der Bündner Nationalrat. Sein Lachen hallt durch die Gänge. Manche Dinge ändern sich nie.

Andere schon: Die Journalistinnen wurden von den Parlaments­diensten in den Keller verbannt. Selbst zum Unverständnis der gern medien­kritischen SVP steht in der Halle keine Presse­tribüne im Ratssaal. Und statt Gross­mutters Braten mit Nüdeli für gut 25 Franken im Bundeshaus­restaurant «Galerie des Alpes» gibts in Plastik verpackte Laugen-Sandwiches – wahlweise mit Käse oder Kochschinken.

Ausser einigen SVP-Politikern, die sich neidisch beäugt von Kolleginnen Pizzas bestellt haben, kauen die Parlamentarier am ersten Zmittag dieser Session auf ihren Brötchen herum. Auf dem tristen Asphalt vor dem Haupt­eingang kommt dank der Sonne (und der Pizzas, SVP-Hardliner Andreas Glarner bietet auch der Republik ein Stück an) etwas Stimmung auf. Und SVP-Banker Thomas Matter versucht vergeblich, ein «Bierchen» aufzutreiben.

Gefundenes Fressen für die Fotografen: Die SVP-Fraktion hat sich Pizzas bestellt. Weniger proaktive Parteien bekommen Sandwiches.
Provozieren Futterneid: Stefanie Heimgartner, Christian Imark, Andreas Glarner, Thomas Hurter, Sandra Sollberger-Muff, Diana Gutjahr (v. l.).
Politik macht offensichtlich hungrig: Diana Gutjahr und Andreas Glarner, beide SVP.

Und unter der Oberfläche? Ist da auch etwas anders als vor Corona? Verändert die historische Zäsur politische Haltungen?

Blick aufs Handy­display von Thomas Matter. Der Millionär, der wegen der Milliarden, die an diesem Tag gesprochen werden, ein «mulmiges Gefühl» hat und jetzt «endgültig realisiert, wie wichtig die Schulden­bremse ist», scrollt lange auf seinem iPhone. Er will uns einen Witz zeigen, den sich die Parlamentarierinnen in den ersten Lockdown-Tagen gegenseitig zugeschickt haben.

Der Witz geht so: «Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, es ist vollbracht: Alle Parteien sind zufrieden. Die SVP ist glücklich, dass die Grenzen geschlossen sind. Die SP freut sich, dass 42 Milliarden ans Volk verteilt werden. Die Grünen feiern das Erreichen der Klima­ziele vom Pariser Abkommen – 30 Jahre schneller als geplant. Die CVP begrüsst, dass die Familie wieder zusammen ist. Und die FDP erfreut sich, dass die Banken immerzu offen sind. Und das alles ohne Wahlen. Vive la Suisse!»

In Feierlaune sind die Grünen allerdings nicht. Die letzt­jährige Wahl­gewinnerin scheiterte trotz neuer Stärke grandios darin, die Swiss-Rettung an Umwelt­ziele zu knüpfen – der Bundes­beschluss ist nicht einmal referendums­fähig. Bei der politischen Krisen­bewältigung hört der Spass auf.

Mit hängenden Schultern konstatiert Partei­präsidentin Regula Rytz: Nein, Corona habe die Politik nicht verändert. Alle fühlten sich jetzt in ihren Positionen bestätigt.

Die SVP versuche nun, ihre Abschottungs­politik corona­konform «zu verkaufen». «Und wir betonen die Bedeutung des Klima­schutzes für einen wirtschaftlichen Neustart.» Corona zeige, dass Krisen uns umso härter träfen, je länger wir sie vor uns herschöben. «Und im Gegensatz zu Corona ist die Klima­krise kein neues Virus, das aus dem Nichts kam.»

Im Vordergrund, von links: Kathrin Bertschy und Corina Gredig, beide GLP. Im Hintergrund, von links: Marianne Streiff-Feller und Lilian Studer, beide EVP.

Same same but different also? Zurück zur alten Ordnung, bloss mit Milliarden weniger in der Bundeskasse?

Noch immer ohne Weisswein, sinniert CVP-Chef Pfister über die Schweiz nach Corona. Gibt es etwas, worüber Sie jetzt anders denken als noch im November?

«Ja. Es braucht jetzt einen New Deal und neue Paradigmen. Wir müssen die Nachhaltigkeit auch im wirtschaftlichen Bereich überdenken. Wirtschaftlich sind wir in medizinischer Sicht abhängig von China und Indien bei der Herstellung von Grundstoffen von Medikamenten, insbesondere Antibiotika. Der Grund dafür ist der Markt. Race to the bottom: Dort, wo es am günstigsten ist, dort produziert man. Darüber müssen wir also nachdenken: Was ist eine nachhaltige Wirtschafts­politik für die Schweiz? Wir müssen uns darüber unterhalten, wie viel uns eine Autonomie in dieser Hinsicht wert ist. Corona zeigt: Sie muss uns mehr wert sein!»

Pfister hat mit seiner CVP die Wahlen im Herbst zwar verloren, gehört aber zu den heimlichen Gewinnern. Mit seiner Mittefraktion hat er die alte Macht im Parlament zurück­erobert. Mehrheiten ohne ihn: schwierig.

SRF-Moderatorin Nathalie Christen spricht in ihr gut geschütztes Mikrofon.
Gerhard Pfister, CVP, der melancholische Denker unter den Parteipräsidenten.

Und so horcht man auf, wenn Pfister im Gespräch laut über Richtungs­wechsel nachdenkt, plötzlich wie ein Linker spricht – und etwa die Ausgestaltung unserer Sozial­versicherungen infrage stellt. «Sind ihre Ziel­setzungen noch effektiv und zeitgemäss für unsere Gesellschaft?» Der langjährige Revisions­stau spreche dagegen. Das Ziel der Sozial­versicherungen sei doch die «Absicherung aller Mitglieder unserer Gesellschaft – unabhängig von ihren Lebensumständen».

Aber auch Pfister bemüht – wenig erstaunlich – ewige Werte und immer­währende Rezepte: Aus der Mitte kämen die Lösungen, man müsse pragmatisch sein, intuitiv glaube er, dass «durch Corona Themen der politischen Mitte anders behandelt werden». Und jene, die sich jetzt ideologische Debatten lieferten, würden versuchen, die Bewältigung der Corona-Krise mit veralteten Schablonen zu erklären.

Die eigene Sicht war und ist und bleibt halt die richtige. Das sei «die Falle», in die man als Politiker jetzt falle, sagt Pfister – und tappt selbst hinein, indem er den Gemeinsinn bemüht: Es stelle sich jetzt nicht die Frage nach weniger Staat oder mehr Staat. «Sondern es ist das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft, das neu zu definieren ist.»

Spannung am Super Sunday

Neu definiert wird so einiges: Kampfjets, Vaterschafts­urlaub, Begrenzungs­initiative der SVP, Steuer­abzug für Kinder­drittbetreuungs­kosten und das Jagd­gesetz mit der Frage: Wann und wie darf man den Wolf erschiessen? Wegen der Pandemie wurde der Urnengang vom Mai mit jenem im Herbst zusammengelegt: fünf Abstimmungen, allesamt höchst umstritten, an einem Sonntag.

Wird Corona das Abstimmungs­verhalten der Bevölkerung beeinflussen?

Nachfrage beim Politologen Claude Longchamp. Er hat als Mann mit der Fliege dreissig Jahre lang fürs Schweizer Fernsehen die Abstimmungen analysiert. Für eine fundierte Aussage sei es noch zu früh, sagt er. Vor allem wisse man nicht, wie sich die erschwerten Bedingungen auf den Abstimmungs­kampf auswirken. Inwiefern das Versammlungs­verbot bis zum Sommer aufgehoben sein werde, könne derzeit noch niemand sagen. Und auch in der digitalen Meinungs­bildung seien die verschiedenen Lager unterschiedlich unterwegs.

Trotzdem wagt Longchamp eine Prognose. Für die Begrenzungs­initiative sieht er schwarz – auch wenn Grenz­schliessungen dank Corona wieder auf der Agenda stehen. Das Jagd­gesetz werde angenommen. Die Chancen der Kampfjets, des Vaterschafts­urlaubs und des Kinder­abzugs bewertet er als nicht schlecht. «Entscheidend wird sein, wie sich die Finanz­lage präsentiert.»

Grünen-Präsidentin Regula Rytz freut sich derweil, dass die Jets schon im September vors Volk kommen. Die Armee­mission Corona? Das sei ein misslungener PR-Stunt von Bundes­rätin Viola Amherd gewesen. Sie freue sich regelrecht drauf, die Flieger mit dem Finanz­argument zu bodigen.

Regula Rytz, Grüne Partei, im Gespräch mit Cinzia Venafro, Inlandreporterin der Republik.

Auf der Pro-Kampfjet-Seite wiederum ist man gottenfroh, dass der Abstimmungs­kampf durch die Pandemie verkürzt wird. Es helfe immer bei VBS-Themen, wenn es schnell gehe, heisst es bei den Kampfjet-Befürwortern im Parlament. Die grösste Gefahr sei bei Militär­vorlagen stets die Armee selbst: ein VBS-Skandälchen – und husch, schickt die Stimm­bürgerin die Flieger bachab.

Mit Geld versucht der Bund, die massiven wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise abzufedern. Am Geld werden sich die Vorlagen und Abstimmungen entscheiden.

Und so wählt SP-Präsident Christian Levrat im Gespräch das Bild eines Spielbretts. Die Schweizer Politik nach Corona werde sich wie ein Monopoly-Spiel im Sturm anfühlen. «Es kommt ein Windstoss: Das Geld und alles auf dem Brett liegt plötzlich kreuz und quer. Alles muss neu verteilt werden.» Die Wahrheiten von gestern seien so was von passé, sagt er mit seinem Gratis­kaffee in der Hand (im Bundeshaus kostet er 2 Franken 50, in der Bernexpo kostet er für die Parlamentarier nichts).

Fürchten Sie wegen der milliarden­hohen Bundes­ausgaben um den Vaterschafts­urlaub, Herr Levrat?

«Nicht unbedingt. Die grossen Auseinander­setzungen werden in den Sozial­werken stattfinden. Alters­vorsorge und Berufs­vorsorge. Wir hatten vor Corona einen BVG-Kompromiss, der auf Beitrags­erhöhungen basierte. Inwieweit er nach dieser Krise noch getragen wird, ist fraglich. Corona macht die Sanierung der zweiten Säule noch komplizierter. Es gibt weniger Geld im System, die Unternehmen sind in sehr grossen Schwierigkeiten.»

Levrat zeigt ein Foto einer Menschen­schlange in Genf. 2500 Leute seien in der Woche der Corona-Session dort angestanden, um einen Sack voller Lebens­mittel zu erhalten. Es brauche viel, um ihn als Politiker unter Druck zu setzen, sagt er. Aber dieses Bild! «Corona ist eine Zäsur. Ich bin sehr besorgt.»

Die beiden Ständeräte der SP: Hans Stöckli (links) und Christian Levrat auf dem Weg ins Sonder­sessions-Stöckli.
Ein weites Feld. Davor: SP-Politiker. Von links: Cédric Wermuth, Tamara Funiciello, Min Li Marti, Flavia Wasserfallen, Fabian Molina, Mathias Reynard, Baptiste Hurni.

Der Fribourger Genosse ist aber auch bestärkt. Wer «weniger Staat» als Motto führe, «habe nun ein Problem», sagt er und kann seine Freude darob nicht verbergen. Schliesslich hätten die Menschen in den letzten Wochen den Staat «in seiner geballten Kraft gesehen». Man habe gemerkt, dass «der Staat den Unterschied machen kann. Das versetzt die Liberalen in eine unmögliche Lage.»

Wie fest wurmt es einen eingefleischten Freisinnigen, dass der Staat durch Corona erstarkt?

Der Berner Christian Wasserfallen, in der FDP zu Hause seit Geburt (sein Vater Kurt war für die Partei in der Berner Stadt­regierung), beisst in sein staatlich offeriertes Sandwich und weiss nicht recht, was antworten. Daneben setzt Kollegin Christa Markwalder ein Poker­face auf. Sie schwafeln etwas vom Markt – und dann schiessen beide in Richtung SP.

Die Linken würden sich auch grad nicht mehr spüren. Jetzt wollten sie sogar jedem Bürger einen 200-Franken-Gutschein schenken. Von einem solchen Giesskannen­prinzip habe die Wirtschaft aber überhaupt nichts – und die Reichen: «Was sollen die damit machen?» Die bräuchten das doch nicht.

Und jetzt?

Die SP will Geld verteilen; die FDP sorgt sich um die Reichen; die Grünen wollen mehr Klima­auflagen und die SVP freut sich über geschlossene Grenzen. Vor der Krise ist in der Krise ist nach der Krise.

Aber Moment: Corona beweist den Parlamentarierinnen von links bis rechts doch noch etwas anderes, als dass sie halt schon immer recht hatten …

Er erinnere sich in diesen Wochen immer wieder an ein Zitat des verstorbenen deutschen SPD-Alt-Bundeskanzlers Helmut Schmidt, sagt CVP-Chef Pfister: «In der Krise zeigt sich der Charakter.» Das sei bei den Bundes­räten und seinen Fraktions­kollegen «auch interessant» zu beobachten.

Erstere profitieren von Corona, ist Politologe Claude Longchamp überzeugt. Der «Staats-Mann- respektive Staats-Frau-Effekt», wie er es nennt, sei in der Schweiz mit dem Siebner­gremium zwar nicht so eindeutig. «Faktisch aber ist Berset der Leader.»

Und so gehe der Gesundheits­minister seinen Bundesrats­kollegen seit Corona manchmal ziemlich auf den Geist, heisst es in den kargen Hallen der Bernexpo. Lob erhält der SP-Mann zwar von allen Parteien. Aber seine Schwäche sei die Eitelkeit; er inszeniere sich zu gern, heisst es. Der aktuelle Running Joke im Bundesrat laute: «Jetzt hat der gute Alain dann wirklich langsam das Gefühl, er sei der zweite Obama.»

Vermutlich ist Berset dieser Spruch auch zu Ohren gekommen. Während der Sonder­session hält sich der Gesundheits­minister auffallend zurück, keine grossen Auftritte – und auch unter die Parlamentarierinnen mischt sich der sonst sehr gesellige Welsche nicht.

Was ist also neu nach Corona?

Wer genau hinhört und -schaut, erkennt da und dort Nuancen, neue Schattierungen, Andeutungen eines Sinnes­wandels – möglicher­weise sind sie auch nur dem Moment geschuldet und vorüber­gehend. Auf eine Haltungs­änderung bei der hängigen Pflege­initiative angesprochen, will sich beispiels­weise keiner der Parlamentarier gegenüber der Republik aus dem Fenster lehnen.

In der Mitte – wenig überraschend – könnte die Gunst für das Volks­begehren gestiegen sein. Sie wolle den Pflege­beruf aufwerten, heisst es dort. Doch rechts der Mitte will niemand eine Berufs­gruppe in die Verfassung schreiben – wie es die Initiative letztlich verlangt. Der indirekte Gegen­vorschlag, die abgeschwächte Version der Gesundheits­kommission, wird erst in einer der kommenden Sessionen behandelt.

In der Bernexpo geschah immerhin bei einem Thema Erstaunliches: Der Nationalrat forderte am Dienstag ein zwei­jähriges Dividenden­verbot für Firmen, die Kurzarbeits­entschädigung beziehen. Es wäre ein historischer Eingriff in die Schweizer Privat­wirtschaft gewesen, wenn der konservativ dominierte Ständerat die Forderung tags darauf nicht wieder vom Tisch gefegt hätte. Hat er aber. Der Corona-Paukenschlag bleibt aus.

So bleibt die Erkenntnis: Schweizer Politikerinnen und Politiker finden in der Pandemie vor allem ihre eigene Sicht bestätigt. Corona, das Virus der eigenen Wahrheit.

Das «Bierchen» nach der Arbeit: Thomas Matter (Mitte) mit seinen SVP-Kollegen.

Die eigene Wahrheit ist anstrengend. Da dürstet es den Politiker auch zu Corona­zeiten nach Alkohol: In der Bernexpo wird am Ende des Sessions­tages die (Polit-)Tradition, der Apéro, zelebriert. «Einsames Saufen», wie von CVP-Pfister befürchtet, muss also auch in Pandemie­zeiten nicht sein.

Und so verschwinden gemeinsam mit der Sonne einige SPler mit Bier­dosen ausgestattet auf die Wiese hinter dem Messe­gelände; ein paar hundert Meter entfernt trinkt die FDP stilecht aus mitgebrachten Wein­gläsern – und die SVP frönt dem Gersten­saft vor dem Haupt­eingang. Jetzt hat auch Thomas Matter endlich «ein Bierchen».

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