Covid-19-Uhr-Newsletter

Still leben

27.04.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Heute wurde der Lockdown in der Schweiz erstmals gelockert. Trotzdem ist Normalität noch in weiter Ferne. Aber kann man sich über diesen Ausnahmezustand eigentlich auch freuen? Die Journalistin und Autorin Anna Miller hat für den Covid-19-Uhr-Newsletter aufgeschrieben, was ihr an der verordneten Ruhe gefällt:

Jetzt diese Stille. Hier sitzen und nichts mehr müssen. Der Nagellack, der von den Nägeln blättert, ohne dass ich mich dafür schämen muss. Die Langeweile, die sich über meine Tage legt, die Übersättigung und Nüchternheit, mit der ich den digitalen Geräten begegne, weil endlich Zeit ist, um mich zu fragen, wie ich mich eigentlich fühle, nachdem ich Jahre damit beschäftigt war, ein Leben abzuliefern. All die Menschen, die sich nun mit Federbällen im Garten aufstellen, die als Familie Fahrrad fahren und nett sind zueinander, sich einen guten Tag wünschen an der Kasse. All der Druck, der abgefallen ist bei der Arbeit. Die Geduld, wenn die Dinge nicht funktionieren. Das Mitgefühl für die private Situation daheim. Der gemeinsame Spieleabend mit meinen Mitbewohnern und all die Sorgfalt, die in eine Liebe fliesst, weil ich sie nicht mehr jeden Tag vor mir stehen habe wie sonst.

All die Zeit, die ich nun habe. Die Verletzlichkeit, die sich aus meinem Innersten herausschält, ermutigt durch die Verletzlichkeit der Welt. Diese Ehrlichkeit und Demut, die sich über uns legt. Alle reden von Krise, wir reden von Krise, die Welt ist im Krisenmodus, und ich, die heimlich denkt: Irgendwie ist endlich alles auch ein bisschen normal.

Das ist eine sehr privilegierte Haltung. Ein Gedankenspiel, dem sich nur wenige Menschen hingeben können, ein Gedanke, dem man nachgeht, wenn die Kinder nicht grad schreien, man keine Existenzängste hat, keinen geschlossenen Laden, keinen schlagenden Ehemann. Wenn man nicht krank ist, nicht alt, sich nicht einsam fühlt, nicht in seiner Freiheit eingeschränkt.

Und doch möchte ich darüber reden, dass dieses erzwungene Weniger, dieser Einbruch an Hedonismus, an Freizeitstress und an Selbstoptimierungswahnsinn, mich auch ein Stück weit heilt. Und ich glaube, dass es nicht nur mir so geht. Dieser Ausnahmezustand ist nicht nur ein Ausnahmezustand. Er ist auch eine Rückbesinnung auf eine Normalität, die wir vergessen haben.

Wir können zwar rennen und organisieren und jeden Moment mit Programm füllen, ständig unterwegs und gestresst, kaufen und arbeiten und reisen und das Leben feiern, mit drei Gläsern Aperol Spritz und dieser schönen neuen Sonnenbrille und diesen ewig gleichen Gesprächen über all die grossen Pläne. Aber da ist eben auch dieses Gefühl von Versagen, von Erschöpfung, von Atemlosigkeit.

Kein Mensch, den ich kenne, der nicht irgendwann nicht mehr nachkam, mit allem, was er hätte sollen und müssen und wollen. Wir alle drehen im kollektiven Burn-out, schon so lange, dass es uns gar nicht mehr aufgefallen ist, wie absurd und krank uns dieses Tempo gemacht hat. Und wenn ich jetzt daran denke, wie morgen vielleicht die Gitter an den Seen und auf den Plätzen wieder weggeschoben werden und in der Früh wieder Tausende Leute mit ihren Coffee-to-go-Bechern in den überladenen Zugabteilen sitzen und in ihre Smartphones starren, wird mir ein bisschen schwindelig. Und ich bin froh, dass ich noch hier sitze, an einem kleinen Holztisch, mit Sicht auf einen Garten, in dem ein Kind gerade eine Katze streichelt, und dass mich dann eine Freundin anruft und fragt, wie es mir geht, und ich sage, weisst du, besser als auch schon, keine Ahnung, ist das normal?

Und dann denke ich, fühle ich plötzlich, dass diese Zeit uns eben auch eine Lehre sein kann, uns einen Moment der Besinnung bringt, Leere, die sich über uns legt wie frischer Schnee über ein karges Feld, sodass alles ruhig wird, und in uns drin alles wach.

Dass wir uns plötzlich verbunden fühlen, nicht nur mit Freunden und dem Partner, sondern mit einer Gemeinschaft, die wir nun kollektiv abfeiern. Weil wir gar nicht fassen können, wie schön sich das anfühlen kann, wenn wir plötzlich an einem Donnerstagnachmittag über den Balkon mit unserem Nachbar ins Gespräch kommen, jemand, der seit Jahren neben uns wohnt, wie heisst du eigentlich, verrückt, keine Ahnung, wer du bist, wie konnte ich dich nur so liegen lassen über all die Zeit, entschuldige, ich war irgendwie woanders, aber jetzt bin ich da, und jetzt gerade reicht das völlig aus.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zählen die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute mindestens 29’164 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Bis Anfang April kamen täglich neue Fälle im vierstelligen Bereich dazu. Mittlerweile liegt die Zahl im niedrigen dreistelligen Bereich. Gestern Sonntag waren es 103 Personen.

Ansturm auf Fachgeschäfte: Erstmals seit Wochen empfingen Coiffeure und Zahnärzte heute ihre Kunden, zudem öffneten auch Baumärkte und Gartencenter – vielerorts in der Schweiz waren lange Schlangen zu sehen. Sämtliche Branchen hatten zuvor eigene Schutzkonzepte gegen eine Übertragung des Coronavirus ausgearbeitet. Übermorgen Mittwoch will der Bundesrat über die zweite Etappe der Lockerung entscheiden: Vorgesehen ist, dass am 11. Mai die Primar- und Sek-I-Schulen wieder geöffnet werden und alle Einkaufsläden und Märkte ihren Betrieb aufnehmen.

Gute Nachricht für Grosseltern: Ab sofort dürfen Grosseltern ihre Enkelkinder wieder kurz in die Arme nehmen – sofern sie Abstand zur mittleren Generation halten. Das sagte Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit am Wochenende in einem Interview mit dem Magazin «Grosseltern». Und sorgte so für das neueste Kapitel in der seit Wochen andauernden Verwirrung um Nähe und Distanz zwischen den Generationen (siehe Community-Frage im Newsletter vom vorletzten Freitag). An einer Medienkonferenz präzisierte Koch heute, dass das Ansteckungsrisiko nur bei Kleinkindern vernachlässigbar sei, nicht aber bei Jugendlichen ab 10 Jahren. Unabhängig vom Alter sollten Grosseltern ihre Enkel mindestens bis Sommer nicht hüten. Verzichten sollen Seniorinnen zudem weiterhin auf den Besuch in Geschäften, so Koch.

Italien und New York lockern die Massnahmen: Ab kommendem Montag dürfen Italienerinnen wieder mehr Sport im Freien treiben. Das kündigte Ministerpräsident Giuseppe Conte am Sonntagabend an. Die Schulen aber bleiben bis zu den Sommerferien geschlossen – in den Klassenzimmern unterrichtet wird somit erst im September wieder. Ebenfalls gestern präsentierte mit New York ein weiterer Pandemie-Hotspot seinen stufenweisen Plan für die Rückkehr zur Normalität: In weniger betroffenen Teilen des US-Bundesstaats können die ersten Firmen ab dem 15. Mai öffnen. Die Bewohner der gleichnamigen 8,5-Millionen-Metropole New York werden sich aber länger gedulden müssen. Dort sei die Öffnung besonders schwierig, so Gouverneur Andrew Cuomo.

Die besten Faktenchecks und Tipps

Das Durcheinander wird immer grösser. Es kursieren Gerüchte, Verschwörungstheorien und Missinformation. Zugleich haben uns in den letzten Wochen aber auch Hunderte Mails mit sehr guten Fragen erreicht, die wir leider nicht alle beantworten können. Grundsätzlich gilt noch immer: Wir wissen noch sehr wenig über das Virus Sars-CoV-2, seine Gefährlichkeit, Verbreitung und Bekämpfung. Falls wir Ihre Frage noch nicht beantworten konnten oder Sie auf eine suspekte Nachricht gestossen sind, empfehlen wir die folgenden Adressen:

  • Das Faktencheck-Portal von Correctiv: Die Republik hat bereits mehrmals mit dem deutschen Recherchezentrum zusammengearbeitet. Seine Berichterstattung zeichnet sich vor allem durch methodische Transparenz und Genauigkeit aus; die Faktencheck-Richtlinien sind online aufgeschaltet.

  • Der Faktencheck vom Südwestrundfunk: Der öffentlich-rechtliche Radiosender SWR 3 hat auf seiner Website die gängigsten Falschnachrichten und Verschwörungstheorien überprüft. Die Journalistinnen erklären auf verständliche Art, was stimmt, was nicht stimmt – und wieso viele Fragen schwer zu beantworten sind.

  • Das FAQ vom Robert-Koch-Institut: Das wissenschaftliche Zentrum ist eine Bundesbehörde und in Deutschland für die Krankheitsüberwachung und -prävention zuständig. Seine Forschung ist europaweit führend.

Ausserdem zwei Empfehlungen aus der SRF-Mediathek:

Frage aus der Community: Kann UV-Strahlung das Virus abtöten?

Ultraviolettes Licht ist ein elektromagnetisches Spektrum des Sonnenlichts – und für den Menschen gefährlich. Es erhöht das Hautkrebsrisiko stark. Doch die UV-Strahlung hat auch einen nützlichen Nebeneffekt: Sie tötet bestimmte Bakterien, Pilzsporen und Viren äusserst effizient ab. Dazu wird meistens die künstlich erzeugte UV-C-Strahlung verwendet. Auch im Kampf gegen Sars-CoV-2 kommen entsprechende UV-Lampen zum Einsatz, etwa um Oberflächen in medizinischen Labors zu desinfizieren.

Wie stark das natürliche Sonnenlicht das Virus beschädigt, ist noch umstritten. Forscher der Universität Connecticut haben herausgefunden, dass die natürliche UV-Strahlung die Replikation von Sars-CoV-2 stark verlangsamt. Die Resultate der Studie sind aber noch nicht gesichert: Sie liegt im Moment erst als sogenannter Preprint auf dem Server medRxiv, und die Forscher schreiben, dass die Resultate mit grosser Unsicherheit behaftet sind. (Um solche Preprints und um den wissenschaftlichen Publikationsprozess geht es in unserem Beitrag «Die Wissenschaft im Stresstest».)

So oder so: Menschen sollten sich weder natürlicher noch künstlicher UV-Strahlung aussetzen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen. Exzessives Sonnenbaden gegen Corona? Das bringt nichts und ist gefährlich.

Zum Schluss ein Blick nach Japan, wo sich gerade zeigt, was passiert, wenn der Lockdown zu früh aufgehoben wird

Hokkaido war früh dran: Am 19. März lockerte die nordjapanische Insel den drei Wochen zuvor verfügten Lockdown. Firmen nahmen die Produktion wieder auf, Bars und Restaurants öffneten, die Schülerinnen kehrten in die Klassenzimmer zurück. Zweierlei hatte dafür den Ausschlag gegeben: Zum einen wähnten sich Politiker und Epidemiologen in Sicherheit, weil im März von Tag zu Tag weniger Menschen an Covid-19 erkrankt waren; zum anderen hatte der Druck der regionalen Wirtschaft gewirkt, der nach etlichen Konkursen immer grösser geworden war (so gross, dass sich ein Vertreter des Landwirtschaftsministeriums sogar als Kuh verkleidete, um die Bürger zu ermutigen, mehr Milch zu trinken).

Doch bald zeigte sich: Die Lockerung erfolgte zu früh. Eine zweite, deutlich stärkere Welle erfasste die Präfektur, die innerhalb Japans zunächst als Vorbild für den Umgang mit dem Coronavirus gegolten hatte. Die Infektionsraten schnellten in die Höhe.

Nach 26 Tagen Normalität verhängte Hokkaido Mitte April erneut den Ausnahmezustand. «Wir hätten den ersten Ausnahmezustand nicht aufheben sollen», sagte Kiyoshi Nagase, Chef der Hokkaido Medical Association, dem amerikanischen Nachrichtenmagazin «Time».

Seine Lehre aus der verfrühten Lockerung: Bis ein Impfstoff oder ein Medikament gegen das Coronavirus verfügbar sei, müsse im Interesse der Gesellschaft jeder Bürger persönliche Verantwortung übernehmen – und seine persönlichen Bedürfnisse zurückstellen. Die Pandemie werde das Leben der Japanerinnen noch lange beeinflussen. «Es kann sein, dass wir die Beschränkungen bis nächstes Jahr aufrecht­erhalten müssen.»

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Dennis Bühler, Elia Blülle und Anna Miller

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Gestern hat es der Covid-19-Uhr-Newsletter ins Radio geschafft: Republik-Journalist Constantin Seibt war in der SRF-Sendung «Musik für einen Gast» zu Besuch. Dort hat er erzählt, wie wir über die Pandemie berichten, und eine Stunde mit seiner Lieblingsmusik bespielt – von Amy Macdonald bis Queen.

PPPPS: Apropos Musik. Vor sechs Wochen haben wir eine Spotify-Quarantäne-Playlist erstellt. Mittlerweile hat sie fast 600 Abonnentinnen, die fleissig ihre Favoriten teilen. Machen Sie mit!

PPPPPS: Apropos Spotify. Am Wochenende ist die elfte Folge der «Wochenrevue» erschienen. Ein Podcast, der jeden Samstag in weniger als zehn Minuten berichtet, was in der Republik los war. Zu hören war diesmal unser Korrektor Daniel Meyer, der von seiner Arbeit und seinen Lieblings­texten erzählte. Ein auch für uns besonders wichtiger Kollege – ohne ihn wäre dieser Newsletter ein orthografisches Sodom und Gomorrha.

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