Die Wissenschaft im Stresstest

Das Coronavirus treibt die Forschung zu Rekordleistungen: Noch nie sind in so kurzer Zeit so viele Studien entstanden. Wie Fast Science funktioniert – und welche Schattenseiten sie haben kann.

Von Ronja Beck, Marie-José Kolly (Text) und Offshore Studio (Infografik), 17.03.2020

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Es ging verdammt schnell: Keine zwei Wochen nachdem die chinesischen Behörden der Weltgesundheits­organisation (WHO) ein neues, noch unbekanntes Virus gemeldet hatten, lag es nackt vor uns – am 11. Januar 2020. Forscher aus Shanghai hatten es geschafft, das Genom des neuen Corona­virus Sars-CoV-2 zu sequenzieren. Seither weiss die Welt, mit wem sie im Ring steht.

Wie sie den Kampf gewinnen kann, erforschen Wissen­schaftlerinnen seit inzwischen gut zwei Monaten. Je mehr sie über das Virus und die von ihm hervor­gerufene Krankheit Covid-19 herausfinden, desto besser können Politik, Behörden und Gesell­schaft darauf reagieren.

Die Zeit drängt. Denn nur schnelles Wissen erlaubt schnelles Handeln. Gefragt ist eine Wissen­schaft, die ohne Umschweife Ergebnisse liefert.

Gefragt ist: Fast Science.

Es erscheinen so viele Studien wie noch nie

«Eine schnelle Verbreitung von wissenschaftlichen Ergebnissen ist jetzt dringend nötig», sagt Christian Althaus, Epidemiologe an der Universität Bern, zur Republik. Und seit dem Ausbruch der Coronavirus-Epidemie liefert die Wissen­schaft Ergebnisse. Viele Ergebnisse.

Sie liefert schnell: Bei Sars und Mers, zwei ähnlichen Infektions­krankheiten, erschienen während eines ganzen Jahres nicht so viele Studien wie bisher zu Covid-19.

Quelle: Reuters. Publikationen auf Preprint-Servern und in wissenschaftlichen Zeitschriften bis und mit 10. Februar. Neuere Zahlen zu Covid-19-Studien sind nicht verfügbar. Sars brach 2002/2003 aus, Mers 2012.

Die Wissenschaft läuft also auf Hoch­touren. Vor unseren Augen entsteht Forschung in Realtime und in einem Tempo, wie wir es noch nie gesehen haben.

Die Wissenschafts­community ist deswegen mehrheitlich begeistert: Bereits nach kurzer Zeit gab es von Forschungs­teams Hinweise zur Beschaffenheit und zur Verbreitung des neuen Virus. Auf dieser Arbeit, auf diesen Daten konnten nun andere aufbauen.

Doch die Schnelligkeit der Wissen­schaft hat einen Preis.

Wenn aus Fast Science Fake News werden

Am 31. Januar, es ist ein Freitag, erscheint auf einem Server eine Studie. Neun Forscher aus Delhi versprechen schon im Titel eine Sensation: Das neue Virus Sars-CoV-2 sei dem HI-Virus frappierend ähnlich. Und diese Ähnlichkeit, schreiben sie im ersten Absatz ihrer Studie, sei nicht zufällig.

Noch am selben Abend geht «Coronavirus gleicht HIV» auf den sozialen Medien viral. Furchterregend sei dies, twittern manche Accounts, von einer «neuen Biowaffe» fantasieren andere. Verschwörungs­theorien und Fake-News-Vorwürfe wechseln sich ab. Allein am 31. Januar erscheinen mehr als 13’000 Tweets, die «HIV» und das neue Corona­virus zum Thema haben.

Quelle: Crowdbreaks. Tweets vor dem 31. Januar beziehen sich meist auf Anwendungen von HIV-Medikamenten bei Covid-19-Patienten.

Gleichzeitig geschieht aber auf der Website, auf der das Paper erschienen war, etwas anderes. Unter der Studie erscheint ein erster Kommentar. Zwei Minuten später folgt der nächste – vor Mitternacht sind es bereits fünf.

Ein Biologe aus Toronto schreibt, die Studie sei hoch­gradig irre­führend. Ein Genetiker aus Canberra wirft den Autoren ihre defizitäre Methode vor. Und ein Mikro­biologe aus Berkeley erklärt, die Forscher aus Delhi würden deshalb ein zufälliges Resultat über­interpretieren. Er schliesst seine Erklärungen mit dem Satz: «Glückwunsch! Nachdem Sie das gelesen haben, sind Sie ein vorsichtigerer und fähigerer Bioinformatiker als die Autoren dieses Papers.»

So geht es die ganze Nacht. Es folgt Kommentar auf Kommentar, Antwort auf Antwort. Es entsteht eine verschachtelte Diskussion um Gensequenzen und Wahrscheinlichkeiten. Und auch auf Twitter klären Wissenschaftler die interessierte Öffentlichkeit über die Probleme hinter diesem Paper auf.

Was sind Preprint-Server?

Dass Forschungs­ergebnisse auf diese Weise veröffentlicht und diskutiert werden können, liegt an sogenannten Preprint-Servern.

Das sind öffentlich zugängliche Websites, auf denen Forscher einen Artikel lange vor der Publikation in einer wissen­schaftlichen Zeit­schrift einreichen können – deshalb pre-print. Nach einer minimalen Prüfung und nach maximal 48 Stunden erscheint der Artikel auf der Plattform.

Der Preprint-Server, auf dem die Autoren aus Delhi ihre Ergebnisse veröffentlichten, heisst bioRxiv. Es gibt diverse ähnliche Server, die oft auf bestimmte Fachgebiete spezialisiert sind.

Ihre Arbeit erschien, als die Autoren fanden, sie sei bereit – lange vor der Begutachtung durch unabhängige Kolleginnen, wie sie im wissen­schaftlichen Publikations­betrieb üblich ist. Denn diese Begutachtung nimmt meist viel Zeit in Anspruch. Als Preprint können Forscherinnen ihre Artikel sichtbar machen, sobald sie den letzten Satz geschrieben haben.

«Sobald es Preprint-Server gab, haben wir sie benutzt», sagt Marcel Salathé, Epidemiologe an der Eidgenössischen Technischen Hoch­schule in Lausanne (EPFL). Zahlreiche seiner Kolleginnen, besonders in den Natur­wissenschaften, tun das ebenso. Die Zahl der veröffentlichten Preprints ist in den vergangenen Jahren hochgeschnellt:

Quelle: PrePubMed. «Andere» sind Preprints von folgenden Servern: arXiv q-bio, F1000Research, Nature Precedings, PeerJ Preprints, Preprints.org, The Winnover, Wellcome Open Research.

Die Beschleunigung ist also von vielen Wissen­schaftlern erwünscht.

Denn sie vertrauen darauf, dass das System fähig ist, sich selbst zu korrigieren. Was nach der Publikation des «Coronavirus gleicht HIV»-Papers geschah, ist für sie kein Problem – sondern ein Beweis dafür, dass das System funktioniert:

Während sich am 1. Februar auf Twitter die HIV-Geschichte weiter verbreitet, bringt die Plattform bioRxiv auf jedem Paper zum Coronavirus einen Disclaimer an, auf hellgelbem Hintergrund:

«bioRxiv erhält viele neue Papers zum Corona­virus 2019-nCoV. Zur Erinnerung: Das sind vorläufige Berichte, die nicht peer reviewed worden sind. Sie sollten nicht als abschliessend betrachtet werden, und sie sollten nicht als Anleitung für die klinische Praxis oder gesundheits­bezogenes Verhalten dienen. Die Medien sollten sie auch nicht als etablierte Information wiedergeben.»

Quelle: bioRxiv.

Am Sonntag dann, am 2. Februar, reagieren auch die Autoren auf die Kritik an ihrem Paper. Von da an ist es auf bioRxiv zwar nach wie vor einsehbar, aber nun steht unter dem hellgelben Disclaimer ein weiterer. Diesmal auf rotem Hintergrund: «Dieses Paper wurde zurückgezogen

Ist der Rückzug nicht ein Beweis dafür, dass die Forschenden hier zu schnell waren?

«Nein», sagt Epidemiologe Christian Althaus, das sei im Gegen­teil ein tolles Beispiel dafür, wie der Prozess funktionieren sollte. «In der wissenschaft­lichen Community hat man das HIV-Paper von Anfang an kritisiert. Und das gilt auch für viele andere unsorgfältige Studien, die mittlerweile zum Coronavirus auf Preprint-Servern liegen.»

«Das ist ein guter Moment für die Wissenschaft», schreiben auch Ivan Oransky und Adam Marcus von der Datenbank Retraction Watch, die retractions, also zurück­gezogene Arbeiten, erfasst und kategorisiert.

Und für die Welt um sie herum?

Fast Science, serviert als Hundert­tausende von Tweets, hat im Internet viele hungrige Augen erreicht. Verschwörungs­theorien sind mit einer neuen falschen Theorie gefüttert worden. Und haben die Meldung vom HIV-Paper zwischen klimaskeptischen Beiträgen und Gerüchten zu einer neuen Biowaffe weiterverbreitet.

Dass die Forschenden ihr Paper zurück­gezogen haben, weiss nur ein Bruchteil derer, die irgendwo von «Corona­virus gleicht HIV» gelesen haben. Eine vermeintliche Sensation verbreitet sich schneller als nüchterne Korrigenda oder Fakten­checks. Und Tweets kann man nicht zurück­pfeifen, wenn sie einmal abgeschickt wurden.

Peer-Reviewing gerät unter Druck

Der Durst nach schneller Wissen­schaft, er kommt nicht von nirgendwo. Das traditionelle System ist vielen Forschern zu umständlich geworden.

Studien müssen bei Fach­zeitschriften eingereicht werden. Die Heraus­geber schicken sie zu einer Begutachtung, zum Peer-Review, an unabhängige Expertinnen. Diese schreiben ein Gutachten, auf das die Autoren schriftlich eingehen können. Und irgend­wann hat man ein publizierbares Paper.

Dieses «irgendwann»: Es kann Monate oder gar Jahre bedeuten.

Wenn Sie es genauer wissen wollen: So funktioniert der traditionelle Peer-Review-Prozess

Forschende schreiben die Ergebnisse ihrer Unter­suchungen als wissen­schaftliches Paper auf. In der Regel so: Einleitung, bisheriger Forschungs­stand, methodisches Vorgehen, Resultate, Inter­pretation und Diskussion. Sie wählen eine möglichst renommierte wissen­schaftliche Zeitschrift und reichen das Paper dort ein.

Die Zeitschrift teilt dem Paper einen Editor zu: ein Wissen­schaftler vom Fachgebiet, der zur Herausgeber­schaft der Zeitschrift gehört. Der Editor fragt zwei oder drei geeignete Wissen­schaftlerinnen um ein Gutachten an. Das ist, was man Peer-Reviewing nennt: Peers (gleichrangige Fach­kolleginnen) reviewen (begutachten) die Arbeit der Autoren. Sagen die Gutachterinnen zu, so gibt ihnen der Editor eine gewisse Zeitspanne für ihre Rück­meldung (oft mehrere Monate, im Corona­virus-Extremfall manchmal auch nur 24 Stunden).

Die Gutachterinnen schätzen ein, ob sich die Studie hinsichtlich Relevanz und Qualität zur Publikation eignet, kritisieren Einzel­aspekte und schlagen Änderungen vor. In der Regel bleiben sie für die Autoren anonym. Der Chancen­gleichheit zuträglicher ist es, wenn die Gutachterinnen die Identität der Autoren ebenfalls nicht kennen. Das nennt man dann Double Blind Peer Review.

Aufgrund der Gutachten entscheidet der Editor, ob er

  • das Paper zur Publikation annimmt (vielleicht verlangt er ein paar Änderungen am Text oder die Erwähnung weiterer bisheriger Studien),

  • das Paper und die Gutachten für eine substanzielle Überarbeitung zurück an die Autoren schickt. Diese müssen das überarbeitete Paper danach wieder einreichen, es geht erneut an die Gutachterinnen etc.,

  • das Paper ablehnt.

Die Autoren wiederum gehen in ihrer Antwort an den Editor auf jeden Kritik­punkt der Gutachterinnen ein und erklären, wie sie das Paper auf die Kritik angepasst haben (oder weshalb sie den Kritik­punkt zurückweisen). Nimmt die Zeitschrift ein Paper nach dem Peer-Review-Prozess an, so erstellt sie das Layout. Autoren und Editor lesen Korrektur, merken Einzel­heiten an und geben dann ihr finales Okay. Jetzt kann die Zeitschrift publizieren.

Deshalb erlebt der Wissenschafts­betrieb zurzeit die vielleicht grösste Turbulenz, seit Peer-Review zum Standard wurde. Die Gate­keeper, die Qualitäts­prüfer, die renommierten Zeit­schriften, sie werden auf die hinteren Ränge relegiert. Mit Preprints erlebt die Welt Wissen­schaft in Echtzeit mit.

Es wäre falsch zu glauben, dass dies zwangsläufig zu Qualitäts­einbussen führt. Denn auch wenn die Wissen­schaft Zeit bekommt, ist sie vor Fehlern nicht gefeit: Trotz Peer-Review gibt es immer wieder Studien, die als Humbug geoutet werden. Bis sie zurück­gezogen werden, können Jahre verstreichen.

Ein berühmtes Beispiel ist die 1998 im renommierten Journal «The Lancet» veröffentlichte Studie des britischen Mediziners Andrew Wakefield. Er beschwor darin einen Zusammen­hang herauf zwischen Autismus und dem Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln. Wakefields Resultate liessen sich in Folge­studien allerdings nicht reproduzieren. Sie waren falsch.

Erst 2004 flog Wakefield auf: Er hatte sich von den Anwälten von Eltern mit autistischen Kindern bezahlen lassen, welche die Impfstoff­hersteller verklagen wollten. Und erst 2010 wurde die Studie schliesslich zurückgezogen. Wakefields Behauptungen halten sich jedoch bis heute – und treiben die Masernfälle in die Höhe, weil Eltern ihre Kinder nicht impfen lassen.

Vielleicht wäre die Sache ganz anders gekommen, hätten Wakefield und seine Kollegen zuerst ein Preprint veröffentlicht. Wer mit spektakulären Resultaten auffährt und dabei unsauber arbeitet, wird in den Kommentaren schnell enttarnt – ähnlich, wie es den Autoren des HIV-Papers ging.

Der entscheidende Faktor: Die Zeit

Ein Paper zum Coronavirus, das die Community vermutlich ebenfalls entlarvt hätte, wäre es zuerst als Preprint erschienen, ist das «Schlangen-Paper».

In jenem Artikel, der am 22. Januar publiziert wurde, berichtet eine Gruppe chinesischer Forscher, dass Schlangen vermutlich die Zwischen­wirte seien, die das Corona­virus auf den Menschen übertragen hätten. Der Artikel erscheint im «Journal of Medical Virology» – nach Peer-Review.

Einen Tag nach der Publikation, am 23. Januar, zerreissen Wissen­schaftler das «Schlangen-Paper» in der Luft. «Es ist kompletter Müll», zitiert «Wired» einen Zoologen aus Sydney. Die Schweizer Epidemiologen Christian Althaus und Marcel Salathé bestätigen gegenüber der Republik diese Kritik.

Trotzdem veröffentlicht CNN am 24. Januar einen unkritischen Beitrag dazu. «Schlangen könnten die Quelle des Coronavirus-Ausbruchs in Wuhan sein», heisst es auf dem Nachrichten­portal, das Millionen User weltweit erreicht.

Jetzt verbreitet sich die Studie auf Twitter erst recht viral. Und noch monate­lang geistert das «Schlangen-Paper» durch das soziale Netzwerk – obwohl es von Forscherinnen schon lange als Schwach­sinn bezeichnet wird.

Quelle: Crowdbreaks.

Bis heute liegt der Artikel unverändert und für jedermann einsehbar auf der Website des «Journal of Medical Virology». Warum, das bleibt unklar: Eine Anfrage der Republik dazu liessen die Heraus­geber unbeantwortet.

Wenn auch Peer-Reviewing kein Garant für korrekte Forschung ist: Was ist zu tun, damit möglichst keine Falsch­informationen in Umlauf kommen?

Für Vincent Hendricks ist die Sache relativ klar: «Wissenschaft braucht Zeit.»

Der Philosoph leitet an der Universität Kopen­hagen das Center for Information and Bubble Studies. Er sagt: «Mit dem Peer-Review ist es ein bisschen wie mit der Demokratie. Es ist die schlimmste Regierungs­form – abgesehen von all den anderen Regierungs­formen, die wir versucht haben.»

Beim Coronavirus gebe es nun einen gold rush, sagt Hendricks. «Forschende wollen möglichst die Ersten sein, die Ergebnisse liefern: Die Ersten, die ein Medikament finden. Die Ersten, die einen Impf­stoff entwickeln.»

Diese Hektik dürfe nicht dazu führen, dass man Methoden vernachlässige. «Genauso, wie es Zeit braucht, wissen­schaftliche Resultate zu produzieren, braucht es Zeit, diese zu bestätigen oder zu widerlegen. Mit dem Tempo riskiert die Wissen­schaft, dass ihr die Verlässlichkeit entwischt.»

Die Episode mit dem Schlangen-Paper scheint dem Philosophen recht zu geben. Dort hatten Gutachter gerade einmal 24 Stunden Zeit für ihr Review. Der Journal-Herausgeber Shou-Jian Gao begründete das mit den steigenden Todesfällen. Das Paper im Review-Prozess aufzuhalten, wäre in dieser Situation «kriminell» gewesen, sagte er zu «Wired».

Wie umgehen mit dem Tempo?

Ob mit oder ohne Peer-Review: Offensichtlich ist, dass Fast Science Probleme mit sich bringt. Denn Ramsch wie das HIV- oder das Schlangen-Paper bleibt nicht unter Wissen­schaftlern, die ihn als solchen erkennen können. Er gelangt unkontrolliert ins Netz, in Blogs, manchmal auch in die Medien. Und damit vor die Augen aller, die gerade zuschauen.

Doch nicht nur hinter der Beschleunigung lauert die Gefahr, dass etwas auf der Strecke bleibt. Wenn die Wissen­schaft zu langsam ist, zahlt sie beim neuen Corona­virus. Im schlimmsten Fall sogar mit Menschenleben.

Das ist auch der Grund, wieso Epidemiologe Marcel Salathé am Grundsatz festhält: «Wenn es eine Sache gibt, die wir gerade brauchen, ist es Tempo.»

Preprints sind der erste Schritt dorthin. Der zweite: ein kurzer Peer-Review-Prozess bei wissen­schaftlichen Zeitschriften.

Denn auf Preprint-Servern treiben sich nicht nur karriere­hungrige Forschende mit mangel­hafter Methodik oder bösen Absichten herum. Viele seriöse Wissen­schaftlerinnen veröffentlichen Preprints. Wie John Inglis, der Mitgründer von bioRxiv, der Republik schreibt, erschienen in der Vergangen­heit etwa 70 Prozent der bioRxiv-Preprints später in einer peer-reviewten Zeitschrift.

Auch Zeitschriften beschleunigen ihre Prozesse: Beim digitalen Journal «Plos One» gehen darum alle Papers, die Forscher zum Virus einreichen, direkt zur WHO. Das erzählt Chefheraus­geber Jörg Heber der Republik. So gelangen Hinweise nämlich schon vor dem Peer-Reviewing an die Organisation. Auch die Gutachter der Zeit­schrift arbeiten schneller: Im Schnitt ging es vorher 140 Tage, heute sind es in eiligen Fällen 21 Tage, bis ein Entscheid steht.

Leerläufe ausmerzen und alles so schnell machen, wie es eben geht – ohne an Qualität einzubüssen. Dafür plädiert Heber. Denn die Zeit drängt.

Wie wichtig Tempo in der Forschung ist, bewies vor einigen Jahren ein anderes Virus: Ebola, das teilweise zwischen 50 und bis zu 90 Prozent der Erkrankten sterben liess. Seit der Epidemie von 2014 bis 2016 in West­afrika jagten Forscher verschiedene anti­virale Wirk­stoffe im Eiltempo durch die klinischen Tests. Manche davon bewirkten erstaunliche Genesungszahlen. Andere, wie das Medikament Remdesivir, halfen gegen Ebola wenig – dafür erhofft man sich gerade gegen Sars-CoV-2 umso mehr davon.

Ebola brachte den Beweis: Schnelle und gute Forschung, mitten in einer Krisen­situation, ist möglich. Und sie kann match­entscheidend sein.

Umso wichtiger werden in der Fast-Science-Ära zwei Dinge:

  1. dass die wissenschaftliche Community ihren Job macht, fehlerhafte Papers enttarnt und sie auf Preprint-Servern und in Journals als solche markiert. Dafür müssen die Universitäten als Arbeit­geberinnen ihnen auch die nötige Zeit geben. Es braucht Karriere­modelle, bei denen die Forscher nicht dem Prinzip publish or perish ausgeliefert sind – publizieren oder untergehen.

  2. dass Journalistinnen mit Augenmass arbeiten und aus spektakulären Corona-Papers nicht einfach ungeprüft eine reisserische Schlagzeile basteln. Dass sie nachforschen: Wie seriös nehmen andere Wissen­schaftler dieses Paper? Deshalb müssen auch Journalistinnen von ihren Arbeit­gebern genug Zeit erhalten, um sauber zu arbeiten.

Ein verantwortungs­voller Umgang mit Fast Science ist wichtig – gerade weil ein Gut für die Wissen­schaft am Ende unbezahlbar ist: Vertrauen.

Denn die Welt kann den Kampf gegen das Corona­virus nur gewinnen, wenn sich die Politik auf die Empfehlungen der Wissen­schaft verlassen kann – und wenn diese in den Augen der Öffentlich­keit auch glaub­haft ist. Wir müssen darauf vertrauen können, dass Forscher das Bestmögliche im Sinn haben.

Wir alle sind mitten in einem gold rush nach Wissen, wie Vincent Hendricks sagt. Schauen wir, dass wir das Gold nicht mit der Wahrheit bezahlen.

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