Covid-19-Uhr-Newsletter

Tutto andrà bene

17.04.2020

Teilen

Liebe Leserinnen, liebe Leser

Und plötzlich ist Carmelina systemrelevant. Vor 35 Jahren wanderte sie aus dem tiefsten Süden Italiens, aus Puglia, in die Schweiz ein, zog hier zwei Töchter auf – und arbeitet seit gut 20 Jahren halbtags in einem Supermarkt in Olten. Carmelina ist Kassiererin.

Wir haben mit ihr gesprochen. Auf ihren Wunsch hin auf Italienisch. Carmelina beherrscht die deutsche Sprache zwar hervorragend, «aber für das, was ich Ihnen sagen will, benutze ich lieber die Sprache meiner Seele», so die 55-Jährige.

Sie klagt nicht, wie man es sich hätte vorstellen können: «Ich will meinen Kunden, den Menschen von Olten, ein riesengrosses Lob aussprechen: Ihr seid die Grössten! Täglich zeigt ihr mir, wie umsichtig, wie herzlich, wie mitfühlend ihr jetzt in dieser Krise euer Leben meistert.»

Und sie ergänzt: «Il più povero, il più ricco: nessuno fa casino. Alle versuchen unsere Regeln so gut wie möglich zu befolgen. Sogar die Randständigen unserer Stadt sind so lieb wie nie. Sie entschuldigen sich ständig, dass sie überhaupt da sind. Unser Supermarkt ist in diesen Tagen auch ein Zuhause.»

Es gebe ganz selten mal einen Kunden, der sich nicht an die Abstandsregeln halte oder vergesse, ein «Raschelsäckli» als Handschuh zu benutzen. «Aber das ist der kleinste Teil. Wir Kassiererinnen erleben eine nie da gewesene Wertschätzung unserer Arbeit. Ich kann mich nicht erinnern, je so oft wie in diesen Tagen die Worte ‹Danke für Ihre Arbeit› gehört zu haben. Il virus passa. Il posto di lavoro resta – das Virus geht vorüber, mein Arbeitsplatz bleibt», wiederholt Carmelina im Gespräch mehrmals. Sie sei wirklich dankbar, in dieser Krise nicht um ihren Job bangen zu müssen. Und: «Ich bin nicht nur Kassiererin.»

Carmelina sieht sich auch als Trösterin, als Aufstellerin, als Mutmacherin. «Viele Kunden sind von der Angst getrieben. Ich lächle sie an und sage tausend Mal pro Tag: «Tutto andrà bene – alles wird gut.»

Immer wieder bittet sie ihre älteren Kunden, sie sollen zu Hause bleiben. «Es lohnt sich doch nicht, sich für einen Prosciutto dem Virus auszusetzen!» Mit den Wochen habe sie aber begriffen: Es gehe den älteren Kunden viel weniger um den Prosciutto, sondern viel eher um die Chiacchierata – um den Schwatz –, der ohne Einkauf fehlt.

In ihrer Heimat, in Apulien, da lebe die Nonna mit den Enkeln in einem Haus. «Ich weiss, das ist in dieser Viruszeit wegen des Ansteckungsrisikos schlimm. Aber für das Seelenheil der Alten ist diese Nähe schön.»

Ihre Stammkunden, wie die Frau, deren Sohn vom Militär eingezogen wurde und die sich um dessen Gesundheit sorgt, würde Carmelina ja eigentlich gerne umarmen. «Ich bin eine Umarmerin», sagt sie. «Die körperliche Nähe zu den Menschen fehlt mir.»

Statt der physischen Nähe zu «ihren Kunden» muss sich Carmelina nun mit einer Plexiglasscheibe vor der Nase abfinden. «Mein Arbeitgeber versucht mit diesen Scheiben, alle Besucher und uns so gut wie möglich zu schützen. Wir sind alle mit einer neuen Situation konfrontiert und wissen noch nicht, was die beste Strategie ist», sagt sie.

Trotzdem fühlt sie sich ausreichend geschützt. «Meine Kollegen, die einer Risikogruppe angehören, müssen nicht arbeiten. Und meine Chefs geben sich wirklich Mühe, einen Schutz für alle zu gewährleisten. Nein, ich kann und will nicht klagen. Ich muss auch keine Überstunden leisten.»

Und was ist mit den leeren Regalen, den Hamsterkäufen?

«Ach», zögert Carmelina. «Die Kunden haben langsam begriffen, dass wir ausreichend Kartoffeln und Pasta auf Lager haben.» Einzig ein ganz bestimmtes Phänomen halte sich hartnäckig. «Der Mensch ist ein komisches Wesen. Ihr müsst wirklich kein WC-Papier auf Vorrat kaufen. Es hat für alle genug», sagt Carmelina. «Tutto andrà bene.»

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss Berechnungen, die das Statistische Amt des Kantons Zürich aus den Daten der einzelnen Kantone zusammenstellt, zählt die Schweiz heute mindestens 26’849 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Bis Anfang April kamen täglich neue Fälle im vierstelligen Bereich dazu. Mittlerweile liegt die Zahl im niedrigen dreistelligen Bereich.

Jeder dritte Angestellte arbeitet weniger: Stand heute haben 167’000 Firmen einen Antrag für Kurzarbeit eingereicht. Insgesamt sind 1,76 Millionen Angestellte in Kurzarbeit, das sind dreimal mehr als noch vor drei Wochen. Somit sind nun 34 Prozent aller Arbeitnehmenden von der Massnahme betroffen. Am höchsten ist die Quote im Kanton Tessin, wo 52 Prozent Kurzarbeit leisten.

Schweizer sind zufrieden trotz Lockdown: 85 Prozent stufen ihre aktuelle Lebensqualität als gut oder sehr gut ein. Das zeigt eine Umfrage der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Darüber hinaus gaben 35 Prozent an, dass sich die Situation im Vergleich zur Zeit vor der Corona-Krise verschlechtert habe. Anfang April lag dieser Wert allerdings noch bei 40 Prozent. Im sogenannten «Covid-19 Social Monitor» befragt die ZHAW regelmässig 2000 Personen aus allen Landesteilen zu den Themen Wohlbefinden, Gesundheit und Erwerbssituation.

In Wuhan sind deutlich mehr Menschen gestorben: Bislang hatte die chinesische Metropole 2579 Tote aufgrund von Covid-19 gemeldet. Nun erhöhten die Behörden die Zahl um 50 Prozent, nachdem sie die Statistiken überarbeitet hatten. Neu werden offiziell 3869 Verstorbene verzeichnet. Schuld an der Ungenauigkeit sei in erster Linie Überforderung. Ausserdem seien viele Erkrankte, die zu Hause verstorben waren, bislang nicht in die Statistik aufgenommen worden. Experten rechnen aber nach wie vor mit einer sehr hohen Dunkelziffer.

Das beste Eigenlob und die interessantesten schamlosen Verweise auf uns selbst

Heute möchten wir Ihnen zwei Texte aus der Republik-Eigenproduktion empfehlen:

  • Das Ende des Lockdown naht. Doch die Pandemie bleibt. Vier unserer Journalistinnen haben mit verschiedenen Wissenschaftlern und Politikerinnen gesprochen und sich mit der Frage befasst, wie man das Virus langfristig in Schach halten kann. Sie kamen bei ihrer Recherche zum Schluss, dass es dafür vier Instrumente braucht: Social Distancing, Testing, zusätzliches Schutzmaterial und Contact Tracing. «Wir sollten», schreiben die Autorinnen, «nicht darauf zählen, dass eine dieser Ideen von sich aus zum Erfolg führt. Aber im Zusammenspiel erhöhen sie die Chance, dass im Verlauf dieses Jahres langsam wieder so etwas Ähnliches wie Normalität einkehrt.»

Ausserdem: Geht Ihnen das Netflix-Binge-Watch-Material auch langsam aus? Wir empfehlen Ihnen als Alternative zwei Streaming-Plattformen aus der Schweiz:

  • Auf dem Filmportal cinefile erhalten Sie für 9 Franken pro Monat Zugang zu 99 Arthouse-Filmen – darunter auch internationale Bestseller wie «Lost in Translation», «The Square» oder «La grande illusion».

  • Die Plattform artfilm.ch stellt für die Corona-Krise ihre ganze Sammlung bis zum 30. April kostenlos zur Verfügung. Über die Plattform können Sie Schweizer Spiel-, Kurz- und Dokumentarfilme online streamen. Wir empfehlen: «Staatenlos – Klaus Rozsa» und «Goliath».

Frage aus der Community: Die Schulen öffnen demnächst wieder. Dürfen Kinder nun auch ihre Grosseltern besuchen?

Die kurze Antwort: Nein, darauf sollten sie vorerst weiterhin verzichten.

Die ausführliche Antwort: Die entscheidende Frage ist, ob Kinder an Covid-19 erkranken können – und ob sie das Sars-CoV-2-Virus an ihre Grosseltern (Risikogruppe) weitergeben können. Leider ist das noch immer nicht restlos geklärt. Vielmehr kam es dazu zuletzt gar zu widersprüchlichen Aussagen.

So sagte Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) am Donnerstag: «Kinder erkranken nicht bloss nicht, sie sind auch nicht infektiös. Sie sind von dieser Krankheit unberührt.» Heute bestätigte er erneut: «Die Kinder sind mit ganz grosser Sicherheit nicht die Treiber dieser Epidemie.» Auf Anfrage schreibt das BAG: «Wir stützen uns bei diesen Aussagen auf noch nicht veröffentlichte Studien und Expertenaussagen von pädiatrischen Infektiologen.» Genauere Angaben macht das Amt nicht.

Richard Neher aber, Biophysiker der Universität Basel, sagt auf Anfrage der Republik: «Die Faktenlage hierzu ist noch sehr dünn. Ich sehe keinen Grund anzunehmen, dass Kinder sich nicht infizieren.» Neher verweist auf die vorläufigen Resultate einer chinesischen Studie, die nachzeichnet, wie ein an Covid-19 erkranktes 6 Monate altes Kind während 16 Tagen ansteckend blieb, ohne dass es selbst Symptome gezeigt hätte. Eine weitere, grösser angelegte (aber ebenfalls noch nicht durch den Peer-Review-Prozess gegangene) chinesische Studie legt nahe, dass Kinder ebenso ansteckend sind wie Erwachsene und dass sie sich mit ähnlich grosser Wahrscheinlichkeit infizieren wie Erwachsene.

Kollegen in Schweizer Spitälern hätten solche Beobachtungen anekdotisch bestätigt, sagt Neher. «Daher liegt die Vermutung nahe, dass Kinder das Virus ebenfalls übertragen können.»

Unsere Empfehlung: Bleiben Sie im Kontakt mit Personen, die zur Risikogruppe gehören, weiterhin höchst vorsichtig. Lassen Sie Ihre Kinder die Grosseltern nicht besuchen. Und lesen Sie noch einmal unseren Newsletter vom 19. März – was da zum Thema steht, ist nach wie vor gültig. So oder so hält auch das BAG fest, Kinder sollten ihre Grosseltern bis auf weiteres nicht besuchen. Denn: Einzelne Kinder könnten das Virus vielleicht doch übertragen. Und: «Risikogruppen müssen geschützt werden.»

Und weil das für viele Grosseltern Einsamkeit bedeutet, hat sich ein Toggenburger Altersheim etwas Besonderes einfallen lassen.

Zum Schluss eine gute Idee: Wie ein Heimleiter die Menschen zusammenbringt – inspiriert durch TV-Krimis

Dass die Senioren im Altersheim wegen der Pandemie auf ihren Besuch verzichten müssen, wollte ein Toggenburger Heimleiter nicht einfach hinnehmen: «Ich habe mir überlegt, wie sich die Bewohnerinnen und Bewohner und vor allem auch die Angehörigen trotz der erschwerten Lage sehen könnten», sagte Georg Raguth in einem Radiointerview. Nachdem er festgestellt hatte, dass einige Heimbewohner eher befremdet auf Skype-Gespräche reagierten, kam ihm die Idee eines Anbaus. Inspiriert hatten ihn Szenen von Gefängnisbesuchen aus TV-Krimis. Dort sitzen sich Insassen und Besucher gegenüber, getrennt durch eine Scheibe, und sprechen via Telefon miteinander.

Diese Szene hat Raguth im Alters- und Pflegeheim Wattwil mit seinen Angestellten innerhalb eines Tages nachgebaut. Die Besucher nehmen in einer Holzbox Platz, und die Seniorinnen sitzen auf der anderen Seite einer Plexiglasscheibe im Innern des Heims. Kommuniziert wird auch hier über ein Telefon. Nach jedem Besuch wird der Anbau desinfiziert. Die Feedbacks seien durchwegs positiv, freut sich Raguth. Seine Besuchsbox steht noch keine zwei Wochen, aber bereits haben mehrere Medien darüber berichtet. Inzwischen kann er sich vor Anfragen kaum mehr retten. Zahlreiche Heime wollen seine Idee nachbauen.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund. Nächste Woche wird gelockert – und wir sehen uns am Montag.

Philipp Albrecht, Elia Blülle, Dennis Bühler, Oliver Fuchs und Cinzia Venafro

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Ay, Caramba! Bei uns hat sich gestern ein Fehler eingeschlichen. Sorry – und danke für die zahlreichen Hinweise. Wir schrieben, dass Oberstufenschülerinnen erst ab dem 8. Juni wieder in die Schule müssen. Das war falsch. Wie bei den Primarschülern gilt auch für die höheren Stufen ab dem 11. Mai wieder die Anwesenheitspflicht. Das ist doch für einmal eine gute Nachricht, liebe Schüler. Oder? (Und dass sich kein Oberstufenschüler auf unseren Fauxpas beruft und erst am 8. Juni in die Schule geht!)

PPPPS: Vielleicht haben wir den doofen Fehler auch nicht bemerkt, weil wir bei der gestrigen bundesrätlichen Pressekonferenz abgelenkt waren. Und zwar von einer silbernen Kette, die Gesundheitsminister Alain Berset neuerdings um den Hals trägt. Ein «Talisman seiner Kinder» rätselte eine Republik-Journalistin in unserem internen Chat, auf Twitter witzelte jemand, vielleicht hänge daran «ein Täschli mit den Codes für eine Atombombe», und auch der «Blick» titelte: «Das halbe Land rätselt. Was hängt da nur dran?» Eine Bundeshaus-Journalistin derselben Zeitung hat heute nun endlich das Geheimnis geknackt. Die Antwort? Sehen Sie selbst.

Rund 27’000 Menschen machen die Republik heute schon möglich. Lernen Sie uns jetzt auch kennen – 21 Tage lang, kostenlos und unverbindlich: