Serie «Blut und Boden» – Teil 3

Tagelöhner beim Abladen von Transportkarren in Chandni Chowk, einem Teil der Altstadt von Delhi.

«Heil, Mutter Indien»

Hassverbrechen gegen Muslime werden seit Narendra Modis Amtsantritt als Premier geduldet, und radikale Hindus bilden einen Staat im Staat. Das paranoide Narrativ von Milliarden Menschen: von einer viel kleineren Minderheit schikaniert zu werden. Verbreitet wird es von staatlich manipulierten Medien.

Eine Reportage von Dexter Filkins (Text), Sarah Fuhrmann (Übersetzung) und Helmut Wachter (Bilder), 25.04.2020

Synthetische Stimme
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Während Narendra Modi seine Stellung in der Regierung festigte, benutzte er ihre Macht, um Mainstream­kanäle zum Schweigen zu bringen. 2016 machte sich seine Regierung daran, den Fernseh­nachrichten­sender NDTV zu vernichten. Seit dieser 1988 auf Sendung ging, war er einer der umtriebigsten und glaub­würdigsten Nachrichten­kanäle. Im Frühling 2019, als die Stimmen der Parlaments­wahl gezählt wurden, hatte die Website des Senders 16,5 Milliarden Klicks an einem einzigen Tag. Laut zwei mit der Situation vertrauten Personen hat Modis Regierung fast die gesamte Regierungs­werbung – eine der Haupt­einnahme­quellen – beim Sender gestrichen, und Mitglieder seines Kabinetts haben private Firmen unter Druck gesetzt, keine Werbeplätze mehr zu kaufen. NDTV hat daraufhin 400 Angestellte entlassen, ein Viertel der Belegschaft. Die Journalisten, die noch dort sind, sagen, sie wüssten nicht, wie lange sie durchhalten können. «Es sind düstere Zeiten», sagte einer zu mir.

Serie «Blut und Boden»

Der «New Yorker»-Journalist Dexter Filkins zeichnet nach, wie Indiens Regierung die Geschichte des Landes umschreibt: vom säkularen Staat zur hinduistischen Nation, die Muslime unterdrückt, verfolgt und sogar töten lässt, Medien drangsaliert und vom Aufstieg eines «neuen Indien» träumt.

Teil 2

Das wahre neue Indien

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«Heil, Mutter Indien»

In jenem Jahr 2016 stellte Karan Thapar auf einmal fest, dass niemand von der Regierungspartei BJP mehr in seiner abendlichen Sendung auftreten wollte. Der bekannteste Journalist des Landes hatte Narendra Modi 2007 nach den Ausschreitungen in Gujarat gefragt, ob er die Morde an den Muslimen bereue. Thapar konnte plötzlich nicht mehr richtig über Politik berichten. Dann fand er heraus, dass Modis Kabinetts­mitglieder seine Chefs drängten, ihn aus der Sendung zu nehmen. «Sie machen einen toxisch», sagte mir der Journalist. «Es gibt keine schriftlichen Belege. Es läuft alles über Gespräche: ‹Wir glauben, dass es keine gute Idee ist, ihn dabei zu haben.›» (Sein Sender, «India Today», dementiert, durch «äusseren Druck» beeinflusst zu werden.) 2017 zögerten seine Arbeitgeber, seinen Vertrag zu erneuern, also verliess er den Sender.

Verschleierte Frau in Chandni Chowk.

Modis Regierung hat auch Zeitungs­redaktoren ins Visier genommen. 2018 veröffentlichte der Chefredaktor der «Hindustan Times», einer der angesehensten Zeitungen des Landes, eine Reihe von Artikeln, die Gewalt gegen Muslime untersucht. Modi traf sich persönlich mit dem Besitzer der «Times», und am nächsten Tag wurde der Chefredaktor gebeten, zu gehen.

2016 veröffentlichte «Outlook» eine verstörende Recherche der Journalistin Neha Dixit, die offenlegte, dass die radikale Hindu­organisation RSS Dutzenden benachteiligten Kindern im Bundes­staat Assam Schulbildung angeboten hatte und sie dann in hinduistisch-nationalistische Lager auf der anderen Seite des Landes geschickt hatte, um sie zu indoktrinieren. Laut einem Insider wurden die Besitzer von «Outlook», eine der reichsten Familien Indiens, deren Geschäfte vom Wohlwollen der Regierung abhängig sind, von Modis Regierung unter Druck gesetzt. «Sie waren drauf und dran, ihr Imperium zu zerstören», sagte die Person. Kurz darauf kündigte der langjährige «Outlook»-Chefredaktor Krishna Prasad.

«Sei kein Antinationalist!»

Rana Ayyub und Neha Dixit sagten beide, dass kein Mainstream-Medium ihre Arbeit finanziere. «Die meisten der wirklich guten Reporter in Indien sind freischaffend», sagt Ayyub. «Man kann nirgends hin.» Selbst Nachrichten, die einen Skandal auslösen müssten, haben kaum Wirkung. Im Juni 2019 berichtete der «Business Standard», dass Modis Regierung die Wachstums­zahlen des Brutto­inland­produkts um fast das Zweifache aufgeblasen hatte. Der Bericht löste einen öffentlichen Aufschrei aus, aber Modi entschuldigte sich nicht, und kein Funktionär musste zurücktreten.

Nur ein paar kleine Medien liefern regelmässig kritische Bericht­erstattung. Die bekanntesten von ihnen, «The Caravan» und die Nachrichten­seite «The Wire», beschäftigen insgesamt etwa 70 Journalisten – kaum genug, um über eine grosse Stadt zu berichten, ganz zu schweigen von einem Land mit mehr als einer Milliarde Menschen. «The Wire» veröffentlichte 2017 einen Artikel über fragwürdige Geschäfte des Sohns von Amit Shah, Modis wichtigstem Berater. Danach setzten Modis Minister Sponsoren der Website unter Druck, damit sie ihre Zahlungen einstellten.

Shahs Sohn, der die Anschuldigungen abstritt, reichte Klage gegen das Nachrichten­portal ein, was kostspielige juristische Verfahren nach sich zog. Siddharth Varadarajan, einer der Gründer von «The Wire», erzählte mir, dass er nicht nur gegen die Regierung kämpft, sondern auch gegen die regierungstreuen Medien. «Wir gehen davon aus, dass die Menschen in diesem Land ihre Freiheit und die Demokratie sehr schätzen – und dass sie es merken werden, wenn ihre Freiheiten beschnitten werden», sagte er. «Aber ein grosser Teil der Medien ist damit beschäftigt, ihnen etwas ganz anderes zu erzählen.»

Viele von Modis Anhängern konsumieren Nachrichten bei Republic TV, einem Sender, der oft gegenseitiges Anbrüllen, öffentliche Demütigungen und vernichtende Kränkungen gegenüber allen ausser den sklavischen Anhängern Modis zeigt. Im Vergleich dazu wirkt der US-Sender Fox News wie die Newshour der BBC.

Erstaunlich ruhig und gelassen: Arnab Goswami, Anchorman bei Republic TV, neigt dazu, Gesprächspartner anzuschreien, wenn sie anderer Meinung sind. Bhaskar Paul/The India Today Group/Getty Images

Republic TV wurde 2017 mit Unterstützung der BJP gegründet und beschäftigt Arnab Goswami, einen Oxford-Absolventen mit Föhnfrisur, der öffentlich die Gegner von Modis Initiativen geisselt. Ein typisches Beispiel ist eine Sendung aus dem Jahr 2017: Goswami sprach über ein Gesetz, das Kinos vorschreibt, die National­hymne zu spielen, und fragte, ob die Menschen dabei aufstehen sollten. Sein Gast, ein muslimischer Abgeordneter, fand, es solle eine freie Entscheidung sein. «Warum kannst du nicht aufstehen?», schrie Goswami den Gast an. Bevor dieser antworten konnte, schrie Goswami weiter: «Warum kannst du nicht aufstehen? Was ist dein Problem damit?» Der Gast versuchte weiter, zu Wort zu kommen, aber Goswami übertönte ihn, mit wehendem Haar. «Ich sag dir, warum, weil … Ich sag dir, warum. Ich sags dir. Ich sag dir, warum. Kann ich es dir sagen? Ich sag dir, warum. Sei kein Anti­nationalist! Sei kein Anti­nationalist! Sei kein Anti­nationalist!»

Die Fake News des «Tigers»

Der Mangel an journalistischer Selbst­kontrolle hat Modi enorme Freiheit gegeben, das Narrativ zu bestimmen. Nirgends war das offensichtlicher als in den Monaten vor seiner Wiederwahl 2019. Unterstützt von seinen Verbündeten in der Geschäfts­welt, führte Modi einen Wahlkampf, der angeblich fünf Milliarden Dollar kostete. (Die genauen Kosten sind unbekannt dank lascher Wahlkampf­finanzierungs­gesetze.) Als die Abstimmung näher rückte, verlor Modi – behindert von einer leistungs­schwachen Wirtschaft – jedoch an Schwung. Bis am 14. Februar ein Selbstmord­attentäter ein Auto voller Sprengstoff in einen indischen Militär­konvoi in Kaschmir fuhr und 40 Soldaten tötete.

Der Angriff gab Modi neue Energie: Er hielt eine Reihe von kriegerischen Reden und skandierte: «Das Blut der Menschen kocht!» Er gab Indiens Erzrivalen Pakistan die Schuld am Angriff und schickte Tausende von Soldaten nach Kaschmir. Die BJP-Anhänger starteten einen Überraschungs­angriff in den sozialen Medien, attackierten Pakistan und bejubelten Modi als «Tiger». Ein viraler Post in den sozialen Medien enthielt eine Telefon­aufnahme von Modi, der eine Witwe tröstet; später stellte sich heraus, dass die Aufnahme aus dem Jahr 2013 stammte.

Am 26. Februar befahl Modi Luftangriffe auf ein angebliches Ausbildungs­lager für Kämpfer in der pakistanischen Stadt Balakot. Wohlwollende Medien beschrieben einen glorreichen Sieg: Sie zeigten unzählige Bilder einer zerstörten Landschaft und zitierten offizielle Quellen, laut denen 300 Kämpfer getötet worden waren. Aber als westliche Reporter den Ort besuchten, fanden sie keinen Hinweis auf Tote. Es gab nur eine Handvoll Krater, ein leicht beschädigtes Haus und ein paar umgefallene Bäume. Viele der Modi-freundlichen Posts erwiesen sich als primitive Fälschungen. Pratik Sinha von «Alt News», einer Website, die Fakten überprüft, wies darauf hin, dass die Fotos, die angeblich tote pakistanische Kämpfer zeigten, tatsächlich Opfer einer Hitzewelle abbildeten. Andere Bilder, angeblich von den Angriffen, waren aus einem Videospiel namens «Arma 2» kopiert.

Medientermin unter Militäraufsicht: Nahe Balakot, Pakistan, wo angeblich ein Luftangriff der indischen Armee stattgefunden hat. Aqeel Ahmed/AP Photo/Keystone

Aber in einem Land, in dem Hunderte Millionen Menschen nicht oder kaum lesen und schreiben können, setzte sich die grosse Erzählung durch. Narendra Modis Umfrage­werte stiegen wieder, und er landete einen Sieg. Die BJP gewann die Mehrheit im Unterhaus des Parlaments und machte Modi damit zum mächtigsten Premier­minister seit Jahrzehnten. Amit Shah, Modis Stellvertreter, sagte einer Gruppe von Wahlkampf­mitarbeitern, dass die sozialen Netzwerke der Partei eine unaufhaltbare Macht besässen. «Versteht ihr, was ich sage?», fragte er. «Wir sind in der Lage, jede Nachricht zu verbreiten, die wir wollen – ob süss oder sauer, wahr oder falsch.»

Aufgelöste Institutionen

Für viele bedeutete Narendra Modis Wiederwahl, dass er ein schreckliches Geheimnis im Innersten der indischen Gesellschaft für sich entdeckt hatte: Indem er brutale religiöse Rhetorik benutzte, konnte der Führer des Landes die Hindus davon überzeugen, ihm nahezu uneingeschränkte Macht zu verleihen. In den folgenden Monaten brachte Modis Regierung eine Reihe ausser­ordentlicher Initiativen auf den Weg, mit denen sie die hinduistische Herrschaft zementieren wollten.

Neben der Aufhebung von Kaschmirs Sonder­status war eine der folgenreichsten Massnahmen, zwei Millionen Einwohnern des Bundes­staats Assam die Staats­bürgerschaft abzuerkennen. Viele von ihnen waren Jahr­zehnte zuvor aus dem muslimischen Bangladesh gekommen. Im September begann die Regierung mit dem Bau von Gefangenen­lagern für Einwohner, die über Nacht zu Illegalen geworden waren.

Ein Geschäft mit hinduistischen Devotionalien in Delhi.

Ein Gefühl der Verzweiflung hat sich bei vielen Indern eingenistet, die sich immer noch der säkularen, offenen Vision der Landes­gründer verpflichtet fühlen. «Gandhi und Nehru waren grosse, historische Figuren, aber ich glaube, sie waren eine Ausnahme», sagte mir der frühere «Outlook»-Chefredaktor Prasad. «Heute ist alles anders. Die Institutionen haben sich aufgelöst – Universitäten, Untersuchungs­kommissionen, die Gerichte, die Medien, die Verwaltungs­behörden, öffentliche Einrichtungen. Und ich glaube, dass es keine vernünftige Antwort auf das gibt, was geschehen ist, ausser dass wir 50, 60 Jahre lang nur behauptet haben, zu sein, was wir waren. Und jetzt fallen wir auf das zurück, wie wir immer sein wollten. Das bedeutet: auf Minder­heiten einprügeln, sie in die Ecke drängen, sie in die Schranken weisen, Kaschmir einnehmen, die Medien vernichten und Firmen zu Sklaven des Staats machen. Und das alles unter dem Wieder­erstarken des Hinduismus. Indien wird zu dem Land, das es immer sein wollte.»

Viehbauern im Visier

Am 31. März 2017 fuhr ein muslimischer Milch­bauer namens Pehlu Khan mit mehreren Verwandten in die Stadt Jaipur, um ein paar Kühe für seinen Betrieb zu kaufen. Am Tag darauf, auf dem Heimweg, blockierte eine Reihe von Männern die Strasse, umringte seinen Lastwagen und beschuldigte ihn, die Kühe wegen ihres Fleisches verkaufen zu wollen. Kühe gelten Hindus als heilig, und in den meisten indischen Bundes­staaten ist es verboten, sie zu töten. Aber es ist im Allgemeinen legal, das Fleisch von Kühen zu essen, die eines natürlichen Todes gestorben sind, und ihre Haut zu Leder zu verarbeiten – eine Arbeit, die oft von Muslimen und Hindus aus niedrigen Kasten verrichtet wird, was sie der Gefahr falscher Beschuldigungen aussetzt.

Die Männer zogen Khan und seine Verwandten aus dem Laster, verprügelten sie und brüllten anti­muslimische Schimpf­wörter. «Wir zeigten ihnen die Papiere für den Kauf der Kühe, aber darum scherten sie sich nicht», sagte ein Neffe. Khan wurde ins Spital gebracht, wo er kurz darauf starb.

Khans Verwandte identifizierten neun Angreifer. Die meisten waren Mitglieder von Bajrang Dal, einer Unter­abteilung der Nationalen Freiwilligen­organisation der radikalen Hindu­organisation RSS. Bajrang Dal ist vordergründig eine Jugend­gruppe, die oft Schlägertrupps und Sicherheits­personal für Mitglieder der BJP stellt. Bajrang Dal war auch in viele Morde an Muslimen im ganzen Land verwickelt.

In Jaipur traf ich Ashok Singh, den Leiter des Ortsverbands Rajasthan von Bajrang Dal. Singh sagte mir, dass er und seine Männer moralisch verpflichtet seien, Kühe vor einer Epidemie des Diebstahls und der Tötungen zu verteidigen. Mehrere Minuten lang sprach er über die Heiligkeit der Kuh. Jedes Tier, sagte er, trägt 360 Millionen Götter in sich, und sogar sein Mist enthält Heilmittel, die nützlich für Menschen sind. «Sie zerschneiden sie, sie töten sie», sagte Singh über Muslime. «Es ist eine Verschwörung.» Er gab zu, dass Mitglieder von Bajrang Dal daran beteiligt gewesen waren, Khan aufzuhalten, aber es war ihm wichtig zu betonen, dass andere Leute den Mord begangen hatten. «Es gab einen Mob», sagte er. «Wir hatten keine Kontrolle darüber.»

Mitglieder der militanten Hinduorganisation Bajrang Dal feiern am 6. Dezember 2018 den 27. Jahrestag der Zerstörung der Babri-Masjid-Moschee. Deepak Gupta/Hindustan Times/Getty Images

Die Angreifer, die Khans Verwandte identifiziert hatten, wurden festgenommen und angeklagt, aber die Einheimischen waren überwiegend auf ihrer Seite. Nachdem der Staats­anwalt sich geweigert hatte, Augen­zeugen­berichte und Handy­videos als Beweise zuzulassen, wurden alle Angreifer freigesprochen. «Der Fall wurde manipuliert», sagte Kasim Khan, ein Anwalt der Familie. «Das Urteil war schon vor dem Prozess gefallen.»

Laut «Factchecker», einer Organisation, die gemeinschaftliche Gewalt­taten nachverfolgt, indem sie Medien­berichte überprüft, gab es in den letzten zehn Jahren rund 300 religiös motivierte Hass­verbrechen – fast alle fanden nach Modis Amtsantritt zum Premier­minister statt. Hinduistische Mobs haben Dutzende muslimische Männer getötet. Die Morde, die oft durch Mitglieder von Bajrang Dal angezettelt werden, sind als «Lynch­morde» bekannt geworden. Sie geschehen vor dem Hintergrund einer Hysterie, die die RSS und ihre Verbündeten ausgelöst haben – es ist das paranoide Narrativ einer grossen Mehrheit, fast eine Milliarde stark, die von einer viel kleineren Minderheit schikaniert wird.

Wenn Muslime gelyncht werden, äussert sich Modi meist nicht, und da er kaum Presse­konferenzen abhält, wird er auch selten danach gefragt. Viele seiner Unterstützer jedoch bejubeln die Mörder. Im Juni 2017 wurde ein Muslim namens Alimuddin Ansari, der des illegalen Kuhhandels beschuldigt wurde, im Dorf Ramgarh zu Tode geprügelt. Elf Männer, darunter ein örtlicher Führer der BJP, wurden wegen Mordes verurteilt, aber im Juli 2018 freigelassen; das Verfahren ist hängig. Bei ihrer Freilassung wurden acht von ihnen von Jayant Sinha, dem BJP-Minister für Zivil­luftfahrt, empfangen. Sinha, ein Harvard-Absolvent und früherer Berater bei McKinsey, hängte den Männern Blumen­girlanden um und reichte ihnen Süssigkeiten. «Ich ehre nur das faire Gerichts­verfahren», sagte er damals.

Selbstjustiz in der Familie

In Nordindien haben Hindu­nationalisten Panik geschürt mit dem Gerücht, muslimische Männer führten einen geheimen Kampf, um hinduistische Frauen zur Heirat und zur Prostitution zu verführen. Wie bei der Hysterie wegen der Tötung von Kühen manifestiert sich der Aufruhr vor allem in den sozialen Medien und auf Plattformen wie Whatsapp, wo sich Gerüchte willkürlich verbreiten. Die Vorstellung – bekannt als «Liebes-Jihad» – wurzelt in dem Bild des sexbesessenen muslimischen Mannes, der, gestärkt durch Rind­fleisch, Jagd auf begehrens­werte hinduistische Frauen macht.

Die Jama-Masjid-Moschee in Indiens Hauptstadt.
Plastikstatue von Ganesha, einem der beliebtesten Götter im Hinduismus.

In vielen Gegenden riskiert ein muslimischer Mann, der sich mit einer Hindufrau sehen lässt, angegriffen zu werden. Vor zwei Jahren setzte Yogi Adityanath, der BJP-Minister­präsident des Bundesstaats Uttar Pradesh, «Anti-Romeo-Trupps» ein, die muslimische Männer drangsalierten, von denen man glaubte, sie würden versuchen, Hindufrauen zu verführen. Die Trupps wurden aufgelöst, nachdem die Gruppen versehentlich mehrere Hindumänner verprügelt hatten.

In einem Dorf im nördlichen Bundesstaat Haryana sprach ich mit einer jungen hinduistischen Frau namens Ayesha. Ein Jahr zuvor hatte sie einen muslimischen Mann namens Omar kennengelernt, einen Lieferanten spiritueller Medizin, der zu ihr nach Hause kam, um ihre Mutter zu behandeln. Sie verliebten sich und beschlossen, dass Ayesha zum Islam konvertieren sollte und sie heiraten würden. Ihre Familie war entsetzt, sagte sie. Eines Nachts floh Ayesha mit Omar in sein Dorf. Dort heirateten sie in einer Moschee, und Ayesha zog bei seiner Familie ein. Sie sagte, dass ihre Familie mehrere Monate lang versuchte, sie zu überreden, sich scheiden zu lassen. Einmal brachte ihr Vater ihr eine Pistole und einen Abschieds­brief, den sie unterschreiben sollte. «Ich war so traurig, ich hätte fast eingewilligt», sagte sie.

Eines Abends, als Omar mit dem Fahrrad unterwegs war, folgten ihm zwei Männer auf Motor­rollern. Einer von ihnen zog eine Pistole und erschoss Omar. Ayesha blieb bei Omars Familie und sagte, sie werde nie wieder zu ihrer eigenen zurückkehren. «Ich bin hundert­prozentig sicher, dass meine Familie für den Tod meines Mannes verantwortlich ist», sagte sie.

Training auf dem Spielplatz

Als Rana Ayyub ein Kind war, sammelte sich jeden Morgen eine Gruppe von Männern zum Beten und zum Kampf­sport auf einem Feld am Ende ihrer Strasse. Die Männer waren eine Ortsgruppe der RSS und skandierten Schlacht­rufe, welche die hinduistische Überlegen­heit feierten: «Heil, Mutter Indien.» Die Männer waren freundlich, erinnerte sie sich, erpicht darauf, Muslime zu rekrutieren. Aber sie hatte in der Schule gelernt, dass ein RSS-Gefolgsmann Gandhi getötet hatte, deshalb wahrten sie und ihr Bruder Distanz. «Wir sahen ihnen fasziniert zu», sagte sie. «Aber ich war nicht gern dort.»

Eines frühen Morgens, bei einem Spielplatz bei der Ellisbridge Municipal School Nr. 12 in Ahmedabad, sah ich, wie ein Dutzend Männer die safrangelbe Fahne der RSS hissten. Sie waren zwischen 18 und 63 Jahre alt, alle gut in Form, und viele trugen die charakteristische khaki­farbene kurze Hose der Gruppierung. Sie starteten mit Yogaposen und Turnübungen. Dann nahmen sie lange Holzstöcke und trainierten Kampfsport. (Ein RSS-Anführer sagte einmal, dass die Kader der Gruppe schneller zum Kampf bereit wären als die indische Armee.) Die Männer marschierten im Gleichschritt, sie machten in der Formation Schlag­bewegungen. «Eins-zwei-drei-vier, eins-zwei-drei-vier», schrie ihr Anführer. «Glaubt bloss nicht, dass ihr schon alles könnt – ich sehe viele Fehler.»

Sie liessen sich schliesslich im Halbkreis auf dem Boden nieder und schickten Gebete an den hinduistischen Sonnen­gott: «Oh Surya, der Scheinende, der Strahlende, Vertreiber der Dunkelheit, Quelle des Lebens.» Sie schlossen mit dem Ruf «Sieg für Indien!».

Danach lachten die Männer, unter ihnen ein Ingenieur, ein Anwalt, ein Kleider­händler und ein Polizist, und klopften einander auf den Rücken. Zusammen bildeten sie die RSS-Ortsgruppe von Paldi, einem Stadtteil von Ahmedabad, dem wirtschaftlichen Zentrum des Bundesstaats Gujarat. In ganz Indien gibt es mehr als 30’000 dieser RSS-Ortsgruppen. Paldi ist eine überwiegend hinduistische Gegend, aber die nächste muslimische Enklave, die 2002 angegriffen wurde, ist weniger als einen Kilometer entfernt. An diesem Morgen wurde in der Gruppe nicht viel über Politik geredet. «Ich bin hier, um fit zu bleiben», sagte Nehal Burasin, ein Student.

Sudhanshu Trivedi, der Staat im Staat

Um eine umfassendere Einsicht in die Weltsicht des RSS zu bekommen, sprach ich mit Sudhanshu Trivedi, einem lebens­langen Mitglied, der heute der nationale Sprecher der indischen Volkspartei BJP ist; ihr gehört auch Narendra Modi an. Beim Abendessen im Ambassador Hotel in Delhi erzählte mir Trivedi, dass sich die RSS die Verkündigung von «Hindutva» zum Ziel gesetzt hat: die Vorstellung, dass Indien vor allem ein Land für Hindus ist. Er sagte, die RSS sei die weitaus grösste Organisation ihrer Art auf der Welt. In den 95 Jahren ihres Bestehens habe sie sich in jedem Aspekt der indischen Gesellschaft verankert.

Nur zur Selbstverteidigung? Mitglieder der radikalen Hinduorganisation RSS zeigen am Ende eines Ausbildungscamps, was sie gelernt haben. Ajit Solanki/AP Photo/Keystone

Beim Salat betete Trivedi die Kernthemen der RSS herunter. Die Organisation sagt, dass sie etwa 30’000 Grund- und weiterführende Schulen leitet; dass sie Spitäler in ganz Indien betreibt, vor allem in abgelegenen Gegenden; dass sie das zweitgrösste Netzwerk von Gewerkschaften im Land pflegt; das grösste Netzwerk von Bauern; und die grösste Sozialhilfe­organisation, die in den Slums arbeitet. Die BJP, Indiens herrschende politische Partei, kam als Letztes in seiner Litanei. «Du siehst also: Im Ganzen gesehen, ist das, was die BJP tut, wenig im Vergleich zu dem, was die RSS macht», sagte er.

Tatsächlich wurde die RSS zusehends zu einem Staat im Staate und eroberte Indien von innen. Im Sommer 2019 verkündete die Organisation, dass sie eine Schule gründe, um junge Leute zu Offizieren in der Armee auszubilden. Dieses Jahr unterzeichneten mehr als 150 frühere Offiziere und Rekruten einen Brief, der die «völlig inakzeptable» Nutzung des Militärs für politische Zwecke anprangerte. Sie bezogen sich darauf, dass Modi sich die grenz­übergreifenden Angriffe in Pakistan als Verdienst anrechnete, und dass sich einige BJP-Politiker rühmten, es sei «Modis Armee».

Trivedi meinte, der Schlüssel zum Verständnis des heutigen Indien sei, zu akzeptieren, dass «Hinduismus im Grunde keine Religion ist – es ist eine Lebens­haltung». Jeder, der in Indien geboren werde, sei ein Teil des Hinduismus. Dementsprechend gediehen alle anderen Religionen in Indien dank dem Hinduismus und seien diesem untergeordnet. «Die Kultur des Islam wird hier bewahrt wegen der hinduistischen Zivilisation», sagte er.

Als Teil des «Hindutva»-Projekts haben BJP-Führer im ganzen Land Schulbücher umgeschrieben und einen grossen Teil der islamischen Geschichte ausradiert, darunter die der Mogule, der muslimischen Herrscher, die Indien drei Jahr­hunderte lang regierten. Die BJP hat Mogul-Ortsnamen in hinduistisch beeinflusste Namen geändert. Im August 2018 wurde der Mughalsarai-Bahnhof, vor eineinhalb Jahr­hunderten im Bundesstaat Uttar Pradesh erbaut, nach Deen Dayal Upadhyaya umbenannt, einem rechten hindunationalistischen Führer. Allahabad, eine Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern im gleichen Bundesstaat, heisst jetzt Prayagraj, ein Sanskrit-Wort, das einen Ort des Opferns bezeichnet.

Im November 2019 kam die alte Geschichte der zerstörten Moschee in Ayodhya wieder in den Nachrichten, als Indiens Oberstes Gericht den Weg für den Bau eines Hindu­tempels am früheren Standort von Babri Masjid bereitete. In einem tausend­seitigen Urteil lieferte das Gericht keinen einzigen Beweis dafür, dass ein Tempel zerstört worden war, um die Moschee zu bauen, und gestand ein, dass die Moschee 1992 von einem wütenden Mob von nationalistischen Hindus abgerissen worden war. Dennoch übergab es die Kontrolle über das Land einer Regierungs­stiftung und erlaubte damit der BJP, ihr Projekt eines Hindutempels weiterzuverfolgen.

Trivedi erzählte mir, dass niemand in der RSS dem Islam gegenüber feindselig eingestellt sei. Aber, sagte er, es sei wichtig zu verstehen, wie tief das Ansehen dieser Religion gefallen sei. «In Indien ist die Gemeinschaft mit der höchsten Bildung die der Parsen, die eine Minderheit sind. Die mit der zweithöchsten Bildung ist die der Christen, die eine Minderheit sind. Die wirtschaftlich erfolg­reichsten sind die Jains, die eine Minderheit sind. Die mit dem grössten Unternehmer­geist sind die Parsen – eine Minderheit», sagte er. «Was ist dann das Problem mit den Muslimen? Ich werde es dir sagen: Sie sind zu Gefangenen der Jihad-Ideologie geworden.»

Zurück in Kaschmir

Als Rana Ayyub und die Fotografin Avani Rai in dem Spital in Srinagar festgenommen wurden, fand ich ein Versteck auf der anderen Strassen­seite, abgeschirmt durch eine Wand und einen Obst­verkäufer. Es hätte schlimme Konsequenzen für Ayyub gehabt, wenn herausgekommen wäre, dass sie einen Ausländer in den militärischen Brennpunkt des Bundesstaats Kaschmir mit seiner muslimischen Mehrheit eingeschleust hatte. Nach ungefähr einer Stunde kamen sie heraus. Ayyub sagte, ein Geheimdienst­offizier habe sie befragt und dann mit der Ermahnung «Kommt nicht zurück» gehen lassen.

Am nächsten Morgen fuhren wir ins Dorf Parigam, in der Nähe von Lethipora, dem Ort, an dem im Februar 2019 das Selbstmord­attentat mit 40 getöteten Polizisten stattgefunden hatte, das Modis Luftangriffe gegen Pakistan auslöste. Wir hatten gehört, dass indische Sicherheits­kräfte den Ort gründlich durchkämmt und mehrere Männer festgenommen hatten. Der Aufstand hatte breite Unterstützung in den Dörfern ausserhalb der Hauptstadt, und die Strasse nach Parigam war abgesteckt mit Sandsäcken und Stachel­draht der Armee-Checkpoints. Den grössten Teil der Strecke waren die Strassen sonst menschenleer.

Im Dorf hielt Ayyub an, um mit den Einheimischen zu reden. Innerhalb weniger Minuten hatte sie herausgefunden, mit wem wir zuerst reden sollten: Shabbir Ahmed, dem Besitzer der örtlichen Bäckerei. Wir fanden ihn im Schneider­sitz auf seiner Terrasse sitzend vor, wo er Mandeln schälte und sie auf einen grossen Haufen legte. Bei Interviews verlangsamt Ayyub ihr normales Rededuell-Tempo. Sie nahm Platz auf der Terrasse, als käme sie auf Besuch vorbei. Der 55-jährige Ahmed erzählte ihr, dass während der Razzien eines Nachts kurz nach Mitternacht ein gepanzertes Fahrzeug zu seinem Haus gefahren sei. Ein Dutzend Soldaten von den Rashtriya Rifles, einer Elite­einheit der indischen Armee zur Aufstands­bekämpfung, stürmte heraus und schlug seine Fenster ein. Als Ahmed und seine beiden Söhne nach draussen kamen, hätten die Soldaten die jungen Männer auf die Strasse gezerrt und auf sie eingeschlagen. «Ich habe um Hilfe geschrien, aber niemand kam aus seinem Haus», sagte Ahmed. «Alle hatten zu viel Angst.»

Muslimische Kinder im Quartier Kaplan Mahal in Old Delhi.

Ahmeds Söhne kamen zu uns auf die Terrasse. Einer der beiden, Muzaffar, sagte, die Soldaten seien wütend gewesen wegen der Jugendlichen, die Steine auf ihre Patrouillen geworfen hatten. Sie zerrten Muzaffar die Strasse hinunter zu einer Moschee, einer der Soldaten habe ihm befohlen: «Wirf Steine auf die Moschee, wie du Steine auf uns wirfst.»

Muzaffar erzählte, dass er und sein Bruder Ali zu einer örtlichen Basis gebracht wurden, wo die Soldaten sie an Stühle gefesselt und mit Bambus­stöcken geschlagen hätten. «Sie fragten immer wieder: ‹Kennst du irgendwelche Stein­werfer?› Und ich sagte, ich kenne keine, aber sie schlugen mich immer weiter.» Als Muzaffar bewusstlos wurde, befestigte ein Soldat Elektroden an seinen Beinen und seinem Bauch und versetzte ihm einen Strom­stoss. Muzaffar krempelte seine Hose hoch, um die verbrannte Haut an der Hinter­seite seiner Beine zu zeigen. Es ging eine Weile so weiter, sagte er: Er wurde bewusstlos und kam dann wieder zu Bewusstsein, wenn die Schläge erneut losgingen. «Mein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt.» Dann begann er zu weinen.

Nachdem Muzaffar und Ali freigelassen worden waren, brachte ihr Vater sie in das örtliche Spital. «Sie haben mir die Knochen gebrochen», sagte Muzaffar. «Ich kann nicht mehr vor Gott auf die Knie fallen.»

Es war unmöglich, die Geschichte der Brüder zu verifizieren, aber wie bei vielen Schilderungen, die Ayyub und ich in dem Tal hörten, war der Schmerz überzeugend. «Ich bin eine ganz leicht besser ausgebildete Version dieser Menschen», sagte Ayyub zu mir. «Ich sehe, was geschieht – die Propaganda, die Lügen, was die Regierung den Menschen antut. Ihre Probleme sind viel umfang­reicher – ihr Leben. Aber ich habe alles mit diesen Menschen gemein. Ich fühle ihren Schmerz.»

Überfall und Vergeltung

Eines Nachmittags gingen Ayyub und ich durch Soura, ein ärmliches Viertel nördlich von Srinagar, das Schauplatz mehrerer Auseinander­setzungen mit Sicherheits­kräften gewesen war. Als wir dort ankamen, hatten sich Polizei und Armee zurückgezogen, offenbar in der Meinung, dass die schmalen Strassen ihre Männer zu angreifbar machten. Die Einheimischen erzählten uns, dass sie Soura als befreites Gebiet ansahen und schworen, jeden von der Regierung anzugreifen, der versuchte, hineinzukommen. Jede Mauer schien mit Graffitis bedeckt zu sein. Auf einer Wand stand: «Demografischer Wandel ist inakzeptabel!»

Die Einwohner von Kaschmir, die wir trafen, fühlten sich gefangen, ihre Stimmen wurden erstickt. «Die Nachrichten, die stimmen – die zeigen sie nie», sagte Yunus, ein Laden­besitzer, über die indischen Medien. Tage zuvor war sein 13-jähriger Sohn Ashiq von Sicherheits­kräften verhaftet und geschlagen worden, genau wie er selbst vor 30 Jahren. «Niemand hat je die Menschen in Kaschmir gefragt, was sie wollen – ob sie bei Indien bleiben wollen oder zu Pakistan gehören oder unabhängig werden», sagte er. «Wir haben so viele Versprechen gehört. Wir haben Leichen mit den Händen aufgehoben, abgetrennte Köpfe aufgehoben, abgetrennte Beine aufgehoben, und sie alle zusammen in Gräber gelegt.»

Viele Einwohner Kaschmirs weigern sich immer noch, die indische Hoheits­gewalt zu akzeptieren, und manche erinnern sich an das Versprechen der Vereinten Nationen von 1948, dass eine Volks­abstimmung die Zukunft des Bundes­staats bestimmen würde. Kaschmir wurde ein Sonder­status zugesprochen – festgehalten in Artikel 370 der indischen Verfassung –, und wesentliche Befugnisse der politischen Selbst­bestimmung wurden zugesichert.

Mehrheitlich sind diese Befugnisse nie realisiert worden. Seit den Achtziger­jahren hat ein bewaffneter Aufstand, unterstützt von Pakistan, die Gegend in ein Schlacht­feld verwandelt. Der Konflikt in Kaschmir ist grösstenteils ein Krieg von Überfall und Vergeltungs­angriff. Die Aufständischen greifen die indischen Sicherheits­kräfte an, und die Sicherheits­kräfte schlagen hart zurück. Gruppen wie Human Rights Watch haben Verstösse auf beiden Seiten aufgelistet, vor allem aber durch die indische Regierung.

Kampf um Kaschmir: Pakistanische Truppen im Krieg gegen Indien (1989). Robert Nickelsberg/Liaison

Die RSS und andere hinduistische Nationalisten haben behauptet, dass die Bemühungen, die Bewohner Kaschmirs zu beschwichtigen, eine selbst­zerstörerische Dynamik ausgelöst hätten. Der Aufstand habe das wirtschaftliche Wachstum gebremst, sagten sie, Artikel 370 schränke Investitionen und Migration ein und verdamme den Ort zur Rückständig­keit. Modis Entscheidung, den Artikel zu widerrufen, schien der logische Endpunkt in der Weltsicht der RSS: Die Blockade in Kaschmir würde durch die überwältigende Macht der Hindus gebrochen.

Als Ayyub und ich durch Kaschmir fuhren, schien unklar, wie die indische Regierung weiter vorgehen will. Die Wirtschaft war zum Erliegen gekommen. Schulen waren geschlossen. Die Einwohner Kaschmirs waren von der Aussen­welt und voneinander abgeschnitten. «Wir werden von Fällen von Depressionen überschwemmt», sagte uns ein Arzt in Srinagar. Viele Menschen in Kaschmir warnten, dass eine Eskalation wahrscheinlich sei, sobald die Sicherheits­massnahmen aufgehoben würden. «Modi tut, was er vor 20 Jahren in Gujarat getan hat, als er die Muslime dort mit dem Traktor überfuhr», sagte eine Frau namens Dushdaya.

Der Zeitungskolumnist Pratap Bhanu Mehta schrieb, dass in Kaschmir «die indische Demokratie scheitert». Er vermutete, dass die Muslime des Landes, die grossmehrheitlich der Radikalisierung wider­standen haben, letztlich keinen anderen Weg mehr sehen würden. «Die BJP denkt, dass sie Kaschmir indisch machen kann», schrieb er. «Stattdessen werden wir möglicher­weise sehen, wie Indien ‹kaschmirisiert› wird: Die Geschichte der indischen Demokratie mit Blut und Verrat geschrieben.»

Verschwundene Männer, verlorene Söhne

In Srinagar besuchten Ayyub und ich das Viertel Mehju Nagar, das viele junge Männer verlassen haben, um sich den Kämpfern anzuschliessen. Wir hörten von einem Paar namens Nazeer und Fehmeeda, deren Sohn, Momin, bei dem Eingreifen der Armee abgeholt worden war. Bewaffnete Männer der Central Reserve Police Force waren eines späten Abends an ihre Tür gekommen. Ein maskierter Zivilist, offenbar ein Spitzel, zeigte auf Momin. Die Soldaten nahmen ihn mit.

Tagelöhner warten in Delhi auf Arbeit.

Wir fanden Fehmeeda in ihrem Haus, wo sie in einem schlichten Raum auf dem Boden sass. Am Morgen nach der Razzia, erzählte sie, ging sie zum Stützpunkt der indischen Armeepolizei C.R.P.F., wo ihr Sohn festgehalten wurde. Er sagte ihr, dass er geschlagen worden war. «Ich flehte sie an, ihn mir zurückzugeben, aber sie liessen nicht mit sich reden», sagte sie. Als Fehmeeda am nächsten Tag wiederkam, sagte ihr die Polizei, dass Momin in das Zentral­gefängnis der Stadt überführt worden sei. Aber die Wachen dort sagten, dass er in ein Gefängnis in Uttar Pradesh gebracht worden sei, Hunderte Kilometer entfernt. «Es nützt nichts, zu weinen, Tantchen», sagten sie ihr.

Fehmeeda sagte, man habe ihr nicht gesagt, was Momin vorgeworfen wurde. Das indische Anti­terror­gesetz erlaubt den Sicherheits­kräften, einen Einwohner Kaschmirs aus jedem Grund – oder auch ohne Grund – bis zu zwei Jahre festzuhalten. In den drei Jahrzehnten, in denen Kaschmir offen rebelliert, sind Zehntausende Männer verschwunden, viele von ihnen sind nicht zurückgekehrt. «Ich muss akzeptieren, dass ich ihn nicht wiedersehen werde», sagte Fehmeeda.

In ihrem Haus sammelten sich ihre Freundinnen um sie, während Männer aus der Nachbarschaft vor den offenen Fenstern standen. Ayyub sass ihr gegenüber, ihre Knie berührten sich. Während Fehmeeda sprach, redeten einige der Männer lauter als sie, und jedes Mal sagte ihnen Ayyub, sie sollten still sein: «Schimpf nicht mit ihr, Onkel, sie hat ihre eigenen Probleme.»

Fehmeeda hatte stoisch begonnen, verlor aber allmählich die Fassung. Ayyub ergriff ihre Hände und sagte: «Dein Sohn wird zu dir zurück­kehren. Gott ist sehr gross.» Fehmeeda liess sich nicht trösten. Momin, ein Bauarbeiter, war für alle Bedürfnisse der Familie aufgekommen, auch für ihre Medikamente wegen eines Nieren­problems. Fehmeedas Erzählung geriet ins Stocken: «Ich habe ihm gesagt, wirf keine Steine, jemand hat ihn mitgenommen, jemand wurde bezahlt …» Dann begann sie zu schluchzen und zu würgen.

Auch Rana Ayyub fing an zu weinen. «Ich halte es nicht mehr aus», sagte sie. «Das ist zu viel.»

Ayyub verabschiedete sich von Fehmeeda und versprach, mit Medikamenten für ihre Nieren zurückzukommen. (Das tat sie ein paar Wochen später.) Wir wurden beide von einer Vorahnung befallen, dass wir den Anfang von etwas erlebten, das viele Jahre dauern würde. «Ich fühle es als Muslimin», sagte Ayyub. «Es geschieht überall in Indien.»

Wir fuhren eine Weile schweigend. Ich schlug vor, dass es vielleicht Zeit für sie war, Indien zu verlassen – dass Muslime dort keine Zukunft hatten. Aber Rana Ayyub ging gerade ein Notizbuch durch. «Ich gehe nicht weg», sagte sie. «Ich muss bleiben. Ich werde das alles aufschreiben und allen erzählen, was passiert ist.»

Zum Autor

Dexter Filkins ist Journalist bei «The New Yorker» und Autor von «The Forever War» («Der ewige Krieg»). Das Buch über die Auseinandersetzungen der USA mit islamischen Fundamentalisten erhielt 2008 den National Book Critics Circle Award. Dieser Beitrag erschien am 9. Dezember 2019 im «New Yorker» unter dem Titel «Blut und Boden in Narendra Modis Indien».

Serie «Blut und Boden»

Teil 2

Das wahre neue Indien

Sie lesen: Teil 3

«Heil, Mutter Indien»