Wie sich Klima und Wachstum vertragen
Braucht es Einschnitte bei der Wirtschaft, um die schlimmsten Folgen des Klimawandels zu verhindern? Eine datengetriebene Annäherung an die ökonomische Schlüsselfrage unserer Zeit.
Von Simon Schmid, 02.03.2020
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Yoichi Kaya ist ein bemerkenswerter Mann. Auch mit 85 Jahren hält der renommierte Wissenschaftler unermüdlich Vorträge über Umwelttechnologie.
Ausserdem hat er eine Gleichung erfunden, die uns bei einer überlebenswichtigen Frage weiterhilft: Können wir das Klima schützen und zugleich an der Idee festhalten, dass die Wirtschaft weiter wachsen soll?
Kayas Gleichung ist praktisch, weil sie daraus mehrere Teilfragen macht:
Wie stark wächst die globale Bevölkerung?
Wie entwickelt sich die Wirtschaftsleistung pro Kopf?
Wie viel Energie verbraucht die Wirtschaft im Schnitt?
Wie CO2-intensiv ist der Energieverbrauch?
Diese Aufteilung erlaubt es, sich der Antwort schrittweise anzunähern. Wie das geht und zu welchem Urteil dies führt, schauen wir in diesem Beitrag an.
1. Die Ausgangslage
Wir starten mit einer kurzen Übersicht über die vier Grössen, die in der Kaya-Gleichung vorkommen. Sie alle haben über die vergangenen gut 50 Jahre zugenommen. Allerdings nicht im selben Ausmass.
Alles wächst
Veränderung von 1965 bis 2018
Quellen: Uno, Weltbank, BP, Global Carbon Project
Am wenigsten stark wuchs die Bevölkerung (braun): Seit 1965 hat sie sich gut verdoppelt. Am stärksten wuchs dagegen die Wirtschaft (blau): Das globale BIP hat sich über fünf Jahrzehnte hinweg mehr als verfünffacht. Irgendwo dazwischen liegen der Energieverbrauch (rot) und der CO2-Ausstoss (grün).
Entscheidend fürs Klima ist letztlich nur der Ausstoss von Treibhausgasen. Dieser muss stark abnehmen: Er muss bis 2050 netto auf null sinken.
Ob dies gelingt, wissen wir noch nicht. Doch Kayas Gleichung liefert uns wertvolle Hinweise darauf. Und zwar mit einem Trick: Sie betrachtet nicht die Grössen an sich – sondern ihre Veränderung im Verhältnis zueinander.
Gehen wir dies der Reihe nach durch.
2. Die Relationen
Das erste Verhältnis ist jenes zwischen Wirtschaft und Bevölkerung.
Dieses Verhältnis nennt sich «Wirtschaftsleistung pro Kopf». Es beschreibt den Wert der Güter und Dienstleistungen, die eine durchschnittliche Erdbewohnerin innerhalb eines Jahres herstellt und erbringt.
Die folgende Grafik zeigt, wie sich diese Relation seit 1965 entwickelt hat.
Wir erwirtschaften mehr
Wirtschaftsleistung pro Kopf
Erkennbar ist ein starker Anstieg. 1965 betrug das globale BIP pro Kopf noch gut 4000 Dollar. Heute liegt es bei über 10’000 Dollar. Das bedeutet, dass im globalen Durchschnitt auch die Einkommen pro Person stark gestiegen sind.
Das zweite Verhältnis ist das zwischen Energieverbrauch und Wirtschaftsleistung.
Dieses Verhältnis nennt sich «Energieintensität der Wirtschaft». Es lässt sich in sogenannten Öleinheiten pro Dollar ausdrücken. Eine Öleinheit ist die Menge an Energie, die bei der Verbrennung von einem Kilogramm Erdöl frei wird. Auch die Energie, die aus anderen Trägern stammt – zum Beispiel aus Kohle, aus Atom- oder Wasserkraft –, lässt sich in diese Einheit umrechnen. Eine Kilowattstunde Strom entspricht zum Beispiel 0,09 Öleinheiten.
Wie die folgende Grafik zeigt, ist die Energieintensität der Weltwirtschaft anders als das BIP pro Kopf nicht gestiegen, sondern gesunken. Und zwar von 0,25 auf 0,17 Öleinheiten pro Dollar. Das heisst, dass in jedem Dollar, den die Erdenbürger heute mit dem Verkauf von Gütern und Dienstleistungen erwirtschaften, im Durchschnitt weniger Energie als früher steckt.
Wir wirtschaften effizienter
Energieintensität der Weltwirtschaft
Dieser Trend mag überraschend sein. Doch er macht Sinn, wenn man sich den Strukturwandel vor Augen führt, den die Wirtschaft durchlaufen hat. Der wirtschaftliche Stellenwert der Industrie geht zurück, jener der Dienstleistungen nimmt zu. Es gibt anteilsmässig heute mehr Designerinnen, Programmierer, Beraterinnen oder Gesundheitsfachleute als früher – also Menschen, die ihr Geld mit virtuellen oder wissensintensiven Tätigkeiten verdienen, die weniger Energie verbrauchen als die Industrieproduktion.
Dank dem technischen Fortschritt und verbesserten Prozessen benötigt übrigens auch die Industrie selbst weniger Energie als früher. Nicht absolut, sondern relativ, also im Verhältnis zum Wert der Güter, die sie produziert.
Das dritte Verhältnis ist das zwischen CO2-Ausstoss und Energieverbrauch.
Dieses Verhältnis nennt sich «CO2-Intensität des Energieverbrauchs». Es ist von zentraler Bedeutung: Der Energieverbrauch an sich wäre kein Problem, wenn die Energie ausschliesslich aus erneuerbaren Quellen stammen würde. Doch dem ist nicht so. Es dominieren nach wie vor die fossilen Energieträger.
Leider ist die CO2-Intensität der Energie über die vergangenen 50 Jahre nur minim gesunken. 1965 wurden 3 Kilogramm CO2 pro Öleinheit an Energie ausgestossen. 2018 waren es noch immer fast gleich viel: 2,6 Kilogramm CO2.
Unsere Energie wurde kaum sauberer
CO2-Intensität des Energieverbrauchs
Quellen: BP, Global Carbon Project
Das bedeutet, dass die Menschheit bei der Dekarbonisierung bislang nur sehr langsam vorangekommen ist. Nach wie vor fahren die meisten Autos mit Benzin, viel Erdöl wird verheizt, viel Strom wird mit Kohle produziert.
Die drei Verhältnisse in Kayas Gleichung haben sich also unterschiedlich entwickelt. Das BIP pro Kopf ist gestiegen, die Energieintensität des BIP ist gesunken, die CO2-Intensität der Energie hat stagniert. In der Summe hat sich dies bislang zuungunsten des Klimas ausgewirkt. Die Bevölkerung wuchs, die Wirtschaft auch, ebenso der Energieverbrauch und der CO2-Ausstoss.
Wie gut stehen die Chancen für eine Umkehr?
3. Die Szenarien
Um dies zu beurteilen, bilden wir als Nächstes zwei Szenarien. Dabei stützen wir uns grundsätzlich auf die Bevölkerungsprognosen der Uno. Sie sagen bis 2050 einen Anstieg von 7,7 auf 9,7 Milliarden Menschen voraus. Über den Zeitraum von 30 Jahren sind solche Vorhersagen ziemlich zuverlässig.
Fürs Wirtschaftswachstum stellen wir zwei Möglichkeiten in den Raum:
Weiter wie bisher: In diesem Szenario wächst die Weltwirtschaft mit 2 Prozent pro Jahr. Das entspricht ungefähr der aktuellen Wachstumsrate der OECD-Länder. Pro Kopf sind es etwas weniger, da gleichzeitig auch die Bevölkerung wächst.
Nullwachstum: Hier wächst die Weltwirtschaft als Ganze nicht mehr. Und pro Person stellt sich sogar ein leichter Rückgang ein.
Führt man die BIP-pro-Kopf-Grafik bis 2050 weiter, so bilden diese zwei Szenarien darauf eine Schere. Einmal steigt die Wirtschaftsleistung pro Kopf auf knapp 16’000 Dollar, einmal geht sie auf etwa 8500 Dollar zurück.
Zwei Wachstumsszenarien
Wirtschaftsleistung pro Kopf
Für die Energieintensität der Wirtschaft treffen wir zusätzlich eine Annahme: Wir gehen davon aus, dass sie weiter sinkt – und zwar um etwa ein bis zwei Drittel. Das würde bedeuten, dass 2050 für jeden Dollar des globalen BIP noch etwa 0,05 bis 0,1 Öleinheiten an Energie aufgewendet werden müssten.
Eine mögliche Bandbreite
Energieintensität der Wirtschaft
Diese Annahme ist zwar sportlich, aber nicht ganz aus der Luft gegriffen.
Im schlechtesten Fall sinkt die Energieintensität im gleichen Tempo wie bisher. Das erscheint plausibel: Sowohl die reichen OECD-Länder als auch die aufstrebenden Schwellenländer, wo die Wissensgesellschaft noch am Entstehen ist, zeigten zuletzt einen fallenden Trend.
Im besten Fall verdoppelt sich die Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Strukturwandels. Das ist zwar ambitioniert, entspricht aber immerhin den Zielen, welche die OECD diskutiert.
In einem letzten Schritt leiten wir aus den bisherigen Annahmen und den zwei Szenarien die jeweils nötige Entwicklung der CO2-Intensität ab. Gegeben, dass der weltweite CO2-Ausstoss im Hinblick auf das Netto-null-Emissionsziel bis Mitte Jahrhundert um 85 Prozent gesenkt werden muss (die restlichen 15 Prozent würden mit negativen Emissionen wettgemacht): Wie rasch muss dann die CO2-Intensität der Energie abnehmen?
Die Antwort darauf steckt in der folgenden Grafik. Sie lässt sich mit der Kaya-Gleichung berechnen und beinhaltet zwei verschiedene Pfade:
einen für das Weiter-wie-bisher-Wachstumsszenario (dunkelgrün)
und einen für das Nullwachstums-Szenario (hellgrün).
Beide Pfade sind jeweils mit einem Unschärfebereich umgeben, der die mögliche Fortschritts-Bandbreite bei der Energieintensität abdeckt.
Zwei resultierende Pfade
CO2-Intensität des Energieverbrauchs
Quellen: Uno, Weltbank, BP, Global Carbon Project, eigene Berechnungen
Je nach Wachstumsszenario ergeben sich also unterschiedliche Verläufe.
Soll die Weltwirtschaft weiter wachsen, so muss die Energiewende sehr rasch erfolgen: Fossile Energieträger müssen zügig mit erneuerbaren Energien ersetzt werden, um die Klimaziele zu erreichen.
In einer Nullwachstums-Wirtschaft ist der Umstieg zwar ebenfalls nötig, aber die Welt hat etwas mehr Zeit. 2050 sind in diesem Szenario immerhin noch 0,8 Kilogramm CO2 pro Öleinheit an verbrauchter Energie erlaubt: doppelt so viel wie im Weiter-wie-bisher-Szenario.
Die Gegenüberstellung zeigt, dass sich die wirtschaftliche Wachstumsfrage letztlich in eine Tempofrage übersetzt – in eine Frage der Geschwindigkeit, mit der das weltweite Energiesystem umgebaut werden muss.
Um welche Dimensionen es dabei geht, lässt die folgende Grafik erahnen. Sie zeigt den aktuellen Energieverbrauch – und stellt diesem den theoretisch nötigen Zubau an komplett CO2-freien Energien gegenüber, der je nach Wachstumsszenario gebraucht würde, um den weltweiten Bedarf zu decken.
Die Wirtschaft macht einen Unterschied
Energiebedarf, in Öleinheiten
Quellen: Uno, Weltbank, BP, Global Carbon Project, eigene Berechnungen
Man sieht: Im Weiter-wie-bisher-Szenario ist der Bedarf an erneuerbaren Energien deutlich höher. 2050 müssten jährlich 5 bis 15 Milliarden Öleinheiten an Energie aus Wasser, Sonne, Wind und anderen Formen bereitgestellt werden – also fast so viel Energie, wie bereits heute jedes Jahr verbraucht wird. Bei Nullwachstum wären es nur 2 bis 7 Milliarden.
4. Das Fazit
Ist weiteres Wirtschaftswachstum also mit dem Klimaschutz vereinbar?
Enno Schröder und Servaas Storm, zwei Forscher der Universität Delft, haben basierend auf der Kaya-Gleichung ähnliche Berechnungen angestellt. Ihr Urteil ist negativ: «Es ist möglich, die CO2-Emissionen ohne desaströse Wirtschaftskonsequenzen zu reduzieren, aber nicht mit der Geschwindigkeit und im Ausmass, das die Pariser Klimaziele und der Weltklimarat vorgeben.»
Andere Stimmen, darunter Ex-US-Präsident Barack Obama, klingen deutlich positiver. Er beschwor zu Ende seiner Amtszeit ein «irreversibles Momentum sauberer Energien» und gab sich in einem «Science»-Artikel überzeugt, dass Wirtschaftswachstum auch mit sinkenden CO2-Emissionen möglich ist.
Wer recht hat, lässt sich noch nicht abschliessend sagen. Festzuhalten sind nach den Modellrechnungen mit der Kaya-Gleichung allerdings drei Dinge.
Erstens: Es macht rein mathematisch gesehen einen grossen Unterschied, ob die Welt nur ihre bisherigen fossilen Energiequellen mit erneuerbaren Energien ersetzen muss – oder ob sie über weiteres Wirtschaftswachstum zusätzlichen Energiebedarf generiert und in der Folge umso mehr Wasserkraftwerke, Solaranlagen und Windräder bauen muss. Unter sonst gleichen Bedingungen ist weniger Wirtschaftswachstum für den Klimaschutz daher immer besser.
Zweitens: Ob die Klimaziele erreicht werden, liegt am Ende nicht an einem einzelnen Faktor. Sondern an einer Reihe von Dingen, die zugunsten des Klimas zusammenspielen müssen. Dazu gehört nicht zuletzt auch die Qualität des Wirtschaftswachstums. Wachsen Branchen wie der Flugverkehr und die Zementherstellung? Oder wachsen das Gesundheitswesen und die Cleantech-Branche? Je nachdem ergibt sich ein komplett anderes Bild.
Drittens: Wir sind mit beträchtlichen Unsicherheiten konfrontiert. Gut möglich, dass die Klimawissenschaft in den nächsten Jahren zum Schluss kommt, dass noch weniger Zeit bleibt als gedacht. Unter diesen Umständen würden die nötigen CO2-Absenkpfade noch steiler und das Spannungsfeld zwischen Wirtschaftswachstum und Klimaschutz noch schärfer.
Unsere Suche nach Antworten hat mit der Kaya-Gleichung jedenfalls erst begonnen. Wie Klima und Wirtschaft in Ländern wie der Schweiz konkret zusammenspielen, untersuchen wir demnächst in diesem Blog.
Verschiedene Datenquellen wurden für diesen Beitrag genutzt.
Die Bevölkerungsdaten (bisherige Entwicklung sowie Prognose bis 2050) stammen aus den World Population Prospects, einem umfangreichen Datenwerk der Uno. Verwendet wurde das zentrale Bevölkerungsszenario, gemäss dem 2050 rund 9,7 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Die Wirtschaftsdaten stammen aus dem Datenkatalog der Weltbank. Verwendet wurde eine inflationsbereinigte Datenreihe, die das globale BIP in Dollarpreisen des Jahres 2011 angibt.
Die Daten zum Energieverbrauch wurden dem Statistical Review of World Energy von BP entnommen. Der Energieverbrauch ist dort in Öleinheiten angegeben. Diese Quelle unterschätzt die Bedeutung der erneuerbaren Energien ein Stück weit. Als Folge davon wird die Entwicklung der Energieintensität der Weltwirtschaft in der Auswertung tendenziell etwas zu positiv und jene der CO2-Intensität der Energie tendenziell etwas zu negativ dargestellt.
Die Daten zum CO2-Ausstoss schliesslich entstammen dem Global Carbon Atlas des Global Carbon Project. Es handelt sich um die Emissionen aus der Industrie und der Energieproduktion. Nicht inbegriffen sind die Emissionen anderer Treibhausgase wie Methan sowie die Veränderung des CO2-Gehalts aufgrund von Faktoren wie der Abholzung von Wäldern. Diese Emissionen müssen ebenfalls reduziert werden, sind über die letzten Jahrzehnte aber weniger rasch gewachsen.
Die Kaya-Gleichung geht so: C = P * y * e * c
Dabei steht C für die CO2-Emissionen, P für die Bevölkerung, y für das BIP pro Kopf, e für die Energieintensität des BIP und c für die CO2-Intensität der Energie.
Um mögliche Zielpfade für die CO2-Intensität (c) zu berechnen, wurde zunächst ein linearer Absenkpfad für die CO2-Emissionen (C) ausgehend vom aktuellen Niveau mit dem Ziel von minus 85 Prozent definiert – ähnlich, wie es Schröder und Storm in ihrer Arbeit machen (man könnte hier auch minus 100 Prozent fordern).
Für die restlichen Parameter – Bevölkerung (P), BIP pro Kopf (y), Energieintensität der Wirtschaft (e) – wurden, wie im Text beschrieben, Annahmen getroffen und Szenarien gebildet. Durch eine einfache Multiplikation wurde sodann für jedes Jahr bis 2050 die CO2-Intensität (c) als letzte verbleibende Variable berechnet.
Hinter dem nötigen Zubau an Erneuerbaren steckt eine Überschlagsrechnung. Es handelt sich dabei um die Gesamtmenge an Energie, die im betreffenden Szenario produziert wird (E) – abzüglich der Energiemenge, die bei der heutigen Intensität (c) gerade so viel CO2 produziert, dass der lineare Absenkpfad erreicht wird.
Sämtliche Berechnungen sind in einem Excel-File dokumentiert.