Afrika ist die Zukunft
Wie zuverlässig sind Bevölkerungsszenarien? Ein statistischer Streifzug durch die Prognosen für sechs Weltregionen.
Von Simon Schmid, 09.09.2019
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Über Jahrhunderte versuchten Europäer, die afrikanischen Länder zu kolonisieren, die dortigen Völker zu versklaven oder von ihrem Land zu vertreiben. Lange Zeit stagnierte deshalb die afrikanische Bevölkerung.
Ironie der Geschichte: Afrika wächst heute viel schneller als andere Kontinente. Am Ende des 21. Jahrhunderts werden auf dem Planeten fast siebenmal mehr Afrikanerinnen als Europäerinnen leben.
Zentrales Szenario
Afrika ist also die Zukunft. Dies geht aus den World Population Prospects hervor, einer Datensammlung der Vereinten Nationen, in der die Bevölkerung der Erde jährlich aufdatiert und deren künftige Entwicklung neu geschätzt wird. Die aktuellste, 26. Ausgabe stammt vom August.
Gemäss dem zentralen Szenario wird die Bevölkerung Afrikas von aktuell 1,3 auf dereinst 4,3 Milliarden Menschen wachsen. Trifft die Prognose zu, so werden in Afrika im Jahr 2100 über dreimal mehr Menschen leben als heute.
Diese Zunahme ist enorm. Und zweifellos eine grosse Herausforderung: für die afrikanischen Länder ebenso wie für die restliche Staatengemeinschaft. Gesundheit, Ernährung, Klima, Migration lauten einige der Stichworte.
Doch darum soll es hier nicht in erster Linie gehen. Stattdessen beschäftigen wir uns mit den Daten selbst. Wie entstehen solche Bevölkerungsprognosen eigentlich? Wie zuverlässig sind sie? Was kann man aus ihnen ableiten?
Wahrscheinlichkeiten
Bevölkerungsprognosen ändern sich über einen Zeitraum von rund 20 Jahren fast gar nicht – und über rund 20 weitere Jahre nur minimal.
Das liegt in der Natur der Sache. Und ist eine angenehme Eigenschaft: Anders als etwa Volkswirtschaften, die plötzlich eine Krise durchlaufen können, sind Bevölkerungen relativ träge Gebilde. Verhaltensänderungen schlagen sich erst mit einer Verzögerung von Jahrzehnten in der Statistik nieder. Deshalb fällt es Demografen einiges leichter als Ökonominnen, die Bevölkerungsentwicklung eines bestimmten Landes vorherzusagen.
Vereinfacht gesagt, müssen sie sich dabei mit drei Parametern befassen:
den Geburtenraten (Fertilität)
den Sterberaten (Mortalität)
der Ein- und Auswanderung (Migration)
Ausser bei Kriegen und anderen einschneidenden Ereignissen ändern sich diese drei Kennzahlen in der Regel nicht allzu stark. Und wenn es Änderungen gibt, so folgen diese meist wohlerforschten Trends.
Je weiter eine Prognose reicht, desto grösser wird dennoch die Unsicherheit. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, ist, Wahrscheinlichkeiten anzugeben. In der Regel wird dies mit sogenannten Konfidenzintervallen gemacht. Das sind Spannweiten, innerhalb deren die künftigen Werte, die mit Modellen berechnet wurden, mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent liegen.
Das Konfidenzintervall für Afrika ist ziemlich gross: Seine Ränder liegen bei 3,4 respektive 5,3 Milliarden Menschen und damit +/– 25 Prozent über dem zentralen Szenario, das die Vereinten Nationen für das Jahr 2100 veranschlagen.
Gemäss den Uno-Berechnungen könnte es demnach also sein, dass sich die Bevölkerung in Afrika über die nächsten 80 Jahre nicht verdreifacht, sondern nur verzweieinhalbfacht – und es könnte auch sein, dass sie sich vervierfacht. Die Chancen dafür liegen jeweils allerdings nur bei 2,5 Prozent.
Auf diese Wahrscheinlichkeiten kommen die Wissenschaftler, indem sie Tausende von Szenarien durchrechnen. Diese Szenarien basieren ihrerseits auf verschiedenen Kombinationen der drei zentralen Parameter.
Extremszenarien
Was das konkret heisst, lässt sich anhand von zwei Szenarien verdeutlichen, die ausserhalb des 95-Prozent-Konfidenzintervalls liegen und deshalb Extremszenarien sind: das Momentum- und das No-Change-Szenario.
Dass diese Szenarien die Bezeichnung «extrem» tatsächlich verdienen, zeigt sich an den Zahlen. In einem steigt die Bevölkerung bis 2100 bloss auf 2 Milliarden an, im anderen wächst sie dagegen auf fast 10 Milliarden.
Ein Blick ins Innenleben der zwei Szenarien zeigt, wie die grossen Unterschiede zustande kommen:
Im No-Change-Szenario wird angenommen, dass sowohl die Fertilität als auch die Mortalität auf ihrem jetzigen Niveau bleiben. Das heisst: 4,4 Kinder pro Frau und eine Lebenserwartung von knapp 63 Jahren. Im No-Change-Szenario wächst die afrikanische Bevölkerung vor allem wegen der hohen Fertilitätsrate sehr stark. Diese ist zwar bereits gesunken, liegt aber immer noch deutlich über jener in den anderen Weltregionen.
Im Momentum-Szenario ist die Fertilität dagegen tiefer – so tief, dass die Elterngeneration gerade noch ersetzt wird. Aktuell sind dafür rund 2,3 Kinder pro Frau nötig (die Ziffer liegt in Afrika bei etwas über zwei Kindern pro Frau, weil ein Teil der Kinder vor dem Erwachsenenalter stirbt). Im Momentum-Szenario wächst die Bevölkerung damit nur so lange, bis die jetzige junge Generation ihren Weg durch die Alterspyramide zurückgelegt hat – was etwa 2070 der Fall sein wird. Danach ist die Bevölkerungszahl konstant.
Das realistische, mittlere Szenario liegt zwischen diesen beiden Extremen. In ihm steigt die Lebenserwartung von 63 auf 76 Jahre, und die Geburtenziffer fällt von 4,4 auf 2,1 Geburten pro Frau – auf den Wert, der aktuell auch in Europa oder in Nordamerika für eine konstante Bevölkerung nötig ist.
Allerdings sind die Geburtenziffern in vielen Ländern bereits unter diese Schwelle gefallen – oder drauf und dran, dies zu tun. Die Folgen davon zeigen sich in den Bevölkerungsprognosen für die restlichen Weltregionen.
Asien
Asien ist zurzeit der bevölkerungsreichste Kontinent. Dies wird auch Ende des 21. Jahrhunderts noch so sein. Doch im Verlauf des 22. Jahrhunderts dürfte es von Afrika überholt werden. Der Grund: fallende Geburtenziffern.
Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung hat die Fertilität in Asien rapide abgenommen. 1950 brachte eine Frau im Schnitt noch 5,8 Kinder zur Welt. Heute sind es bereits nur noch 2,1 Kinder. Gemäss dem zentralen Szenario der Vereinten Nationen dürfte die Ziffer bis 2100 auf 1,8 Kinder fallen.
Dies führt ab Mitte des Jahrhunderts zu einer sinkenden Bevölkerungszahl. In Asien werden 2055 maximal 5,3 Milliarden Menschen leben. Bis ins Jahr 2100 dürften es nur noch 4,7 Milliarden sein. Wobei auch hier eine gewisse Unschärfe besteht: Das Konfidenzintervall reicht von rund 4 bis 6 Milliarden.
In Süd- und Ostasien dürfte die Bevölkerungszahl Ende des Jahrhunderts sogar unter den heutigen Stand fallen. China und Japan, aber auch Thailand und Malaysia sind keine kinderreichen Länder. Etwas mehr Menschen als heute dürften dagegen im zentral- und südasiatischen Raum leben. Die demografische Wende mit rückläufiger Bevölkerung setzt dort später ein – sodass Indien währenddessen China als grösstes Land der Erde überholen wird.
Europa und Nordamerika
Zeichnet man die Bevölkerungsentwicklung für Europa und Nordamerika, so fällt auf: Die resultierende Grafik ist, wenn man die Achsenskalierung beibehält, sehr klein. Die beiden Regionen beheimaten bereits heute einen kleinen Teil der Weltbevölkerung. Bis 2100 wird sich dies nicht ändern.
In Europa leben aktuell rund 750 Millionen Menschen. Wegen der geringen Fertilität dürfte diese Zahl bis 2100 auf 630 Millionen zurückgehen. Zwar existiert auch für diese Prognose eine Spannweite von +/– 10 Prozent. Doch selbst am oberen Ende des Intervalls sinkt die Bevölkerungszahl.
Anders als in Europa soll die Bevölkerung in Nordamerika zunehmen. Zurzeit leben in den USA und in Kanada rund 370 Millionen Menschen. In 80 Jahren dürften es 490 Millionen sein. Verantwortlich dafür ist aber nicht die Fertilität – diese ist in Nordamerika nur unmerklich höher als in Europa. Sondern die Migration: Sie treibt die dortige Bevölkerungszahl nach oben.
Deutlich wird dies, wenn man die Prognose für Nordamerika unter dem Vergrösserungsglas ansieht – und das zentrale Szenario mit einem Zero-Migration-Szenario vergleicht, das die Zuwanderung ausklammert.
In diesem zuwanderungslosen Szenario (das als derart unwahrscheinlich gilt, dass es ausserhalb des Konfidenzintervalls liegt) geht die nordamerikanische Bevölkerung auf 330 Millionen Menschen zurück – und schrumpft damit gegenüber dem zentralen Szenario mit Migration um fast ein Drittel.
Auch in Europa schrumpft die Bevölkerung im Zero-Migration-Szenario. Allerdings unterschreitet sie das zentrale Szenario nur um rund 15 Prozent.
Lateinamerika und Ozeanien
Zum Schluss: zwei Regionen, die ebenfalls einen kleineren Teil der Weltbevölkerung beheimaten: Lateinamerika (inklusive Mexiko) und Ozeanien (also Australien, Neuseeland und umliegende Inseln).
Wir schauen sie uns ebenfalls anhand einer vergrösserten Skala an.
Die Entwicklung in Lateinamerika ist am besten mit derjenigen in Asien vergleichbar. Noch zur Mitte des letzten Jahrhunderts wiesen beide Regionen sehr hohe Geburtenziffern auf; inzwischen ist die Fertilität in beiden Regionen auf oder unter den Reproduktionswert von 2,1 Kindern gefallen.
Das bedeutet: Lateinamerika wächst praktisch nur noch wegen seines «Momentums», also wegen der vielen Kinder, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren wurden. Dieses Momentum läuft bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts allerdings aus – die Bevölkerung wird danach schrumpfen.
Wegen Ländern wie Papua-Neuguinea hat Ozeanien demgegenüber höhere Geburtenziffern. Deswegen und wegen der erwarteten Zuwanderung rechnen die Vereinten Nationen dort mit einer wachsenden Bevölkerung.
Schluss
Die Weltbevölkerung insgesamt wird bis ins Jahr 2100 zunehmen – gemäss dem zentralen Szenario auf total 10,9 Milliarden Menschen. Ziemlich genau zu diesem Zeitpunkt dürfte das Wachstum dann allerdings auch auslaufen.
Ab dann finden nur noch Umschichtungen statt. Der asiatische, europäische und lateinamerikanische Anteil an der Weltbevölkerung schrumpft – jener von Nordamerika, Ozeanien und Afrika steigt. Wie stark, hängt primär von der Wirtschaftsentwicklung ab. Nimmt der Wohlstand in Nigeria, Angola oder im Kongo ähnlich schnell zu wie zuletzt in Südostasien, so kommt auch das Bevölkerungswachstum in Afrika bereits vor 2100 zum Stillstand.
Diese Zusammenhänge sind wissenschaftlich gut erforscht – Prognosen, die in der Vergangenheit basierend darauf aufgestellt wurden, sind eingetroffen.
Darum ist die Vorhersage – wie die meisten Prognosen, welche die Uno in der Vergangenheit aufgestellt hat – robust: Afrika ist die Zukunft.