Aus dem Buch «Into the City».

Ansichten aus Afrika

Gott, das Patriarchat und die Last der Vergangenheit

Die queere südafrikanische Künstlerin Queenzela Mokoena fertigt kleine Bücher, in denen sie den grossen Fragen nachgeht. Teil 1.

Von Flurina Rothenberger (Text), Queenzela Mokoena (Bilder) und Sarah Fuhrmann (Übersetzung), 22.02.2020

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«Ich lebe in einer Gesellschaft, die sich von den strukturellen und tief sitzenden Traumata der Apartheid erholt. Ich gehöre ausserdem der ersten ‹Born Free›-Generation an, einer, die besser gerüstet ist, sich die Zukunft meines Landes und meines Kontinents neu auszumalen und sie neu zu gestalten», sagt Queenzela Mokoena in ihrer Abschluss­arbeit. Und sie erklärt an anderer Stelle weiter: «Ich bin ‹frei geboren›; ich bin in gewisser Hinsicht sowohl privilegiert als auch marginalisiert. Ich bin ständig am Aushandeln, welche Rolle ich in welchen Räumen und welchen Momenten einnehmen soll. Ich bin eine schwarze Frau, die sich als queer identifiziert – und ich habe Angst, weil ich die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft in mir trage und doch wenig bis gar keine Zeit habe.»

Queen wurde im Jahr 1996 geboren, zwei Jahre nach der ersten demokratischen Regierungs­wahl in Südafrika. Ihr Vater verliess die Familie, als sie vier Jahre alt war, kehrte aber Jahre später in das Leben seiner Tochter zurück. Ihre Mutter, eine Anwalts­gehilfin beim Justiz­ministerium in Johannesburg, zog Queenzela und ihre ältere Schwester gross, beide studierten.

Ich treffe mich mit der Künstlerin im Wits Art Museum, wo ihre Arbeit im Rahmen der jährlichen Präsentation der Abschluss­klasse in Bildender Kunst der Wits School of Arts ausgestellt wird. Gegenüber einer beeindruckenden Reihe von Queens Collagen steht auf einem kleinen Holzregal eine Auswahl ihrer Bücher­serie. Sie sind klein und mit verschiedenen Techniken und Materialien von Hand gefertigt. Die Seiten sind aus Papier oder Stoff, mit Illustrationen, manchmal gestickt, dann wieder fotografiert, auch mit Worten, gedruckt, ausgeschnitten und aufgeklebt oder von Hand geschrieben wie in einem privaten Tagebuch. Beim Durchblättern erkennt man schnell, dass hier grosse Themen auf persönliche Erfahrungen und Beobachtungen herunter­gebrochen werden.

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«Textures of the City».

«Ich habe angefangen, Bücher herzustellen, als die Themen sehr persönlich wurden. Anders als ein Bild auf Leinwand habe ich die Bücher nicht für eine Öffentlichkeit gedacht. Das Format ermöglichte mir, meine intimsten Gedanken zu thematisieren. Ich konnte die Bücher schnell herstellen, frei erforschen und experimentieren und mich auf das konzentrieren, was ich wirklich sagen wollte, anstatt mir Gedanken darüber zu machen, ein perfektes Kunstwerk zu kreieren», sagt Queen, zieht «Self-Portrait in Seven Words or Less» aus dem Stapel und schlägt es auf.

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«Self-Portrait in Seven Words or Less».

«Ich war einmal Christin. Meine Eltern planten meine Empfängnis. Land ist wichtig für mein Leben. Ich gehöre zum Himmel. Ich habe ein schlechtes Gedächtnis.»

Die Bücher strahlen eine Intimität aus, die uns anzieht, uns aber auch ein wenig hemmt. Es ist eine persönliche Reise, die die Künstlerin in dieser Anthologie unternimmt und auf der sie sich mit ihren Ängsten auseinandersetzt. Schritt für Schritt, Buch für Buch, nimmt sie die auslösenden Faktoren auseinander, legt die gesellschaftlichen Normen ab, denen sie sich verschrieben hat, und überdenkt sie. Und nach und nach richtet sie neu aus, wer sie ist, ihre Wahrnehmung von Gott und Spiritualität, von Sexualität und Geschlechts­zugehörigkeit, von Rasse, Protest und Herrschaft. In diesem Kontext sind ihre Bücher wie Reise­tagebücher, in denen jede neue Frage und Einsicht ein Wegweiser nach vorn ist.

Dein Œuvre ist selbstreflektierend, die Kunst hat dir ein Werkzeug gegeben, mit deinen Ängsten umzugehen und sie anzuerkennen. Ängste, die du zum Teil mit vielen Menschen deiner Generation teilst, denke ich. Von welchen fühlst du dich am meisten unter Druck gesetzt?
Meine Generation trägt die Last einer politischen Landschaft aus einer Zeit vor unserer. Ich nenne ein Beispiel: Schwarze Frauen sind an der Akademie immer noch eine Randgruppe, das ist das Ergebnis des fortbestehenden Patriarchats und der anhaltenden Auswirkungen der Apartheid und des Post­kolonialismus, die immer noch in Südafrika vorherrschen. Themen, mit denen ich mich beschäftigt habe, wie #FeesMustFall und #TheTotalShutdown, stiessen in der akademischen Welt auf Zustimmung. Aber als ich begann, mich mit sehr introspektiven Frage­stellungen zu beschäftigen, wurde ich an all die drängenden Fragen erinnert, über die ich reden sollte. Dass ich als schwarze Frau an der Akademie, bis vor kurzem ein privilegierter Ort, unseren Haltungen eine Stimme gab. Und ich verstehe die Wichtigkeit dieser Dinge. Aber manchmal fühlt es sich an, als wären wir aufgefordert, eine Position einzunehmen, die in den letzten zwanzig Jahren durch eine andere Generation besetzt wurde. Ich kann nicht über eine Zeit vor meiner Existenz diskutieren. Ich bin nicht wütend genug oder froh genug. Ich muss zuerst klären, wer ich bin und wo ich mich in den komplexen Zusammen­hängen im heutigen Südafrika positioniere. Wir stehen unter grossem Druck, das Erbe des schwarzen Kampfes weiterzuführen. Und ich glaube, dass wir das können, aber ohne uns davon zu lösen und geprägt durch unsere eigenen Erfahrungen. Das scheint mir ehrlicher und weniger organisiert.

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«Book of Circle».

Du arbeitest mit vielen verschiedenen Medien und Techniken wie Bildhauerei, Malerei, Video, Stickerei und Textilien. Welche Rolle spielt die Fotografie?
Nach #TheTotalShutdown, dem Frauen­protestmarsch gegen geschlechts­bezogene Gewalt im Jahr 2018, bewegte ich mich weg von der reinen Fotografie. Ich erkannte, dass die Gegen­ständlichkeit der Dinge zu erfahren wichtiger ist als ihre blosse Sichtbarkeit. In meiner Arbeit beschäftigte ich mich mit der Beschaffenheit und der Stofflichkeit. Ich begann mich dafür zu interessieren, Bilder von einem Medium auf das andere zu übertragen. Vor allem wollte ich auf Stoff drucken und fing an, Fotolithografie zu verwenden. Ich benutze Fotografie jetzt eher als Ausgangs­punkt, aus dem sich neue Dinge entwickeln können. Meine Arbeit ist nicht linear, ich gehe oft zurück und benutze Material noch einmal, das ich in einer früheren Phase hergestellt habe. Es ist wie ein Dialog zwischen meiner Vergangenheit und der Gegenwart. Fotografie ist etwas sehr Unmittelbares, sehr Spontanes. Mein Denken kommt, nachdem ich das Foto aufgenommen habe. Stickerei und andere Techniken, die ich in den Büchern verwende, brauchen mehr Zeit. Es lässt mich wirklich langsamer werden und über die Intention des Bildes nachdenken, das ich kreiere.


In den Jahren 2015 und 2016 erschütterte die von Studierenden geführte Protest­bewegung #FeesMustFall Südafrika. Die Bewegung forderte, den Anstieg der Studien­gebühren zu stoppen und die staatliche Finanzierung der Universitäten zu verbessern. Während der Herrschaft der weissen Minderheit wurde vielen schwarzen Studierenden der Zugang zu renommierten Einrichtungen verweigert, und die immer noch bestehende Ungleichheit in den letzten 25 Jahren wurde den hohen Studien­gebühren angelastet. #FeesMustFall waren die grössten Studierenden­proteste seit dem Ende der Apartheid im Jahr 1994.

Die Zeit von #FeesMustFall löste einen inneren ideologischen Konflikt mit deiner Kirche und letztlich mit deinem Glauben aus. Ein Thema, das dich und deine Arbeit seit langer Zeit beeinflusst – kannst du das näher erläutern?
Ich wurde während #FeesMustFall immer frustrierter, weil meine Kirche die gleiche Haltung gegenüber unserem Protest einnahm wie die Medien und die akademische Welt. Sie alle hatten grosse Angst vor den Studierenden, aber ich war eine von ihnen, und ich identifizierte mich mit beiden Sphären. Wir waren immer auf der Strasse und sangen für unser Anliegen oder solidarisierten uns mit denjenigen, die festgenommen wurden. Abends versammelten wir uns, zündeten Kerzen an und erfuhren gemeinsame Momente der Stille. #FeesMustFall fühlte sich spirituell an, nicht durch Gebete, sondern durch die Energie, den gemeinsamen Raum. Meine Mutter ist eine überzeugte Christin. Sie hat uns ihre Religion nie aufgedrängt, aber natürlich bestimmten ihre Werte unser Zuhause. Zu einem Zeitpunkt, als ich die Unter­stützung meiner christlichen Kirche am meisten brauchte, verurteilte sie das, wofür ich kämpfte, als falsch. Es war ein sehr wichtiger Moment in meinem Leben und dem meiner Generation, in dem wir Gerechtigkeit forderten, und die Kirche erkannte unseren Kampf nicht an. Sie verurteilten uns Studierende als Unruhe­stifter, anstatt wirklich mit uns ins Gespräch zu kommen. Bevor ich wütend wurde, war ich verletzt. Ich verstand nicht, warum ich mich nicht gut fühlen und trotzdem ein Kind Gottes sein konnte. Ich trat aus der Kirche aus und distanzierte mich später auch vom Christentum.

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«Confessions of a Queer God».
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«Kept Matthew Promises».

Du glaubst immer noch an Gott, aber wie du die Gestalt Gottes siehst, hat sich verändert, richtig? Kannst du etwas zu «Confessions of a Queer God» und «Kept Matthew Promises» sagen?
Es gab nie einen Punkt in meinem Leben, an dem ich das Gefühl hatte, dass Gott nicht da ist. Aber ich musste die Vorstellung von Gott aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen neu definieren. Ich erkannte, dass meine Wahrnehmung von Gott auf das beschränkt war, was Christen als richtig und falsch definiert hatten. Ich brauche kein Regelwerk und muss nicht instruiert werden, wo ich Gott finde. Gott ist in jedem einzelnen Ding, das lebendig ist, auch in mir. Ich denke, Glaube muss nicht innerhalb einer grossen Gruppe von Menschen geteilt werden, um gültig zu sein. Er ist ein sehr persönlicher Bewältigungs­mechanismus für dein Leben auf dieser Welt. Als ich anfing, Religion als etwas zu verstehen, was in einem Einzelnen existieren kann, durfte sie sich auch verändern. Ich entwarf «Kept Matthew Promises», weil es mir wichtig war, wieder eine Verbindung zur Bibel herzustellen. Auch wenn ich keine Christin mehr bin, sind mir immer noch die Zeiten bewusst, als sie meiner Seele gutgetan hat. «Kept Matthew Promises» trägt Passagen aus der Bibel zusammen, die mir in meinem vollständigen Sein, das meine Homosexualität einschliesst, immer noch wichtig sind. In der Zeit, bevor und auch nachdem ich das Christentum hinter mir gelassen hatte, sprach ich immer noch von Gott als «ihm», und bei allem, was ich laut aussprach oder aufschrieb, war ich sehr vorsichtig, um Gott nicht zu beleidigen. Uns wird beigebracht, Gott zu fürchten. Aber ich will keine Angst vor den Dingen haben, durch die ich mich hindurch­arbeiten muss, um heraus­zufinden, wer ich bin. Gott sollte ein Teil meines Lebens sein, nicht irgendein fernes Wesen. «Confessions of a Queer God» entstand in dieser Zeit.

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«Mama Told Me».

Du scheinst dir der Subjektivität deines Blicks sehr bewusst zu sein, was sich auch darin zeigt, wie du deine Mutter in deine Arbeit einschliesst. In deiner Abschluss­arbeit schreibst du an einer Stelle: «Die Zeit hat meinen Körper an die Wunden der Geschichte gebunden». Irgendwie fand ich, dass das wunderschön mitschwingt, auch in Bezug auf dich und deine Mutter.
Als ich mich in all diese Fragen um meine eigene Innerlichkeit verstrickte, wurde die Figur meiner Mutter wesentlich. Sie steht für den Ort, wo ich herkomme, und für das, was der Kern meiner Identität bleibt. Am Anfang fiel es mir schwer, über mich selbst zu sprechen. Meine Mutter als Ersatz zu benutzen, gab mir Selbst­vertrauen. Wenn man meine Arbeit betrachtet, mag es so aussehen, als stünden meine Mutter und ich uns einfach nahe, aber unsere Beziehung ist komplizierter als das. Das Buch, bei dem mir am schwersten fiel, es mit der Öffentlichkeit zu teilen, ist «Mama Told Me». Es sind kurze Briefe an meine Mutter. Ich schreibe ihr darin alles, was ich ihr nicht persönlich sagen kann. Es geht um das, was sie durchgemacht hat, wie ihre Scheidung, und was diese mit ihr und uns gemacht hat, wie sie mich aufgezogen hat und wie ihre Erfahrungen in meine hinein­sickerten. Um das, was von einer Generation an die andere weitergegeben wird, geht es auch in dem Büchlein «Mother and I». Was ich an meiner Mutter am meisten schätze, ist, dass sie uns erlaubt hat, Kinder der Gegenwart zu sein. Sie forderte uns nicht auf, all das zu teilen, was sie in ihrem eigenen Leben durchgemacht hat, aber natürlich werden Schmerz und Liebe irgendwie immer von einer Generation an die nächste weitergegeben.

Zur Fotografin

Queenzela Mokoena wurde 1996 in Johannesburg geboren, wo sie heute auch lebt. Sie studierte an der University of Witwatersrand Kunst und ist Teil von INVADE, einem weiblichen Kunst­kollektiv, das sich mit dem Archivieren und dem Vermitteln von Wissen beschäftigt. Folgen Sie ihr auf Instagram.

Zu dieser Bildkolumne

Warum sollen wir gerade jetzt nach Afrika blicken? Falsche Frage, sagt Flurina Rothenberger. Die richtige laute: Warum erst jetzt? In ihrer wöchentlichen Kolumne «Ansichten aus Afrika» stellt Flurina Rothenberger junge Fotografie aus Afrika vor. Hier finden Sie den Podcast «Aus der Redaktion» zu dieser Kolumne.

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