Binswanger

Risiko­angst schlägt Rechtsstaat

Der Fall Mike zeigt: In der Strafjustiz wird der Präventions­gedanke immer wichtiger. Die Motive dafür sind legitim – die Folgen hoch problematisch.

Von Daniel Binswanger, 09.11.2019

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Diesen Mittwoch wurde Mike zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten sowie zu einer Geldstrafe von 70 Tages­sätzen à 10 Franken verurteilt. Er wird zum Subjekt stationärer therapeutischer Massnahmen werden, also eine «kleine Verwahrung» antreten. Seine Prognose ist düster. Die Republik-Kolleginnen Brigitte Hürlimann und Elia Blülle haben sich mit der gebotenen Dossier­kenntnis mit dem Fall von Mike auseinandergesetzt – nicht nur mit der Strafsache, über die nun ein erst­instanzliches Urteil ergangen ist, sondern mit der ganzen schwierigen und den jungen Mann bis heute prägenden Geschichte seiner Kindheit und Adoleszenz. Dieser Aufarbeitung des Falls ist nichts hinzuzufügen.

Aber Mikes Geschichte steht nicht nur für die Tragödie eines jungen Wiederholungs­täters, der das Schweizer Justiz­system an seine Grenzen bringt. Sie steht auch für den fundamentalen Werte­wandel, den das allgemeine Rechts­empfinden in den vergangenen zwanzig, dreissig Jahren durchgemacht und der die Rechts­praxis verändert hat. Beispielhaft steht sie dafür, dass wir heute bereit sind, tragende Säulen moderner Rechts­staatlichkeit stark zu relativieren – wenn nicht ein Stück weit einfach aufzugeben.

Die Strafjustiz unterliegt zunehmend einem Paradigmen­wandel: von der Strafe zur Prävention. Immer stärker wird das Bedürfnis, nicht nur begangene Straftaten mit staatlichen Zwangs­mitteln zu sanktionieren, sondern dem Risiko, dass Straftaten überhaupt begangen werden könnten, mit allen Mitteln vorzubeugen. Zwar ist das zeitweilige Aus-dem-Verkehr-Ziehen überführter Delinquenten auch im klassischen Strafrecht eine der Funktionen des Freiheits­entzugs. Von der Sanktion für begangenes Unrecht wird es jedoch nicht getrennt.

Mittlerweile ist die Sanktion jedoch nur noch eine Teil­aufgabe der Strafjustiz. Mindestens so wichtig wird das Wegsperren von potenziellen Tätern. Die Rekonstruktion eines Tat­herganges kann für den Freiheits­entzug faktisch weniger relevant sein als die Prognose der Therapie­fähigkeit. Die Beweis­führung des Staats­anwalts kann weniger Gewicht haben als das Gutachten des Psychiaters. Strafjustiz war im Kern immer eine Form der Vergangenheits­bewältigung. Heute verhandelt sie mehr und mehr die Zukunft.

Natürlich sind die Gründe für diese Entwicklung bestens nachvollziehbar und an sich legitim. Es geht darum, Wiederholungs­täter in Schach zu halten und Rückfälle möglichst zu unterbinden. Gerade bei Schwerst­delikten wie Vergewaltigungen und Tötungs­delikten ist einsichtig, dass der Schutz potenzieller Opfer als erste Priorität des staatlichen Handelns betrachtet wird. Erklärungs­bedürftig ist allerdings, weshalb in den vergangenen zwei, drei Jahr­zehnten die Dringlichkeit dieser Schutz­massnahmen plötzlich massiv höher bewertet wird.

In den meisten westlichen Ländern ist es seit den 1990er-Jahren zu einer Verschärfung und häufigeren Anwendung präventiver Massnahmen wie der Verwahrung gekommen. In Frankreich beispiels­weise hat Nicolas Sarkozy, der schon als Innen­minister Massnahmen zur Fichierung und Überwachung von Pädophilen ergriff, gegen stärkste verfassungs­rechtliche Bedenken die rétention de sûreté eingeführt – eine Verwahrung auf Lebenszeit von als gefährlich erkannten Sexual­straftätern. Gerhard Schröder prägte 2001, als er zur gesetzlichen Verschärfung der Sicherungs­verwahrung für Sexual­straftäter befragt wurde, sein berühmt-berüchtigtes «Wegschliessen – und zwar für immer». In den USA verbreiteten sich in den 1990er-Jahren die öffentlich zugänglichen Register von sex offenders. Und die Schweizer Justiz­landschaft? Sie wurde seit den 1990er-Jahren aufgrund des abscheulichen Mordes von Erich Hauert an der Pfadi­führerin Pasquale Brumann und des messianischen Wirkens des Zürcher Gerichts­psychiaters Frank Urbaniok vollkommen umgepflügt. Mit aller Entschiedenheit – aber eigentlich nur dem Zeitgeist folgend.

Dass Regierungen ihre Bürger vor schweren Gewalt- und Sexual­straftaten schützen wollen und dass die Bürger diesen Schutz einfordern, ist legitim. Zwar wird in der juristischen Sprach­regelung zwischen Strafe und Massnahme streng unterschieden. Die Prävention kann nur psychiatrisch begründet werden und soll deshalb von einer straf­rechtlichen Sanktion möglichst getrennt werden. De facto aber gehört beides zusammen: Ein Freiheits­entzug ist ein Freiheits­entzug. Für die Betroffenen macht es hauptsächlich insofern einen Unterschied, ob sie eine Strafe absitzen oder einer Verwahrung unterliegen, als es sehr viel schwieriger ist, sich gegen Letztere zur Wehr zu setzen.

Das immer stärkere Präventions­bedürfnis führt zu einer tief­gehenden Veränderung der Rechtskultur:

  1. Einer der fundamentalsten Rechts­grundsätze wird sang- und klanglos ausser Kraft gesetzt: Nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz) heisst eines der wichtigsten Prinzipien aufklärerischer Rechts­kultur. Nur was unter Strafe gestellt worden ist, darf auch bestraft werden. Es hat ein unmittelbares Korollar: nulla poena sine crimine (keine Strafe ohne Delikt). Nur dort, wo auch gegen ein Gesetz verstossen worden ist, darf eine Sanktion erfolgen. Alles andere ist Willkür – und genau diese Willkür ist die Gefahr der Präventions­justiz, die sich ja um Taten dreht, welche (noch) nicht begangen worden sind.

  2. Nicht weniger gravierend ist, dass ein zweites vermeintlich geheiligtes Prinzip unserer Rechts­kultur mit Füssen getreten wird: im Zweifel für den Angeklagten. Die Präventions­justiz verdreht es in sein exaktes Gegenteil: im Zweifel gegen den Angeklagten. Die forensische Psychiatrie kann keine gesicherten Aussagen dazu machen, ob ein Delinquent mit einschlägiger Vorgeschichte in Zukunft wieder Straf­taten begehen wird oder nicht. Das Beste, was sie zu bieten hat, sind Bewertungen der Wahrscheinlichkeit (durch welchen Grad der Verlässlichkeit sich Aussagen zu Rückfall-Wahrscheinlichkeiten dann auszeichnen, sei einmal dahin­gestellt). Im Prinzip muss es deshalb genügen, dass Zweifel an seiner künftigen Straf­freiheit bestehen, um einen Verdächtigten unbegrenzt wegzuschliessen.

  3. Es wird ein neuer Grau­bereich des juristischen Ermessens geschaffen, weil die präventive Beurteilung nicht auf einem Tat­bestand und seiner juristischen Beurteilung beruhen kann, sondern einschätzen muss – oder durch Experten beurteilen lassen muss –, als wie pathologisch ein Straf­täter zu betrachten ist. Die harte Unter­scheidung zwischen gesetzlich und ungesetzlich muss ersetzt werden durch die unscharfe Unter­scheidung zwischen pathologisch und nicht pathologisch. Letztlich stellt sich die Frage, ob sich ein entlassener Straftäter einiger­massen normen­konform wird verhalten können oder nicht. Das ist umso problematischer, als ja nicht nur Gewalt- oder Sexual­straftäter mit vergleichs­weise klar umrissenem Gefährdungs­potenzial von stationären Massnahmen betroffen sein können, sondern zum Beispiel auch Querulanten oder Delinquenten mit stark asozialem Verhalten. Die Justiz sollte sich an Gesetzen und nicht an sozialen Normen ausrichten. Dass Erstere durch Letztere überlagert werden, lässt sich im Bereich des Massnahmen­vollzugs aber kaum verhindern. Michel Foucault hat bereits in den 1970er-Jahren die These entwickelt, dass in der heutigen Gesellschaft das Recht immer stärker durch nicht rechtliche soziale Normen kolonisiert werde. Die jüngere Entwicklung des Strafrechts scheint dies zu bestätigen.

  4. Der Massnahmen­vollzug dürfte im Strafrecht weiter an Terrain gewinnen. Das lässt sich auch dann als Quasi-Gewissheit bezeichnen, wenn man nicht die futurologische Diagnose­fähigkeit der forensischen Psychiatrie für sich in Anspruch nimmt. Zwar gibt es keinen Grund, in Zweifel zu ziehen, dass die Schweizer Richterschaft aus Juristen besteht, die versuchen, nach bestem Wissen und Gewissen sowie mit Umsicht und Fairness zu handeln. Aber die Anreiz­struktur ist ein fatales Problem: Ein Richter, der es unterlässt, eine Verwahrung oder eine stationäre Massnahme anzuordnen, setzt Ruf und Karriere aufs Spiel. Irgendwann wird ein Täter rückfällig werden, und man wird ihn dafür verantwortlich machen. Ein Richter hingegen, der eine Verwahrung anordnet, kann niemals eines Fehlers überführt werden. Ob ein weggesperrter Straftäter, wenn er in Freiheit gelassen worden wäre, auch keine Straftaten mehr begangen hätte, wird man niemals wissen. Dass die Richter sich für solche Entscheide auf psychiatrische Begutachtungen stützen, entschärft das Problem nur sehr begrenzt. Die Gerichts­psychiater unterliegen derselben Risikoasymmetrie.

  5. Bereits heute lässt sich feststellen, dass der Massnahmen­vollzug zunehmend auf ein unbegrenztes Wegsperren herausläuft. Zwar ist die lebenslängliche Verwahrung in der Schweiz bisher nur einmal rechtskräftig verhängt worden, aber auch Entlassungen aus der ordentlichen Verwahrung sind selten. Die extrem hitzigen Debatten um die lebenslängliche Verwahrung hätte sich die Schweiz eigentlich sparen können: De facto wird in der überwiegenden Zahl der Fälle ohnehin praktisch lebens­länglich verwahrt. Eine analoge Entwicklung lässt sich bei den stationären Massnahmen beobachten. Diese werden zwar für höchstens fünf Jahre verfügt, können aber bei Ablauf jeweils um weitere fünf Jahre verlängert werden. Strafverteidiger und selbst Gerichts­psychiater beklagen, dass immer mehr Delinquenten aufgrund einer «blossen» stationären Massnahme die Freiheit de facto unbegrenzt entzogen wird, weil einerseits nicht die Bereitschaft besteht, sie zu entlassen, andererseits aber aufgrund der Gering­fügigkeit ihrer Delikte eine Verwahrung gar nicht angeordnet werden kann. Eine Präventions­justiz mit Nullrisiko­mentalität kann gar nicht anders, als schwierigen Fällen mit Wegsperren zu begegnen.

Warum hat das Sicherheits­bedürfnis so massiv zugenommen? Der Fall Mike ist ohne Zweifel der schlagende Beweis dafür, dass die Medien eine verheerende Rolle spielen. Eine Justiz, die dem Diktat der letzten «Blick»-Schlagzeile unterliegt, wird unweigerlich die Vermeidung jedes Risikos zur obersten Handlungs­maxime erheben. Die Journalisten, die damals die mediale Hetzjagd antrieben, haben ihre Karrieren unbeschadet weiter­verfolgt. Eine aggressive Boulevard­presse gab es allerdings auch schon in den 1970er- und 1980er-Jahren. Die gesellschaftlichen Kräfte, die den Sieges­zug der Präventions­justiz herbei­geführt haben, sind grundsätzlicher Natur.

Frappierend ist, dass ausgerechnet in den 1990er- und in den Nuller­jahren, in einer Phase des Start-up-Kultes, der allgegenwärtigen Valorisierung von Risiko­bereitschaft und des permanenten Lobpreisens der Eigen­verantwortung, im Bereich des Straf­rechts eine Vollkasko­mentalität voranschritt. Es liegt nahe, einen Kompensations­mechanismus darin zu erblicken.

Es war Gerhard Schröder, der mit Hartz IV die radikalste sozial­politische Kehrtwende in der Geschichte der Bundes­republik verantwortete, der den radikalen Rückbau staatlicher Sicherungs­systeme vorantrieb – und gleichzeitig beim Ausbau der präventiven Sicherungs­haft scheinbar gar keine Schranken mehr anerkennen wollte. Es war Nicolas Sarkozy, der sein politisches Kapital einsetzte, um die französische Staats­quote zurück­zufahren, gleichzeitig aber die staatliche Justiz mit stark erweiterten Zwangs­mitteln gegenüber Sexual­verbrechern ausstattete.

Es ist kein neues Phänomen, dass die staats­skeptische Rechte den autoritären Nacht­wächter­staat propagiert. In einer Welt, in der die Bürger zunehmend schutzlos den Kräften des Marktes ausgesetzt sind, soll wenigstens im Bereich der Verbrechens­bekämpfung der Staat als Schutz­macht zelebriert werden.

Illustration: Alex Solman

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