Happening

Imitation of Life

Von Barbara Villiger Heilig, 04.10.2019

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Damit hatte ich nicht gerechnet: Sogar in Lugano stand sie plötzlich im Mittelpunkt, Christoph Büchels «Barca Nostra». Das Flüchtlings­boot mit der tragischen Geschichte, das der Schweizer Künstler im Arsenale von Venedig aufgebockt hat, erwähnte beim kleinen, feinen FIT (Festival internazionale del teatro e della scena contemporanea) der Theater­kritiker Renato Palazzi gestern auf einem Podium. Palazzi, ein älterer Herr mit entsprechend viel Erfahrung, war im Sommer während der Theaterbiennale – genau wie ich – Abend für Abend auf dem Weg zu den Biennale-Spielstätten an diesem stummen und dennoch sprechenden Mahnmal für die Opfer der unmenschlichen Migrations­politik vorbeispaziert.

In Lugano hörte man jetzt, Wochen später, welch bleibenden Eindruck dieses Werk hinterlassen kann: Als unheimliche Erscheinung, die eine greifbare Ahnung von Tod vermittle, beschrieb es Palazzi. Und er fragte sich: Warum mutet uns dieses Boot so stark an, während wir die täglichen Horror­nachrichten, von denen etliche das Mittel­meer und die Flüchtlinge betreffen, vergleichsweise schnell wegstecken? Seine nachvollzieh­bare Vermutung: Weil die Kunst dem Horror einen anderen, neuen Rahmen gibt. Sie hebt ihn hinaus aus dem Kontext des Alltags, verleiht ihm Raum und eine Aura. Das gestattet den Betrachterinnen innezuhalten, in sich zu gehen: Tatsächlich überkam mich vor Büchels Boot regelmässig ein Gefühl der Andacht – die es erst möglich machte, Trauer zu empfinden.

«Violenza e potere» hiess das Podium im LAC (Lugano Arte e Cultura), wo das FIT jeden Herbst die Theatersaison eröffnet. Gewalt und Macht: Sie bestimmten das europäische Theater seit seinen Ursprüngen im antiken Griechenland. Damals lieferten Mythen den Stoff. Heute hingegen kommen zunehmend «Realitätssplitter» (Palazzi) auf die Bühne: Das Dokumentar­theater möchte authentische Wirklichkeit transportieren und präsentieren, sei sie politischer oder privat-intimer Art. Doch Theater ist immer Repräsentation. Es «übersetzt» das Reale in eine andere Sphäre.

Wie so etwas gelingen kann, zeigt «Imitation of Life» des ungarischen Film- und Theaterregisseurs Kornél Mundruczó. Das Stück aus dem Jahr 2016 ist seit seiner Uraufführung auf Tournee und gastierte nun eben auch beim FIT. Es geht auf einen realen Vorfall im Roma-Milieu zurück, der nicht einmal gross für Schlag­zeilen sorgte: den Mord eines Jungen durch einen anderen. Davon erfährt das Publikum erst ganz zuletzt durch die Einblendung eines kurzen Texts auf dem transparenten Schirm vor der Bühne.

Dort haben wir anderthalb Stunden lang in eine Wohnung geblickt, in der sich Leben und Vergänglichkeit stauen: das detail­versessene Abbild jener Misere, in der man ungarische Roma bestenfalls hausen lässt. Die alte, kranke Frau, deren Monolog den Anfang macht, soll allerdings vertrieben werden aus ihrer Heimstatt, wo sie auf den verlorenen Sohn wartet – er ist geflohen vor dem Stigma, das ihm als Angehörigem einer unterdrückten Minderheit die Zukunft versperrt. István, dieser Sohn, tritt zuletzt selber auf und findet in der Wohnung ein jüngeres Alter Ego vor: einen Buben, der seinerseits auf die eigene Mutter wartet. Sie hat sich im Glitzer­kleid zum Rendez­vous davon­gestohlen – eine Prostituierte, muss man annehmen.

Eine Wohnung, in der sich Leben und Vergänglichkeit stauen: «Imitation of Life».

Die Wohnung ist unterdessen zum Trümmer­feld geworden. Denn während einer atem­raubenden Sequenz hatte sie sich vor unseren Augen – in der Vertikalen! – einmal um sich selbst gedreht. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, rutschte, fiel, polterte bei dieser Drehung nach unten auf den wandernden Boden, als spielte die Schwer­kraft verrückt: Geschirr, Kissen, Möbel, Decken, Apparaturen, Nipp­sachen, Medikamente …

Selten habe ich im Theater einen eindrücklicheren Prozess der Verwüstung erlebt. Er vollzieht metaphorisch die Vergewaltigung einer Biografie am äussersten Rand der Gesell­schaft nach: Das Intimste wird vorgeführt, herausgerissen aus dem zarten Gewebe von emotions­besetztem Material, das noch der ärmlichsten Existenz eine Art von Halt gibt. Erschütternd.

«Imitation of Life»: eine Bilderfolge, eine Geschichten­sammlung, die nicht einfach eine Message vermittelt. Sondern aufgeladen ist mit Realitäts­partikeln, die zum komplexen Symbol werden. Gewalt und Macht im Politischen und im Privaten. Ob in Ungarn oder anderswo.

Kunst hat keinen Sinn. Sie ist voll von Sinn.

Zum Festival

Das FIT dauert noch bis kommenden Sonntag, 6. Oktober. Hier finden Sie alle Informationen.

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