In Venedig liebt man die Touristen – wenn es die richtigen sind. Arnaud Dumontier/Maxppp/Keystone

Theater

Italy first!?

Venedig: Biennale Teatro 2019

So dringlich die Globalisierungs­fragen in der Lagunenstadt sind: Bei der jungen italienischen Regie­generation erhalten sie keine Bühne. Dabei wäre die Theater­biennale der ideale Ort dafür.

Von Barbara Villiger Heilig, 02.08.2019

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Massentourismus verbindet. Besonders in den Gassen und Gässchen von Venedig, wo man sich zwangs­läufig auf Tuchfühlung mit den Menschen befindet. Besser gesagt: auf Hautfühlung. Die Haut ist aufgrund der herrschenden Gluthitze schweissnass. Dabei wird gerade hier, im Zentrum, die Hitze gemildert: Aus den offenen Geschäften strömt Kühlschrank­luft ins Freie. Klimaanlagen sind zwar nicht umwelt­gerecht, aber nötig – wer möchte sonst mitten im Hochsommer Moncler-Daunen­jacken anprobieren?

Recht und Ordnung

Im Unterschied zu anderen Formen der Völker­wanderungen geniesst der Tourismus soziale Akzeptanz. Er bringt Geld. Doch in Venedig provozieren die Massen unter­dessen den Unmut der Einheimischen, die sich eingeengt fühlen. Deshalb bemüht sich die der Lega nahe Stadtregierung mit Benimm­regeln um Kontrolle. Verboten ist zum Beispiel, im Badeanzug herum­zuspazieren oder auf dem Markus­platz zu picknicken (verpflegen darf man sich in Restaurants und Kaffeebars zu Preisen, die der Toplage entsprechen). #EnjoyRespectVenezia heisst die städtische «Sensibilisierungs­kampagne», deren Programm weitere Punkte umfasst. Über die Umsetzung wacht eigens geschultes Personal. Man erkennt es am Kampagnen­logo auf den T-Shirts.

Weitere Ordnungskräfte mischen sich unter die Menge. Um den fremdländischen Reisenden entgegen­zukommen, holen sich die lokalen Carabinieri Unterstützung durch auswärtige Kollegen. Letztes Jahr war die chinesische Polizei unterwegs, dieses Jahr ist die spanische Guardia Civil an der Reihe. Solche Operateure sollen bei Verständigungs­problemen eingreifen. Für die Integration der touristischen Migranten scheut man keinen Aufwand.

Deutlich zeigt sich indessen, dass es Touristen und Touristen gibt. Nicht alle sind gleich willkommen. Der Trend geht in Richtung Förderung des Hochpreis­sektors. Neuste Massnahmen betreffen die geplante Eindämmung (und länger­fristig die Eliminierung) jener Ramschläden, die mit Murano-Glas made in China beträchtlichen Umsatz machen – zum Nachsehen der Edelprodukte aus den Glasbläsereien der echten Insel Murano. Ihnen soll die Neuregelung in Zukunft zugute­kommen. Italy first.

Im Konsumtempel

Apropos chinesische Präsenz: Auch da gibt es Unterschiede. Etwa zwischen den hier aufgewachsenen und ausgebildeten Kindern der Einwanderer und den gut betuchten, aus China eingeflogenen Ferien­gästen. Statt eines Konflikts resultierte daraus ein Business­modell. Denn beide Gruppen finden gewinn­bringend zusammen im Fondaco dei Tedeschi, «Venice’s Lifestyle Department Store» (wie riesige Werbe­flächen verkünden). Ein Luxus­kaufhaus, das von kulinarischen Delikatessen bis zu Designer­mode alles anbietet, was kaufkräftige Seelen begehren. Auffällig viel chinesisch­stämmiges, perfekt zweisprachiges Personal kümmert sich um die auffällig zahlreiche chinesische Kundschaft: Eine Reise­agentur schleust sie in den Konsum­tempel. Kooperation klappt, solange sie lukrativ ist.

Sprachprobleme vermeiden: Ein Carabiniere patrouilliert gemeinsam mit chinesischen Polizisten. Awakening/Getty Images

Fondaco – die Betonung liegt auf der ersten Silbe – kommt vom arabischen Wort funduq, was so viel bedeutet wie Karawanserei. Tatsächlich handelt es sich beim Fondaco dei Tedeschi um eine jahrhundertealte Institution. Hier, unmittelbar neben der Rialto-Brücke, fanden einst tedeschi, deutsche Händler, ihre Unterkunft und wickelten Geschäfte ab. Nach diversen Zwischen­nutzungen hat der Stararchitekt Rem Koolhaas den prächtigen Renaissancebau nun zum modernen Basar umgebaut.

Seit dem Mittelalter war die Lagunen­stadt das Tor Europas zum nahen und fernen Orient: eine führende See- und Wirtschafts­macht. Davon erzählt Shakespeare in seinem «Kaufmann von Venedig».

Womit wir beim Theater wären – Szenenwechsel.

Vorhang auf!

Eine touristische Minderheit stellt in Venedig das Publikum der Theaterbiennale dar. Dass die Biennale ausser ihren Hauptsparten – Kunst und Architektur – auch Theater-, Tanz- und Musik­festivals veranstaltet, ist wenig bekannt. Kein Wunder: Diese Neben­sparten sind mager dotiert und nur bedingt öffentlichkeits­wirksam. Die Veranstalter haben deshalb aus der finanziellen Not eine Tugend gemacht und die Formel Biennale College lanciert: temporäre Ausbildungs­stätten mit Workshops für den Nachwuchs. Gastspiele von Produktionen aus der ganzen Welt kommen ergänzend dazu, als Fenster nach draussen.

Mit Antonio Latella leitet momentan ein italienischer Regisseur die Theater­biennale, dem ein länder­übergreifendes Netzwerk zur Verfügung steht. Das ist nicht selbstverständlich. Als einer der wenigen in seinem Beruf hat Latella die Möglichkeit, sowohl in Italien als auch im Ausland zu arbeiten (zum Beispiel am Theater Basel). Italien, das Land der Commedia dell’Arte, hält seine Theaterleute knapp. Die Szene schrumpft. Sie bleibt auf sich selbst beschränkt – und auf sich selbst bezogen. Italienische Schauspiel­produktionen schaffen es selten ins Rampen­licht internationaler Plattformen. Der Nachwuchs findet nur ausnahms­weise Anschluss an die globale Theaterwelt.

Für diesen Nachwuchs ist die Theater­biennale ein Segen. In sogenannten Meister­kursen wird hier Regiearbeit vermittelt (dieses Jahr etwa vom Schweizer Thom Luz). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, allesamt U 30, entwickeln Ministücke, die sie zum Abschluss im internen College­rahmen aufführen. Als Auszeichnung winkt die Chance, im Folgejahr eine abendfüllende Produktion zu erarbeiten und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Einer Bubble-Öffentlichkeit aus Profis, die idealer­weise Türen öffnen: Theater­direktoren, Festival­leiter, Regisseure, Kritiker und – nur in diesem Fall ist Gender­parität gewährleistet – Kritikerinnen.

Klassisch statt gesellschaftskritisch

«Cirano deve morire» von Leonardo Manzan und «Saul» von Giovanni Ortoleva waren die diesjährigen Nachwuchs­inszenierungen. Einmal «Cyrano de Bergerac» als Rap-Konzert mit Hoodies, DJ und Strobo-Licht, einmal eine Vater-Sohn-und-Ziehsohn-Geschichte, vom Alten Testament ins Milieu der Rockstars und Hotel­suiten verlegt. Beide Regisseure sind erst 26-jährig. Bei beiden spürt man Kraft, Begeisterung, Formwillen und insgesamt ein Potenzial, das sie hoffentlich weiterbringt. Ihr Hang zu klassisch-bildungs­bürgerlichen Stoffen hingegen erstaunt.

Rap-Konzert mit Hoodies: «Cirano deve morire» von Leonardo Manzan. Andrea Avezzù
Vater-Sohn-Geschichte in der Hotelsuite: «Saul» von Giovanni Ortoleva. Andrea Avezzù

Kein Blick in die gesellschaftliche Realität eines Landes, das unter der Migrations­krise ächzt, in dem sich Rassismus nicht zu verstecken braucht, wo unlängst für den Mord an einem Polizisten via Twitter blitzartig zwei Maghrebiner verantwortlich gemacht wurden – bis sich heraus­stellte, dass der Täter ein halbwüchsiger Weisser aus San Francisco war.

Noch scheint in Italien das Theater seine Rolle als soft power im Kontext der Integrations­praxis nicht entdeckt zu haben. Ein brachliegendes Feld. Denn obwohl gewisse Secondos, siehe oben, zaghaft im Berufs­alltag mitzuspielen beginnen, bleibt die Lage für die Bevölkerung mit Migrations­hintergrund prekär. Sicher, das Off-Theater widmet sich da und dort projekt­weise den Asylsuchenden und Geflüchteten. Aber solche sporadischen Initiativen zählen eher zur Sozial­arbeit: Kultur-NGOs ohne institutionellen Rückhalt.

An der Theater­biennale war es vor Jahren Milo Rau, der zu seinem Workshop illegale Schwarz­afrikaner einlud – Schule machte das Experiment nicht. (Übrigens sind im Lauf der erwähnten Aufräum­aktion die einst allgegen­wärtigen senegalesischen Strassen­verkäufer, aus denen Rau seine Performer rekrutierte, samt ihren gefälschten Marken­handtaschen komplett aus dem Stadtbild verschwunden.) Kurz: Das professionelle junge italienische Theater ist so eurozentrisch wie weiss geblieben. Italy first?

Migranten und Postmigranten

Quasi als Symbol dafür, was anderswo längst passiert, geht der Goldene Löwe in der Theater­kategorie der Biennale Venedig dieses Jahr an den Deutschen Jens Hillje. Er leitet, als Co-Intendant neben Shermin Langhoff, seit 2013/2014 das Berliner Maxim-Gorki-Theater: ein staatlich subventioniertes Haus, das sich die postmigrantische Wirklichkeit erfolgreich auf die Fahne schreibt.

So taucht im Kultur­leben von Venedig das politische Gewissen als Import aus dem Ausland auf. Sichtbarkeit erhält es indessen vor allem an der Biennale Arte. Zum Beispiel dank dem Künstler Christoph Büchel, der im Arsenale seine «Barca Nostra» platzierte. An dem stummen, starken Mahnmal für die Schiff­brüchigen schlendert das Publikum der Theater­biennale Abend für Abend vorbei.

Zur Biennale Teatro 2019

Die Theaterbiennale dauert noch bis kommenden Montag, 5. August. Neben Produktionen aus Australien, Belgien, Chile, Deutschland, Italien und den Nieder­landen war zum diesjährigen Gastspiel­festival der Theater­biennale insbesondere das Maxim-Gorki-Theater Berlin eingeladen. Der Regisseur Sebastian Nübling zeigt zwei Repertoire­inszenierungen: «Es sagt mir nichts, das sogenannte Draussen» von Sibylle Berg (Koproduktion Junges Theater Basel) und «Die Hamletmaschine» von Heiner Müller (mit dem Exil Ensemble des Gorki).

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