Kunst oder Nicht-Kunst: «Barca Nostra» von Christoph Büchel an der 58. Biennale von Venedig. Gianni Cipriano/NYT/Redux/laif

Kunst

Ein grelles Licht auf den Wahnsinn unserer Tage

Christoph Büchel: «Barca Nostra»

Der Basler Künstler stellt auf der 58. Biennale von Venedig das Wrack eines gesunkenen Flüchtlings­schiffs aus. Ist das geschmacklos? Oder politische Kunst?

Von Max Glauner, 24.07.2019

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I. Biennale von Venedig im Juli

Am ersten Juli-Wochenende wütete ein Unwetter über Venedig. Das italienische Kreuzfahrtschiff Costa Deliziosa hätte um ein Haar die Mole an den Giardini gerammt. Die Katastrophe: gerade noch mal vermieden. Einen Steinwurf entfernt befindet sich das Arsenale, der einstige Militärhafen der Serenissima. Er dient als zweiter Ausstellungsort der 58. Biennale von Venedig. Hier liegt der Zeuge einer Havarie auf Böcken, die tatsächlich stattgefunden hat: Christoph Büchels umstrittenes Wrack «Barca Nostra».

Der Bug ragt in den Sommerhimmel. Drei verwitterte Medaillons mit arabischen Schriftzeichen und ein fünfzackiger Stern prangen zuoberst. Ihre Schutzfunktion haben sie nicht erfüllen können. Rechts vom Wrack sind niedere Baracken, ein Café lockt zum Aperol Spritz, dahinter steht ein ausgedienter Lastkrahn auf einem schweren steinernen Sockel. Die meisten Ausstellungs­besucher gehen achtlos am Schiffsrumpf vorüber. Es fehlen die erklärenden Schilder, jeder Hinweis auf ein Kunstwerk, eine Künstlerin.

Dennoch hat kein anderer Beitrag an der 58. Biennale für so viel Aufruhr gesorgt. Schon vor vier Jahren hatte Christoph Büchel es geschafft, Venedig und das ganze rechte Italien auf die Barrikaden zu treiben: In einer profanierten Kirche richtete er eine Moschee ein. Und nun also «Barca Nostra»: ein Kutter, der 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise vor der italienischen Küste gesunken ist und der über 800 Menschen in den Tod gerissen hat.

Zur Geschichte der «Barca Nostra»

Am 18. April 2015 kollidierte der Frachter King Jacob beim Versuch, dem überfüllten Boot zu Hilfe zu kommen, 190 Kilometer vor Lampedusa mit dem Flüchtlingsschiff. Der Fischkutter, von syrischen Schleppern gekauft und von einem Strand bei Tripolis in See gestochen, war für fünfzehn Mann Besatzung ausgelegt. Nach Zeugenberichten waren 700 bis 950 Menschen an Bord, aus Mali, Gambia, Senegal, Somalia, Eritrea, Bangladesh. Durch unsachgemässe Manöver von Kapitän und Steuermann wurde das überladene Schiff nach einer Massenpanik zum Kentern gebracht und riss alle in die Tiefe. Nur 28 Passagiere überlebten.

Die Havarie des im Namen Allahs geweihten Fischerkahns sollte das schwerste Schiffsunglück im Mittelmeer seit Beendigung des Zweiten Weltkriegs sein.

Zunächst hielt man die Bergung des Wracks für überflüssig, die Opfer blieben namenlos, Öffentlichkeit und Angehörige im Ungewissen. Während der damalige italienische Ministerpräsident Matteo Renzi eine Bergung ankündigte, erklärte die italienische Staatsanwaltschaft, diese sei zu kostspielig und für die strafrechtlichen Ermittlungen irrelevant. Ein erster Bergungsversuch aus 370 Metern Tiefe scheiterte – daher rühren die vier Risse in den Bordwänden –, der zweite glückte Ende Juni 2016.

Das Wrack gelangte auf die Nato-Marinebasis Melilli bei Augusta auf Sizilien, wo unter Beteiligung Hunderter Fachleute und Freiwilliger die Identifikation eines Teils der Opfer vorgenommen werden konnte. Was mit dem Wrack zu geschehen habe, war umstritten. Die politische Rechte und Stimmen in der italienischen Regierung forderten eine schnelle Entsorgung des Elendskahns. Der Ministerpräsident liess verlauten, er solle als Mahnmal nach Brüssel geschickt werden. Europa müsse die Verantwortung für den «Skandal der Migration» übernehmen. Dagegen forderten verschiedene Initiativen von Mailand bis Palermo, das Wrack als Mahnmal im öffentlichen Raum zu platzieren, allen voran das kurz nach Überführung des Schiffs gegründete Comitato 18 Aprile 2015, das es ins Zentrum Augustas in einen «Garten der Erinnerung» stellen will. Der Streit verhinderte bislang, dass das Schiff seinen Standort auf dem Militärgelände verlassen konnte.

Der Innenminister und stellvertretende Minister­präsident Italiens, Matteo Salvini, sprach schon vor der Biennale-Eröffnung reflexartig von Propaganda und einer «unzulässigen Einmischung in die Politik Italiens». Das deutsche Kunstmagazin «Monopol» dagegen nimmt in seiner Kritik an der Biennale als Ganzes nur eine Arbeit aus, «Barca Nostra». Ihre Qualität liege gerade darin, dass völlig unklar sei, «ob es nun Kunst ist oder nicht».

Kunst oder Nicht-Kunst? Jedenfalls hat keine andere Arbeit der Biennale das Leitthema Kunst und Politik so wirksam in den Fokus gerückt. Mit seiner kompromisslosen Aktion erinnert Büchel an die Tausende von Opfern, die seit 2015 bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Aber ist das Ausstellen des Unglücks­schiffs nicht pietätlos? Und was für eine künstlerische Strategie steht dahinter? Wer darauf Antworten will, muss sich die Arbeitsweise des aus Basel stammenden Christoph Büchel genauer ansehen. Zum Beispiel in St. Gallen.

II. «House of Friction (Pumpwerk Heimat)»

In der St. Galler Lokremise ist Büchels einzige, dauerhaft erhaltene Installation zu sehen, das bereits 2002 entstandene «House of Friction (Pumpwerk Heimat)». Ursula Hauser präsentierte in der Lokremise bis 2004 ihre Sammlung von Gegenwarts­kunst. Dazu wurde jährlich ein eigens für die Räume geschaffenes Kunstwerk in Auftrag gegeben. Christoph Büchel bespielte den Wasserturm, den ersten Stahlbetonbau der Schweiz aus dem Jahr 1906. Nach dem Abzug der Hauser-Sammlung blieb Büchels Installation geschlossen. Erst 2008 wurde die Arbeit angekauft, in die Trägerschaft des Kunstmuseums St. Gallen überführt, saniert und durch den Künstler erweitert. Seit 2013 steht sie an Sonntagen für jedermann offen.

Auch hier verzichtet der Künstler auf jede Werbung oder Hinweisschilder, einen grösseren Andrang könnte das «House of Friction» ohnehin nicht bewältigen. Die Besucherinnen werden nur einzeln und nacheinander für 30 und 60 Minuten eingelassen. Sie erhalten an der Kasse Instruktionen und einen Schlüssel, steigen über eine Leiter, öffnen in drei Metern Höhe eine Tür – und tauchen ein in Büchels Labyrinth.

Aberwitzig inszenierte Räume: «The House of Friction (Pumpwerk Heimat)», 2013. Stefan Rohner

Eine Herausforderung! Der Künstler schickt sein Publikum über Stiegen, morsche Leitern und Rutschen in eine aberwitzige Folge inszenierter Räume. Die Wirklichkeit erscheint verschoben, surreal, zugleich vertraut und angstbesetzt. Es gelingt der Szenografie, das Vorgefundene – vom Taubenkot bis zum Wassertank – so einzubinden, dass Inszenierung und Wirklichkeit kaum mehr zu unterscheiden sind. Wie Alice im Wunderland steht die Besucherin zunächst vor der Wahl, eine von zwei Türen zu öffnen. Eine ist verschlossen. Die andere durch ein Sofa verbaut. Man zögert drüberzusteigen und findet sich in einem engen, seit langem verlassenen Wohnzimmer: kleinbürgerlicher, längst verstaubter Mief. Letztes Lebens­zeichen, eine «Blick»-Ausgabe vom 13. Dezember 2001, Schlagzeile: «Drama in Dietlikon. Blutbad aus Eifersucht».

Das Kino im Kopf, der Fährtenleser, der Detektiv werden aktiviert. Man steigt von Raum zu Raum in Abgründe und Höhen eines längst vergangenen engen Lebens, das abholt und berührt. Wer beneidete nicht einst die Besitzer einer Autowerkstatt, die am Motorblock eines Opel Manta GSI herumschrauben konnten? Bei Büchel wird dieser Traum zur greifbaren Realität – und zum melancholischen Bild gelebter und doch ungelebter Möglichkeiten.

Was hat das mit «Barca Nostra» zu tun? Beide Werke arbeiten mit «Appropriation»: Der Künstler wählt vorgefundene Objekte aus, arrangiert sie neu und stellt sie in den Kontext der Kunst. In St. Gallen arrangiert Büchel Gebrauchs­gegenstände zu einem Bühnenset, in Venedig transferiert er ein Schiffswrack in den Kunstkontext der Biennale. Sowohl der Wohnungsplunder als auch das geborgene Boot bekommen dadurch eine Aufmerksamkeit, die sie vorher nicht hatten. Sie erhalten für das Publikum eine neue Bedeutsamkeit und die Möglichkeit, Narrative daran festzumachen.

Doch Büchel hält die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Schein offen und fliessend. Seine Arbeiten werden nicht im Sinne Marcel Duchamps, des ersten Gewährsmannes der Appropriations­strategie, kraft Künstlersetzung zu einem Kunstwerk erklärt. Den Arbeiten Büchels fehlt die Signatur, die das Objekt in die Sphäre der ästhetischen Betrachtung hebt. Der Künstler selbst ist nicht anwesend. Er hat sich auch als Erklärer seiner Arbeit seit Jahren vollkommen zurückgezogen.

Die radikale Diskretion setzt den Betrachter frei. Auch hier liesse sich Marcel Duchamp als Gewährsmann nennen. Bloss an ästhetische Oberflächenreize appellierende Werke unterschlagen den wesentlichen Aspekt der Kunst: die Imaginationskraft und das Lesevermögen des Publikums. Büchel produziert kein autonomes Kunstwerk, sondern stellt Situationen her, in denen sich Denkmal und Aktion durchkreuzen. Weder in St. Gallen noch in Venedig gehen die Arbeiten im de facto Gegebenen auf. Die Kunst entsteht im Kopf des Betrachters.

III. Von St. Gallen nach Venedig

Doch zwischen dem introvertierten Kammerspiel in St. Gallen und dem dramatischen Auftritt in Venedig liegt auch eine Werkentwicklung von 17 Jahren. Zu Beginn seiner Karriere, nach einem Kunststudium in Basel, New York und Düsseldorf, verlegte sich Büchel Ende der 1990er-Jahre auf den Bau von lebensnahen, klaustrophoben Interieurs, die die Besucherinnen und Besucher als aktive Mitspieler forderten. In Zürich machte seine mit dem Aktionskünstler Gianni Motti geplante Aktion «Capital Affair» (2002) im Zürcher Helmhaus Furore. Das Ausstellungsbudget von 50’000 Franken sollte im ansonsten leeren Haus versteckt und dem Finder zuerkannt werden. Dazu kam es nicht. Der kurz vorher ins Amt gehobene Stadtpräsident Elmar Ledergerber intervenierte und überwies das Geld an das vom Elbhochwasser geschädigte Dresden.

Verschiedene Welten: Die Künstler Christoph Büchel (links) und Gianni Motti konnten sich 2002 nicht mit dem Zürcher Stadtpräsidenten Elmar Ledergerber (rechts) über «Capital Affair» einigen. Gaechter und Clahsen/Keystone

Wie hätten sich die Besucher verhalten? Das Helmhaus wäre wohl zur Bühne für Aktionisten und Beobachterinnen geworden, in ungewisser Rochade. An solchen Räumen zwischen Wirklichkeit und Kunst baute Büchel weiter. Im Winter 2002 verwandelte er einen Musikkeller im Kunstverein Hannover in eine Gefrierzelle, «Minus». «Tribunal» im Kunstmuseum Basel (2004) zeigte US-amerikanische Verhör- und Gerichtszellen, die man über eine Leiter in der Decke erreichte. «Guantánamo», wiederum mit Motti, zur 51. Biennale von Venedig 2005 oder die Strassenaktion «Salzburg bleib frei» (2006) griffen Reizthemen auf wie das US-Gefangenenlager auf Kuba und den Rechtsradikalismus.

Doch Büchel suchte mit seinen Installationen mehr und mehr auch die konkrete Interaktion. Seine Sets wurden über den Betrachter als Akteur hinaus von realen Darstellern bespielt. Erstmals 2008, als die Installation «Deutsche Grammatik» das Kasseler Fridericianum in eine Shoppingmall verwandelt. Gezeigt wurde eine Kulturinstitution im Abwicklungsprozess: Ein Baustellenplakat vor der Tür kündigte den Umbau zu einer Filiale der Bundesagentur für Arbeit an. Statt den Fundus zu plündern, suchte der Künstler Kollaborations­partner aus der Wirtschaft. Sie bespielten das Haus mit ihrer Logistik und ihren Angestellten. Versicherer boten ihre Dienstleistungen an, eine Supermarktkette präsentierte Schnäppchen, während eine Spielothek, Sportgeräte und Sonnenbänke für Freizeitspass und Entspannung sorgten. Von der Kunst in den Obergeschossen waren nur zertrümmerte Vitrinen übrig.

Im Weiteren lud Büchel zu einer Parteien­messe, auf der sich im Rahmen der «Deutschen Grammatik» politische Vereinigungen von der Linken bis zur AfD und NPD an Ständen präsentieren konnten. Bei den Politwerbern wie den Angestellten an der Kasse handelte es sich weder um Schauspieler noch um «Experten des Alltags», die dem Publikum ihre Geschichten nahebringen wollten. Es waren reale Akteure bei der Arbeit. Büchels Inszenierungen unterbrechen jedes vorgefertigte Narrativ. Es geht um den mündigen Zuschauer.

IV. Kollaboration und Interaktion – vom Swingerclub zur Moschee

Kollaborationen sind im Lauf der Zeit zum treibenden Motor von Büchels Projekten geworden. «Der Kunst ihre Kunst. Der Freiheit ihre Zeit» (2010) in der Wiener Secession, dem Allerheiligsten der K.-u.-k.-Moderne, arbeitete mit einem stadtbekannten BDSM-Swingerclub. Tagsüber war in der Secession das schwüle Sexclub-Ambiente zu besichtigen. Nachts ging es zur Sache.

Das «Piccadilly Community Centre» hingegen bot 2011 Londoner Sozialdiensten Gelegenheit, in den eigens arrangierten Räumen der Galerie Hauser & Wirth Programme durchzuführen. Kochen, tanzen, Gitarre spielen oder an der Bar hängen wurde nun für alle im hochgentrifizierten Zentrum der Stadt angeboten. In «Museumspädagogik» (2013) im Kunstmuseum Herford gestalteten Behinderte zwischen Arno-Breker-Skulpturen Tonfiguren, die Messe «Land of David (AFFBR)» (2014) gab im tasmanischen Berriedale Esoterik­marktanbietern eine Plattform.

Büchels bisher komplexeste Arbeit gelang 2015 mit «The Mosque», dem offiziellen Beitrag Islands zur 56. Biennale von Venedig. Sein Projekt sah vor, dass zum ersten Mal in der Geschichte Venedigs ein islamisches Gebetshaus eröffnet werden sollte. Die Behörden hatten dies den über 3000 Muslimen der Stadt bisher verwehrt. «The Mosque» war ein Lehrstück der Kooperation und Kollaboration.

Eine Moschee als Kunstwerk: «The Mosque», 2015 an der Biennale. Maciej Kulczynski/EPA/Keystone

Büchel hatte mit dem Icelandic Art Institute (IAC) im Rücken eine Vielzahl kommunaler Behörden und kirchlicher Instanzen gewinnen können. Auch die venezianischen Islam­gemeinschaften machten mit. Es gelang, wenn auch nur für kurze Zeit, einen unaufdringlichen Ort der kulturellen Begegnung zu schaffen. Als Teil eines partizipativen Clusters erfreuten sich die Biennale-Besucher des schönen Raums, während die anderen ihr Haupt gen Mekka neigten. Die Behörden schlossen jedoch den isländischen Pavillon bereits nach zwei Wochen wieder – man habe eine Kunstinstallation genehmigt, nicht eine Moschee in Betrieb.

V. Das Boot ist leer

Auch der «Barca Nostra» prophezeiten einige das vorzeitige Ende. Auch diese «Installation» ist eine Falle, ein Ärgernis – ein Artefakt, in dem sich Performanz und Monument durchkreuzen. Das Wrack am Quai des Arsenale erinnert an die über 800 Opfer, die mit ihm ertrunken sind, an ihre nicht gelebten Leben und an das Versagen der europäischen Flüchtlings­politik. Es zwingt zum Nachfragen, zur Rekonstruktion eines Vorgangs, dessen Ungeheuerlichkeit ein grelles Licht auf den Wahnsinn unserer Tage wirft.

Wird der Kahn von den Besuchern auch deshalb ignoriert? Will man nicht allzu direkt konfrontiert werden mit dem Sterben an den Mauern der Festung Europa? Und ist es nicht zynisch, den Kutter wie ein Requisit aus einem Filmset zu präsentieren?

Das wäre der Fall, wenn das Schiff für mehr gehalten würde, als was es ist, ein schäbiger Kahn, ein Sarg für die Namenlosen. Doch Büchels performative Strategie verbietet es gerade, den Kahn zum Kunstwerk zu erklären. Manch einer mag ästhetisch angesprochen werden von der Patina des Schiffsrumpfs oder vom labilen Gleichgewichts­zustand des Kolosses, 21 Meter lang, 17 Meter breit.

Doch jede Betrachterin, jeder Betrachter schweigt vor den rechteckigen Schweisslöchern, durch die, nachdem das Schiff gehoben worden war, die Leichen geborgen wurden. Und woher stammen die vier gewaltigen Risse in der Bordwand? Wie konnte die stützende massive Stahlkonstruktion im vorderen Teil so brachial verbogen werden? Auf diese Fragen erhalten wir vor Ort keine Antwort. Aber der Betrachter wird sie sich beschaffen wollen.

VI. Subversiv und performativ – politische Kunst

Die Form der subversiven Affirmation, die mit «The Mosque» vier Jahre zuvor erprobt worden ist, glückt auch mit «Barca Nostra». Nachdem Büchel zur Biennale eingeladen worden war, begannen lange und zähe Verhandlungen mit Interessenvertretern und Behörden um die Freigabe des Schiffes unter der Flagge der Kunst. Alles musste minutiös geregelt werden, der Transport nach Venedig und die anschliessende Rückführung an die heutige Eigentümerin, die Gemeinde Augusta. Bei «Barca Nostra» handelt es sich also wieder um eine komplexe Intervention, mit der unterschiedliche Interessengruppen zu einem Konsens verpflichtet werden, der auf anderem Weg kaum hätte hergestellt werden können. Diese performative Seite des Projektes durchkreuzt den Bedeutungsgehalt des Wracks als blosses Monument und hebt die Arbeit über viel gut Gemeintes und Bemühtes der Kunstproduktion der letzten Jahre hinaus.

Büchel bevormundet nicht, sondern fordert sein Publikum auf zur Teilhabe, zum Mitdenken, zur aktiven Imagination. Ästhetische Kontemplation liegt ihm ebenso fern wie Propaganda oder blinder Aktionismus. Seine Arbeiten schliessen niemanden aus. Sie sind im emphatischen Sinne egalitär und verstehen sich als Begegnungs- und Konfliktraum der gesellschaftlichen Kräfte, die unsere Wirklichkeit gestalten.

Was will man von politischer Kunst noch mehr erwarten?

Zum Autor

Max Glauner arbeitet als freier Kultur­journalist für den «Freitag», den «Tages­spiegel», die «Frankfurter Allgemeine Sonntags­zeitung», «Frieze.com», «Artforum» und «Kunstforum International». Er lebt in Berlin und Zürich und ist Dozent an der Zürcher Hoch­schule der Künste. Für die Republik schrieb er zuletzt über William Kentridge.

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