Serie «Homestory» – Folge 17

Alles wird gut

Über uninspirierende Liberale lästernd, landen unsere Reporter in einem Tessiner Bergtal. Dort bringt FDP-Nationalrats­kandidat Thomas Kessler bei Prosecco und Polenta deren Weltbild ins Wanken. Wahljahr-Serie «Homestory», Folge 17.

Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Goran Basic (Bilder), 25.09.2019

Wenn wir etwas aus unseren «Recherchen» zu dieser Wahlserie gelernt haben, dann das, dass man bei der FDP immer mit dem Schlimmsten rechnen muss. Der Zürcher Nationalrat Hans-Ulrich Bigler hatte uns an einem regnerischen Nachmittag in der Bar des Zürcher Hotels Schweizerhof jedes Rest­interesse an parlamentarischer Politik verdorben. Mehrere Treffen mit Jung­freisinnigen waren noch enttäuschender. Stundenlang wurden wir mit stumpfem Antikommunismus und hohlen Phrasen über Eigen­verantwortung und Liberalismus zugedeckt von Menschen, die sich so häufig widersprachen, dass sogar wir zwei Freunde der seichten Unter­haltung uns irgendwann intellektuell beleidigt fühlten. Und glauben Sie, liebe Leser, das will etwas heissen.

Bei der FDP waren wir mit unserem Latein am Ende. Doch dank einer doppel­seitigen Übersicht zu den Schweizer Nationalrats­wahlen, die in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschienen war, wurden wir auf den ehemaligen Basler Spitzen­beamten und schweizweit bekannten Berater Thomas Kessler aufmerksam, der mit einer «hyperaktiven Social-Media-Kampagne» versuche, in Basel-Stadt einen Sitz im Nationalrat zu ergattern. «Hyperaktiv»? Mit diesem Köder hatte man uns natürlich leicht an der Angel.

Wir treffen Kessler im beschaulichen Tessiner Bergdorf Loco im Caffè della Posta, wo er sich, wie es sich für einen Gentleman gehört, bereits zur Mittags­stunde ein frisch gezapftes Bierchen gönnt.

«Die Schweiz muss das Freihandels­abkommen mit den Mercosur-Staaten nachverhandeln»: FDP-Politiker Thomas Kessler.

Wir sind topfit, als wir Kessler treffen. Einen Abend zuvor durften wir die freudige Erfahrung machen, dass man den leichten, süffigen Tessiner Merlot flaschen­weise runter­spülen kann, ohne den kleinsten Kater zu kriegen. Im Gegenteil. Durch und durch vitalisiert, wähnten wir zwei Philosophen uns in einer direkten denkerischen Traditions­linie mit Nietzsche, als wir im Postauto durch das Onsernonetal Richtung Loco tuckerten und bei uns wahre Höhenluft­gedanken aufkamen.

Bei einem weiteren Bier und Polenta mit Steinpilzen erzählt uns der gelernte Landwirt und studierte Agronom – von 1987 bis 1991 Kantonsrat für die Zürcher Grünen, in den Neunzigern dann parteiloser Drogen­beauftragter der Stadt Basel, später ebendort und bis 2017 Stadtentwickler –, warum zur Hölle wir ihn in einem Tessiner Bergdorf treffen.

«Weil ich hier oben eine Biodiversitäts­alp habe», sagt der FDP-Nationalratskandidat.

«Biodiversitäts ... was?», sagen wir.

«Ich verkehre schon seit zwanzig Jahren in dieser Region. Vor drei Jahren habe ich mit meinem Bauern­schein diese Alp gekauft. Sehen Sie die Berge? Alles ist voll mit Wald. Das war nicht immer so. Aber seit in den Siebzigern die Menschen in grossen Massen das Tal Richtung Locarno verliessen und die Geissen­wirtschaft aufgaben, hat sich die Natur innert kürzester Zeit den Raum zurück­geholt. Ideal für die Biodiversität ist allerdings eine Mischung zwischen Wald und Wiese. Darum zahlt der Staat auch Geld, wenn man hier abholzt. Das mag für Sie merkwürdig klingen. Städter meinen häufig, je mehr Wald, desto besser. Aber die Vielfalt macht es aus. Ich verzichte auf die Subventionen, weil ich nicht von der Land­wirtschaft lebe.»

Serie «Homestory»

Zwei seriöse Republik-Reporter touren kreuz und quer durch die Schweiz und suchen Politikerinnen heim. Sie wollen die Demokratie retten … obwohl, nein, eigentlich wollen sie sich vor allem betrinken und dass die Politiker sie nicht mit Floskeln langweilen. Das ist «Homestory» – die Wahljahr-Serie. Zur Übersicht.

Folge 3

Pro­te­stan­ti­sche Disziplin, ka­tho­li­scher Genuss

Folge 4

Lust for Life

Folge 5

Highway to the Danger Zone

Folge 6

Und täglich grüsst das Murmeltier

Folge 7

Like a Prayer

Folge 8

Black Hawk Down

Folge 9

Brokeback Olten

Folge 10

Kommando Leopard

Folge 11

In einem Land vor unserer Zeit

Folge 12

Straight White Male

Folge 13

When the Man Comes Around

Folge 14

Die Posaune des linksten Gerichts

Folge 15

Guns N’ Roses

Folge 16

Wir Sonn­tags­schü­ler des Li­be­ra­lis­mus

Sie lesen: Folge 17

Alles wird gut

Folge 18

Höhenluft

Folge 19

Im Osten nichts Neues

Folge 20

Here We Are Now, Entertain Us

Wir bezahlen das Mittag­essen und laufen durch das Dorf, und Kessler zeigt uns, wo Alfred Andersch begraben liegt und Golo Mann gewohnt hat. «Es ist das Archaische dieser Gegend, das diese Schrift­steller angezogen hat», sagt er, und wir laufen auf einem schmalen Weg einen steilen Berghang hoch mit Kastanien und Birken, und immer wieder überqueren wir kleine Bergbäche. An einer Weg­gabelung sagt Kessler, dass, wenn wir hier rechts gehen würden, wir zum Ort kämen, wo Max Frischs Roman «Der Mensch erscheint im Holozän» spielt. Nach einstündigem Marsch durch den Waldhang gelangen wir auf eine grosse Wiese, auf deren Mitte ein kleines Steinhaus steht. Kesslers Alp.

«Städter meinen häufig, je mehr Wald, desto besser»: Blick aus einem lokalen Versorgungs­helikopter für Tessiner Berg­häuser auf Kesslers Alp.

Wir sitzen auf der frisch gemähten Wiese, und Kessler erzählt uns, wie er hier eigenhändig abgeholzt hat und regelmässig mäht und was es dabei zu beachten gilt und wie er einmal mit der Mäh­maschine einige Meter tief abgestürzt ist. Die Maschine knallte den Hang hinunter und konnte nur mit einem Helikopter geborgen werden. Kessler war in den riesigen Ginster­büschen hängen geblieben, und nur deshalb lebt er überhaupt noch.

Wir fragen uns, ob Thomas Kessler in einer verkehrten Welt lebt. Früher Mitglied bei den Grünen, verbringt er den Sommer mit Landschafts­pflege auf seiner Biodiversitäts­alp, doch ausgerechnet jetzt, wo das Umwelt­thema so populär ist wie seit dem Wald­sterben nicht mehr, möchte er für die FDP, von der Klima­jugend als Abkürzung für «Fuck de Planet» verhöhnt, in den Nationalrat. «Haben Sie auf das falsche Pferd gesetzt, Herr Kessler?»

«Nein, das habe ich nicht. Ich bin kein Opportunist», sagt er. «Die Basler FDP war immer ökologisch. Das Umwelt­papier der FDP Basel habe ich verfasst. Es ist ein grünes Papier. National verstehe ich die Kritik. Herr Wasserfallen, wie der über Umwelt­themen kommuniziert hat: konservativ, überhaupt nicht innovativ und politisch ungeschickt.»

«Und jetzt auf Grün machen – ist das glaubwürdig?»

«Der jetzige Kurs, den Petra Gössi eingeschlagen hat, ist eine Korrektur. Die FDP kommt auch auf eine progressive Linie. Das ist ein Lern­prozess. Dafür erntet man anfangs natürlich zuerst einmal Hohn und Spott.»

Wir versuchen mit Kessler über die soziale Komponente der Umwelt­frage zu sprechen, doch unmöglich. Er klemmt ab. Der Freisinnige denkt in rein markt­wirtschaftlichen Kategorien: Innovation. Technologie. Fortschritt. Industrie 4.0.

«Ich verstehe nicht, warum die FDP im Bereich Umwelt derart defensiv ist», sagt er. «Sie müsste eigentlich viel weiter gehen als die Grünen. Die Schweiz als Tüftler­land lebt von der Innovation. Je besser unsere Produkte sind und unsere Technologien, je fitter die ETH ist, je schneller unsere KMU Sonnen­strom in Kraftstoffe umwandeln, je eher wir unseren Energie­bedarf komplett durch Solar­strom decken, was ja längst möglich wäre, umso besser geht es dem Land, der Wirtschaft und der Umwelt.»

Das Problem sei: Beim Thema Umwelt werde es immer ganz schnell religiös. «Die Leute haben zu einzelnen Energie­trägern eine regelrecht emotionale Bindung», sagt er. «Die Atom­freunde. Oder die Freunde des Verbrennungs­motors. Beispiel Deutschland: Die lassen sich bei den Wasserstoff­motoren, wo sie selbst in den letzten zwei Jahren ganz entscheidende Fortschritte erzielt haben, den Rang ablaufen von China oder Japan. Toyota geht dank deutschem Erfinder­geist 2025 serienmässig in die Wasserstoff­motoren­produktion. Und die Deutschen? Verpennen es aus kulturellen Gründen. Die Asiaten sind mit Wasserstoff­fahrzeugen viel weiter, weil sie keinen romantischen Bezug zum Verbrennungs­motor haben. Sie wollen einfach das Beste und das Neuste.»

Wir gratulieren Thomas Kessler zum «Klima­notstand» in Basel-Stadt, und er sagt, damit habe er nichts zu tun, im Gegenteil, er halte die Ausrufung eines solchen Notstandes für billig. «Je ernster ein Thema ist, desto ruhiger sollte man es angehen», sagt er. «Wenn es brennt, fährt die Feuer­wehr nie schneller als 40. Denn dann kommt sie auch an. Wenn man die Umwelt ernst nimmt, muss man das Ganze betrachten, nicht nur den CO2-Ausstoss. Sondern auch die Biodiversität. Die Vergiftungen. Die Vermüllung. Um CO2-Ausstoss herunter­zufahren, haben wir Technologien. Aber wir sind nicht in der Lage, unseren eigenen Dreck zu entsorgen. Das ist ein Skandal. Der Rhein, die Meere: alles voller Müll. Auch das muss man mitdenken, wenn man von Umwelt­politik spricht. In der Bundes­verfassung steht, dass die Land­wirtschaft für die Erhaltung der natürlichen Lebens­grundlagen zu sorgen hat. Das muss man auch einfordern.»

Wir fragen Kessler, wie er das einfordern wolle, und er sagt, man müsse die Subventionen an die Nachhaltigkeit binden. Man müsse die Bauern vom Produktions­druck entlasten. Es sei doch völlig sinnlos, Futter­mittel in die Schweiz zu schaffen, um hier die Tier­bestände zu ernähren, die zu gross für den Boden seien. Die Schweiz habe doppelt so viele Kühe und Schweine, wie der Boden tragen könne. «Wenn man die Direkt­zahlungen erhöht und an Nachhaltigkeit bindet, können alle Höfe nachhaltig ökologisch produzieren», sagt Kessler. «Konventionelle Landwirtschaft vernichtet unsere Biodiversität. Ein durchschnittlich konventioneller Bauern­betrieb – die dort bewirtschafteten Flächen – steht in Sachen Diversität nahe bei null. Die Biodiversität ist heute in einer Stadt grösser als auf dem Land.»

Wir sind leicht zu begeistern. In unseren fachunkundigen Ohren klingt Kesslers Optimismus wie Weihnachten, Neujahr und Ostern zusammen. Dennoch fragen wir ihn, ob seine Partei mit der Befürwortung des Freihandels­abkommens mit den Mercosur-Staaten nicht generell eine nachhaltige Umwelt­politik sabotiere.

«Solche Verträge schreiben eine Nachhaltigkeits­klausel vor», sagt das FDP-Mitglied. «Selbst­verständlich muss die Schweiz dort Verbindlichkeiten einbauen. Es dürfen nur Produkte von Zöllen entlastet werden, bei denen nachgewiesen ist, dass sie nachhaltig angebaut wurden. Sonst geht das nicht. Sonst ist es zu schwach. In der Ankündigung steht es zwar drin. Aber sind Kontrolle und Vollzug wirklich garantiert? Die Schweiz muss nachverhandeln.»

Zu lange auf dem Trockenen gesessen. Wie ein Verbrennungs­motor brauchen auch wir zwei Qualitäts­journalisten Kraftstoff: Alkohol. Kessler erweist sich als Top-Gastgeber und serviert eiskalten Prosecco. Wenn wir in Basel wahlberechtigt wären, würden wir ihn schon nur deshalb sofort wählen.

Kessler hält Petra Gössis Kurs für eine Korrektur: «Die FDP müsste eigentlich viel weiter gehen als die Grünen.»

Kessler, einst Drogen­beauftragter, einst Stadt­entwickler, Spezialist für Land­wirtschaft – ein Mann der tausend Mandate. Er scheint zu allem etwas zu sagen zu haben. «Was interessiert Sie denn sonst noch besonders?», fragen wir Kessler, der Prosecco nachschenkt. «Ich äussere mich gerne pointiert zum Thema Sicherheit», sagt er, und wir schlucken leer. Was kommt jetzt? Allen Menschen Computer­chips einpflanzen? Totale Kamera­überwachung des öffentlichen Raums? Gefängnis­strafe für Bei-Rot-über-die-Ampel-Gehen? Zu negativ vorbelastet ist unser Bild der FDP-Sicherheits­politik, seit die Grande Dame der Repression, Bundes­rätin Karin Keller-Sutter, unsere geliebte Heimat in einen Überwachungs­staat umpflügt. Doch zu unserem Glück erzählt uns Kessler nur kurz von einer Radikalisierungs-Taskforce, die er mal geleitet hat, und dann landen wir zu unserem eigenen Erstaunen sehr bald in Rojava.

«In Basel leben viele Kurden. Deswegen habe ich mich vertieft mit dem Projekt Rojava in Nordsyrien auseinander­gesetzt», sagt Kessler, der irgendwann auch noch Basler Integrations­beauftragter war. «Es ist ein wahnsinnig interessantes Experiment. Rojava ist der einzige Ort in diesem furchtbaren Konflikt­gebiet, wo Menschen­rechte eingehalten und Gefangene anständig behandelt werden. Ideologisch orientieren sie sich an einer Mischung aus Anarchismus, Ökofeminismus und dem Schweizer Föderalismus.»

Er habe in Basel an Pro-Afrin-Demonstrationen teilgenommen, als die Türkei völkerrechts­widrig dort einmarschiert sei. «In meiner persönlichen Utopie ist Ökoanarchismus der absolute Verantwortungs­kreislauf», sagt Kessler. «Dass sich jeder so verhält, wie er behandelt werden möchte. Für diese Menschen, die versuchen, eine hierarchie­freie und ökologisch-feministische Gesellschaft umzusetzen, habe ich grössten Respekt. Ich habe darüber vergangenes Jahr lustiger­weise in der ‹Weltwoche› einen Artikel geschrieben mit dem Titel ‹Oase der Hoffnung›. Meine kurdischen Bekannten haben mich dafür gelobt, aber auch gesagt, leider könnten sie den Artikel nicht verlinken, weil er halt in der ‹Weltwoche› stehe.»

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Pro­te­stan­ti­sche Disziplin, ka­tho­li­scher Genuss

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Und täglich grüsst das Murmeltier

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Die Posaune des linksten Gerichts

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Wir Sonn­tags­schü­ler des Li­be­ra­lis­mus

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Höhenluft

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Im Osten nichts Neues

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