Was diese Woche wichtig war

Johnson nimmt sich Zeit, Salvini hat verloren, die Migros streitet – und die Top-Storys

Woche 35/2019 – das Kurzbriefing aus der Republik-Redaktion.

Von Philipp Albrecht, Christian Andiel, Ronja Beck und Oliver Fuchs, 30.08.2019

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Premierminister Johnson setzt auf Konfrontation

Darum geht es: Shots fired – der neue Premier­minister Boris Johnson verordnet dem britischen Parlament eine Zwangspause. Am Mittwoch liess er von der Queen eine sogenannte Prorogation von fünf Wochen anordnen. Die Abgeordneten werden nach der Sommer­pause nur kurz tagen – dann wird der Betrieb wieder ausgesetzt. Die Pause soll bis zum 14. Oktober dauern, zwei Wochen vor dem Datum, an dem Gross­britannien aus der EU ausscheiden soll. Parlaments­sprecher und Opposition kritisierten das Manöver scharf. Sie sprachen wahlweise von einem «verfassungs­rechtlichen Skandal», einer «Kriegserklärung» und von einem «Angriff auf die Demokratie». Eine (symbolische) Petition gegen die Prorogation bekam innert Stunden über eine Million Unterschriften.

Proteste gegen Boris: EU-Befürworter vor dem britischen Parlament (28. August). Peter Summers/Getty Images

Warum das wichtig ist: Vorderhand ist die Prorogation ein normaler Vorgang – und als solchen stellt sie Johnson auch dar. Er wolle in der Zeit ein umfassendes Regierungs­programm ausarbeiten und weiter mit der EU verhandeln. Nur ist diese Pause mit fünf Wochen ausser­gewöhnlich lang – und fällt in eine extrem delikate Zeit. Kritiker werfen dem Premier­minister vor, damit faktisch die parlamentarische Demokratie ausser Kraft zu setzen. Denn so bleibt den Abgeordneten kaum noch Zeit, auf Johnsons Brexit-Kurs einzuwirken. Johnson dürfte darauf spekulieren, dass er in der Zeit einerseits die EU zu Zugeständnissen beim Austritts­vertrag bringen kann. Und dass andererseits die Abgeordneten Ende Oktober dermassen unter Zeitdruck stehen, dass sie den Vertrag durchwinken. Gemäss dem «Guardian» hätte das Parlament im Oktober gerade noch zwei Tage Zeit, einem Austritts­vertrag zuzustimmen.

Was als Nächstes geschieht: Die Oppositions­parteien haben sich Anfang Woche darauf verständigt, einen Brexit ohne Austritts­vertrag um jeden Preis zu verhindern. Sie wollen Johnson per Gesetz zwingen, das Austritts­datum zu verschieben, sollte vor dem 31. Oktober kein Vertrag mit der EU zustande kommen. Weiter kündigte der Chef der oppositionellen Arbeiter­partei an, die Regierung notfalls mit einem Misstrauens­antrag zu Fall zu bringen. Wenn das Parlament nächste Woche tagt, wird sich zeigen, wie schlagkräftig und geeint die Opposition tatsächlich ist. Gut möglich, dass Johnson weitere Manöver plant, um seinen Kurs durchzudrücken. «Buzzfeed» berichtete über eine ganze Reihe weiterer Planspiele. Zum Beispiel, dass sich die Regierung überlegt, einen neuen Feiertag einzuführen, um das Parlament vom Tagen abzuhalten. Aus Regierungs­kreisen war beispiels­weise bereits zu hören, dass Johnson einen verlorenen Misstrauensantrag einfach bis nach dem 31. Oktober aussitzen würde. Die Folge wäre ein automatischer EU-Austritt ohne Vertrag. Spätestens dann befände sich das Land in einer schweren Verfassungskrise.

Italien hat die Lösung, Salvini die Schmach

Darum geht es: Die Populisten der Cinque Stelle und die Sozial­demokraten des Partito Democratico (PD) schliessen sich zu einer Koalition zusammen. Das gab Luigi di Maio, Parteichef der Cinque Stelle, am Mittwoch bekannt. Minister­präsident von Italien bleibt der parteilose Giuseppe Conte. Damit bekommt das Land mitten in der Legislatur eine neue Regierung. Innen­minister Matteo Salvini hatte Anfang August die Regierungs­koalition seiner Lega mit der Cinque Stelle aufgekündigt und Italien damit in eine politische Krise gestürzt.

Er darf Ministerpräsident bleiben: Giuseppe Conte spricht nach der Bestätigung zu den Medien. Antonio Masiello/Getty Images

Warum das wichtig ist: Neue Koalition, keine Neuwahlen und Salvini aussen vor: Der Plan des rechts­extremen Innen­ministers, seine Lega an die Macht zu bugsieren, ist diese Woche endgültig zerplatzt. Salvini – obwohl bei der letzten Umfrage vor der Krise bei überragenden 39 Prozent – verliert damit nicht nur seinen Posten als Innen­minister und Vizepremier, er wird auch in die Opposition gedrängt. Cinque Stelle und PD, seit je verfeindet und ideologisch oft weit auseinander, konnten so in letzter Sekunde eine Rechtsaussen-Koalition verhindern, wie sie Salvini anstrebte. Dem Beschluss vom Mittwoch gingen tagelange Verhandlungsrunden voraus, welche die Gräben zwischen den Parteien aufzeigten. Eigentlich hatte Staats­präsident Sergio Mattarella bis Dienstag einen Entscheid gefordert. Doch weil die Gespräche harzten, verlängerte er die Frist bis Mittwoch. Dass es zu einer Einigung kommt, blieb bis zuletzt fraglich. Zumal sich Nicola Zingaretti, Partei­sekretär der Demokraten, bis vor kurzem noch weigerte, eine Regierung mit Conte als Chef zu bilden. Eine Kehrt­wende brachte nun doch den Abschluss der Verhandlungen. Gestern Morgen wurde Conte von Staats­präsident Mattarella offiziell beauftragt, die neue Regierung zu bilden.

Was als Nächstes geschieht: Mit der neuen Koalition stellt sich Italien die grosse Frage: Wie lange hält sie dieses Mal? Hat das ungleiche Bündnis gegen rechts eine Chance, bis zu den Parlaments­wahlen 2023 zu bestehen? Sollte auch diese Regierung zerbrechen, könnte das Salvini doch noch den Auftrieb geben, auf den er ursprünglich hinarbeitete. Ebenso offen ist zum jetzigen Zeitpunkt die Personal­frage. Diese wird Minister­präsident Conte die nächsten Tage beschäftigen. Die Bündnispartner hatten sich schon im Vorfeld der Entscheidung um die Postenvergabe gestritten.

«Krieg» bei der Migros

Darum geht es: Der grösste private Schweizer Arbeit­geber wird von einem heftigen juristischen Streit durch­gerüttelt. Die Migros-Zentrale in Zürich wirft dem Präsidenten der regionalen Genossenschaft Neuenburg-Freiburg vor, sich unrecht­mässig bereichert zu haben. Dies wurde im Juli öffentlich. Damien Piller soll beim Bau zweier Migros-Filialen über zwei Immobilien­firmen 1,7 Millionen Franken abgezweigt haben. Die Migros reichte Strafanzeige ein. Piller reagierte mit einer Klage wegen Verleumdung und Irreführung der Justiz. Am Dienstag zitierte er vor Medienvertretern einen Bericht, den er beim Genfer Steuer­anwalt Alan Hughes bestellt hatte. Demnach gebe es keine Beweise für eine illegale Bereicherung. Allerdings ist der Bericht noch gar nicht fertig­gestellt. Und Hughes selber machte deutlich, dass er einen Interessen­konflikt Pillers noch nicht ausschliessen könne. Mithilfe von vier zusätzlichen Experten will er nun weitere Unter­suchungen anstellen. Die Migros-Zentrale schweigt mit Verweis auf das laufende Verfahren zum Streitfall.

Warum das wichtig ist: Die Auseinander­setzung – Piller spricht gar von einem «Krieg» – legt die grösste Schwäche des Gross­verteilers offen: seine Struktur. Die Migros ist genossenschaftlich organisiert. Zehn eigenständige regionale Einheiten besitzen den Genossenschafts­bund (MGB) mit Sitz in Zürich. Dessen Chef Fabrice Zumbrunnen will die Struktur überarbeiten, um den Konzern mit über 100’000 Angestellten flexibler zu machen. Experten warnen seit Jahren, dass die Migros mit ihrer veralteten Struktur langfristig nicht gegen die Konkurrenz aus dem Ausland bestehen könne. Doch die meisten Genossenschaften wehren sich dagegen. (Wir haben die Migros und ihre Struktur in einer dreiteiligen Serie durchleuchtet.) Die Genossenschaften sind komplett autonom, mit eigenem Verwaltungs­rat und eigener Geschäfts­leitung. Amtszeit­beschränkungen existieren nicht. Mehrere Führungs­persönlichkeiten sind schon länger als ein Vierteljahrhundert im Amt. Anpassungen in der Führungs­struktur werden stets abgelehnt. Auch Piller, der haupt­beruflich als Rechtsanwalt tätig ist und sich selber als Förderer von Fabrice Zumbrunnen bezeichnet, ist schon seit 1996 in Neuenburg Präsident.

Was als Nächstes geschieht: In spätestens vier Wochen soll der endgültige Piller-Bericht vorliegen. Ob ihn dieser im Rechts­streit mit dem MGB entlastet, ist alles andere als sicher. Beide Parteien richten sich offenbar auf einen jahrelangen Streit ein, der bis vor Bundes­gericht weitergezogen werden könnte. Nicht ganz unmöglich wäre jedoch, dass sich die Streit­hähne vorher in einem Vergleich einigen könnten. Dafür spricht die Tatsache, dass sich die Geschäfts­leitung der Genossenschaft Neuenburg-Freiburg auf die Seite des MGB gestellt hat. Je stärker der Konflikt in der Öffentlichkeit ausgetragen wird, desto grösser sind die Chancen, dass man sich intern zusammenrauft.

Pharmakonzern wegen Opiate-Krise gebüsst

Darum geht es: Am Montag verurteilte ein Gericht im US-Bundesstaat Oklahoma den Konzern Johnson & Johnson und eine Tochter­unternehmung zu einer Schadenersatz­zahlung. Sie hätten dazu beigetragen, dass Menschen von stark süchtig machenden Schmerzmitteln abhängig wurden. Diese sogenannten Opiate sind zudem bei einer Überdosis schnell tödlich. Die Strafe fiel allerdings deutlich tiefer aus, als von der Staats­anwaltschaft gefordert: statt 17 Milliarden Dollar nur rund 572 Millionen. Der Aktienkurs des Unternehmens legte nach der Urteilsverkündung denn auch kräftig zu. Johnson & Johnson will das Urteil in nächster Instanz anfechten.

Warum das wichtig ist: Es ist das erste Mal, dass ein Pharmakonzern für seine Rolle in der Opiate-Krise gerichtlich verurteilt wurde. Anfang Jahr einigten sich zwei weitere Pharma­konzerne ausser­gerichtlich mit der Bundesstaats­anwaltschaft von Oklahoma. Unterdessen ist gut belegt, dass Pharma­konzerne seit den 1990er-Jahren solche Medikamente stark beworben und das Abhängigkeits­risiko bewusst herunter­gespielt haben. In der Folge verschrieben Ärzte solche Medikamente immer öfter – und Patienten unterschätzen die Abhängigkeits­gefahr. Allein im Jahr 2017 starben nach Schätzungen der Behörden um die 70’000 Menschen in den USA an einer Überdosis – zwei Drittel davon wegen Opiaten. Das sind mehr Tote in einem Jahr, als US-Soldaten während des ganzen Vietnamkrieges und des Irakkrieges getötet wurden. Zwar stehen diese Todes­fälle zunehmend in Verbindung mit illegal gehandelten Opiaten wie Heroin oder Fentanyl, aber Experten sehen das als direkte Folge der Welle an Schmerzmittel-Verschreibungen.

Was als Nächstes geschieht: Das Urteil könnte einen Dammbruch bedeuten. Landesweit sind über 2000 Klagen gegen Hersteller und Verbreiter von Opiaten hängig. Die meisten dieser Verfahren wurden durch lokale und nationale Behörden eingereicht, die mit den Schadenersatz­zahlungen den Kampf gegen die Opiate-Krise finanzieren wollen.

Zum Schluss: Pack deine Koffer, Jakarta!

Bern, wir wissen es, hat keine schöne Zukunft. Unsere Hauptstadt wird im Sommer bald so heiss sein wie Mailand. Bei diesen Temperaturen würde plötzlich alles sehr langsam gehen, im und ums Bundeshaus. Warum die Stadt nicht einfach verlegen, an frischen Berges­höhen fehlt es nicht. Aber im Ernst: Wer verschiebt schon eine Hauptstadt? Indonesien. Bereits im kommenden Jahr sollen die Bauarbeiten beginnen, 1000 Kilometer entfernt von der aktuellen Kapitale Jakarta. Diese soll entlastet werden, die Stadt erstickt als politische und wirtschaftliche Metropole, die Luft ist katastrophal, das Trinkwasser ist knapp, der Raum sowieso, Jakarta senkt sich zum Teil 25 Zentimeter pro Jahr ab. Also ein Inselhopping der besonderen Art, mit Hauptstadt im Gepäck, von Jakarta auf Java nach Kalimantan Timur auf Borneo. Präsident Joko Widodo legt den Entscheid schon bald dem Parlament vor. 40’000 Hektaren werden verbaut, 2024 sollen die ersten von insgesamt 1,5 Millionen Staats­angestellten (mit Familien) umziehen. Die Bedenken von Umwelt­schützern wegen des Regen­waldes und des Lebens­raums für Orang-Utans auf Borneo kennt der Präsident, er sagt, man werde diese Gebiete schützen oder neu aufforsten. Indonesien ist nicht das erste Land, das sich seine Hauptstadt neu baut: Australien konnte sich nicht zwischen Melbourne und Sydney entscheiden, also wurde 1913 mit dem Aufbau von Canberra begonnen; Brasiliens Kapitale Brasília entstand in den 1950er-Jahren auf dem Reissbrett; 2005 ersetzte Naypyidaw in Burma Rangun als Hauptstadt. Wenn wir eine Empfehlung abgeben dürfen: Die deutsche Hauptstadt Berlin wandert vom Norden nach Oberbayern, ins Erdinger Moos. Der Grund: Dort gibts einen Flughafen.

Übrigens …

Es ist eine Art Gastfreundschaft der besonderen Art. Als die Berner Young Boys am vergangenen Dienstag in Belgrad zum Auswärts­spiel in der Qualifikation zur Champions League antraten, wartete vor dem Stadion ein Panzer. Initiiert hatte diese Idee offenbar ein Fanclub von Roter Stern, dem (letztlich sportlich erfolgreichen) Gegner von YB. Auf die Anfrage beim europäischen Fussball­verband (Uefa), was er von einer derartigen Aktion halte, kam die Antwort: «Der Panzer vor dem Stadion ist kein Problem, solange nicht damit geschossen wird.» Vielleicht sollten die Young Boys froh sein, dass sie das 2:1 und damit die Qualifikation für die Champions League nicht geschafft haben. Möglicher­weise hätte ihnen das Probleme bereitet.

Top-Storys

Produktpiraterie Hängt bei Ihnen an der Garderobe ein bunter, rechteckiger Rucksack von Fjällräven? Der Rucksack ist ein Klassiker – der zigfach billig kopiert wird. 500 Milliarden Dollar Umsatz werden wohl jährlich mit gefälschten Produkten gemacht. Reporterinnen des ARD-Magazins «Panorama», der «Zeit» und von «NDR Info» verfolgen den Weg eines Fake-Rucksacks von Deutschland zurück nach China – und decken dabei die Milliarden­industrie der Produkt­piraterie auf. Hier geht es zur Recherche «Die Fälscher».

Kampfzone Kultur Die neue Rechte in Deutschland versucht seit Jahren, das Kultur­angebot zu manipulieren oder zu diskreditieren. Eine Recherche von ARD und «Süddeutsche Zeitung» hat 40 Fälle dokumentiert und präsentiert sie in einer erschreckenden Chronik.

Ay Caramba! Zwei Schweizerinnen haben Shot für Shot eine Szene aus einer «Simpsons»-Folge nachgestellt. Und auch wenn es sich um eine neuere Folge handelt und die ja bekannter­massen sehr schlecht sind, ist das Video doch sehr gelungen. Und mittler­weile natürlich auch viral.

Burning Earth Der Regenwald im Amazonasgebiet brennt, diese Meldung ging vergangene Woche um die Welt. Das ist für sich genommen schon genug schlimm, und doch nicht die ganze Wahrheit. Wo es sonst noch brennt auf der Erde, offenbart FIRMS, das Portal der Nasa, das Feuer via Satelliten in Beinahe-Echtzeit anzeigt.

Was diese Woche wichtig war

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