Auf lange Sicht

Das Ende der Zins­illusion

Bald steigen die Zinsen: So mancher Ökonom predigte dies in den letzten Jahren. Doch dies war Wunschdenken. Ein Streifzug durch sechs Länder zeigt, warum.

Von Simon Schmid, 12.08.2019

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Firmengewinne, Anlegerängste, Wachstum und Inflation: In den Renditen auf US-Anleihen kommt alles zusammen. Sie sind der wichtigste Indikator für den Zustand der Welt­wirtschaft – die Synthese aller anderen Kurven.

Manche Kommentatorinnen prognostizierten über die Jahre: Bald geht diese Kurve nach oben! Passiert ist das Gegenteil: Das bedeutsamste Barometer der Welt­wirtschaft ist gefallen. Die Renditen auf 10-jährige US-Staats­anleihen stehen aktuell gerade einmal bei 1,7 Prozent – und damit nur wenig über dem Langzeittief von 1,4 Prozent, das sie im Juli 2016 erreicht hatten.

Keine Spur von hohen Zinsen

Renditen auf 10-jährige Staatsanleihen der USA

Achse gekürzt201220142016201820201,7 %1234 %

Quelle: investing.com. Letzter Datenpunkt: 9. August 2019.

Diese Entwicklung ist bemerkenswert. Denn sie offenbart eine Diskrepanz zwischen dem ökonomischen Denken und der Wirklichkeit.

  • Die vorherrschende Meinung seit der Finanzkrise lautet: Wir stecken in einer Ausnahme­situation; bis in einigen Jahren normalisiert sich die Lage, und die lang­fristigen Zinsen steigen wieder auf die gewohnten Niveaus, also auf 4 oder 5 Prozent – es ist alles nur eine Frage der Zeit.

  • Die Realität ist: Die Zinsen wollen einfach nicht steigen; die vermeintliche Ausnahme­situation seit der Finanz­krise entpuppt sich als Dauer­zustand, die 10-Jahres-Renditen kletterten in den USA nicht dauerhaft über 2 Prozent hinaus und blieben in anderen Ländern sogar noch niedriger.

Wenn dem so ist, müssen wir uns hinterfragen. Wie ist dieser Dauer­zustand beschaffen, diese neue Tiefzins­welt? Warum steigen die Renditen nicht?

Furcht

Ein wichtiger Grund führt uns in die Schweiz – dorthin, wo die Renditen auf 10-jährige Staats­anleihen soeben auf einen neuen Minus­rekord gefallen sind: auf -0,9 Prozent. Ein solcher Zinssatz unter null ist etwas Sonderbares: Würde der Staat einen Kredit aufnehmen, dann müsste er dafür keine Zinsen bezahlen, sondern erhielte von Investoren umgekehrt einen Zins bezahlt.

Neuer Minusrekord

Renditen auf 10-jährige Staatsanleihen der Schweiz

20122014201620182020−0,9 %−1012 %

Quelle: investing.com. Letzter Datenpunkt: 9. August 2019.

Dass Anlegerinnen bereit sind, ihr Geld zu derartigen Konditionen einem Gläubiger zu überlassen, hat letztlich nur einen Grund: die nackte Angst – davor, dass es an der Börse noch einmal zu einem grossen Crash kommt, mit einer weltweiten Rezession, mit Zahlungs­ausfällen und Staatsbankrotten.

Diese Angst ist auch zehn Jahre nach der Finanz­krise noch nicht verflogen, obwohl die Wirtschaft in den meisten Ländern zuletzt mehr oder weniger stetig gewachsen ist und obwohl – oder vielleicht auch: weil – die Aktien­märkte in vielen Welt­regionen auf recht hohen Ständen notieren.

Die Schweiz als sicherer Hafen verspricht einen gewissen Schutz gegen ein solches Szenario. Dass viele Anleger ihr Heil derzeit im Franken suchen, ist ein untrügerisches Zeichen dafür, wie gross die aktuelle Unsicherheit ist.

Ähnliches gilt übrigens auch für US-Staatsanleihen und für Anleihen der Bundes­republik Deutschland: Auch dort sind die Renditen rekordtief.

Ungleichgewichte

In Deutschland ist jedoch ein weiterer Mechanismus am Werk. Die dortigen Einwohner konsumieren weniger, als ihre Wirtschaft herstellen kann, die Wirtschaft exportiert sehr viele Güter. Deutschlands Exportüberschuss ist der grösste der Welt, er übertrifft sogar jenen der Volksrepublik China.

Die Exporte bringen Einnahmen. Und diese sammeln sich in Form von grossen Mengen an Spar­guthaben an, die investiert werden wollen – unter anderem auch in Staats­anleihen, was deren Renditen nach unten drückt.

Auch Deutschland hat Minuszinsen

Renditen auf 10-jährige Staatsanleihen von Deutschland

20122014201620182020−0,6 %−1012 %

Quelle: investing.com. Letzter Datenpunkt: 9. August 2019.

Wegen seiner grossen Export­abhängigkeit ist Deutsch­land übrigens auch besonders anfällig, wenn die Konjunktur in Ländern wie China schwächelt oder der Welthandel durch Protektionismus behindert wird – ein Punkt, den wir später noch besprechen. Das deutsche Wirtschafts­modell bringt es jedenfalls mit sich, dass die dortigen Zinsen permanent unter Druck sind.

Schulden

Warum kommen die Zinsen einfach nicht vom Fleck? Ein Faktor, der nicht unerwähnt bleiben darf, sind die Schulden. Etwa jene von Italien, dem Euroland, das momentan am meisten Probleme hat mit dem Staatshaushalt.

Der italienische Staat hat Schulden über 130 Prozent des BIP ausstehend, dazu sind die dortigen Banken angeschlagen und die Wirtschaft stagniert. Eigentlich wäre das ein perfektes Rezept für steigende Risiko­aufschläge und damit auch steigende Zinsen. In der Tat begannen Anleger ab 2018 das Land zu meiden: Die Renditen auf italienische Staats­anleihen gingen hoch.

Doch über die letzten Monate sind auch in Italien die Zinsen wieder gefallen, und die dortige Regierung konnte – zumindest bis zum Zusammenbruch, der sich letzte Woche abgezeichnet hat – recht günstig Geld aufnehmen. Warum?

Alles wieder in Ordnung?

Renditen auf 10-jährige Staatsanleihen von Italien

201220142016201820201,8 %0,002,004,006,00 %

Quelle: investing.com. Letzter Datenpunkt: 9. August 2019.

Die Erklärung dafür setzt an mehreren Stellen an. Einerseits beschloss die Regierung ein neues Budget in Einklang mit den Regeln der EU, wodurch die ärgsten Befürchtungen vor einer neuen Schuldenkrise ausgeräumt wurden.

Andererseits, und wohl noch wichtiger, hat die Europäische Zentral­bank (EZB) in den letzten Monaten signalisiert, dass sie auf eine baldige Straffung ihrer Politik verzichten wird: Angesichts der wirtschaftlichen Abkühlung im Euro­raum sieht es zurzeit eher wieder nach einer Lockerung aus.

Die Vorsicht der EZB ist verständlich – sie rührt daher, dass die Zentral­bank ganz genau weiss, wie verwundbar Länder wie Italien sind. Der dortige Staat hat keinen fiskalischen Spiel­raum, um auf einen Abschwung zu reagieren.

Die hohe Verschuldung von Ländern wie Italien – und der gleichzeitige Unwille von Ländern wie Deutschland, etwas für die Konjunktur in Europa zu unternehmen – bringt es also mit sich, dass die EZB als einzige handlungs­fähige Akteurin übrig bleibt. Und damit gezwungen ist, die Last der Konjunktur­stabilisierung alleine zu tragen. Ihre expansive Geld­politik trägt wiederum das Ihrige dazu bei, dass die Renditen tief bleiben.

Überalterung

Der Einfluss der Zentral­banken ist auf die kurze Frist zentral – doch man darf nicht den Fehler machen, ihr Handeln als tiefere, langfristige Ursache der Zins­entwicklung anzusehen. Dafür sind Zentral­banken zu wenig mächtig: Ihre Politik ist eher ein Symptom, eine Begleit­erscheinung der Umstände.

Die eigentlichen Gründe für diese Entwicklung liegen anderswo. Wir sind letzten Herbst bereits einmal auf sie eingegangen: Einerseits ist die Inflation im Vergleich mit den letzten Jahr­zehnten sehr niedrig; andererseits wächst die Wirtschaft langsamer als noch vor 20 oder 30 Jahren. Ein Land, in dem diese beiden Trends ideal­typisch beobachtbar sind, ist Japan.

Japanisches Szenario

Renditen auf 10-jährige Staatsanleihen von Japan

20122014201620182020−0,2 %−1012 %

Quelle: investing.com. Letzter Datenpunkt: 9. August 2019.

Japan war in den Nuller­jahren das erste Land, in dem die Deflation zu einem Thema wurde. Im Nachgang einer geplatzten Finanz­blase kam die Wirt­schaft nicht recht vom Fleck, die Teuerung blieb hartnäckig im negativen Bereich, und die Noten­bank wusste nicht mehr, was tun – die Zinsen waren bei null angelangt. Nach der Finanz­krise stellte sich dieses Szenario auch in anderen Ländern ein; man begann, von «japanischen Verhältnissen» zu sprechen.

Ein Faktor, der dabei oft übersehen wird, ist die Demografie. Japan zählt zu den Ländern mit dem tiefsten Bevölkerungswachstum: Die Einwohnerzahl ist sogar leicht rückläufig. Der Anteil der über 65-Jährigen ist so hoch wie sonst nirgendwo, jener der Einwohner im erwerbsfähigen Alter ist extrem niedrig.

Die demografische Stagnation ist mitverantwortlich für die tiefen Zinsen. Einerseits wird in Japan sehr viel gespart: Das Volk gibt sein Geld nicht für Kinder aus, sondern legt es für die Alters­vorsorge beiseite. Anderer­seits schrumpft mit der Erwerbs­bevölkerung auch die wirtschaftliche Aktivität. Ein hohes Spar­angebot trifft so auf eine geringe Investitions­nachfrage.

Dieses Ungleich­gewicht ist eine der fundamentalen Ursachen des heutigen Tiefzins­umfelds – nicht nur in Japan, sondern auch in anderen Ländern.

Wettbewerb

Tiefe Zinsen sind nicht nur schlecht. Sie schaden zwar den Sparern, aber nützen den Schuldnern: jenen Leuten, die mit geliehenem Geld ein Haus kaufen oder eine Firma gründen wollen. Ebenso sind nicht alle Ursachen des Tiefzins­umfelds schlecht. Beispiels­weise sind die tiefen Inflations­raten auch ein gutes Zeichen – dafür, dass der Wett­bewerb unter den Unter­nehmen spielt und Konsumentinnen in vielen Bereichen von Preis­senkungen profitieren.

Eines von vielen Ländern, in denen die Inflationsraten über die Jahre hinweg beständig gesunken sind, ist Korea. Vor 2012 lagen diese noch bei 3 bis 4 Prozent, heute bewegen sie sich um rund 1 Prozent. Die tiefere Inflation steht in direktem Zusammen­hang mit den Anleihen­renditen, die gesunken sind.

Tiefe Zinsen trotz Wirtschaftsboom

Renditen auf 10-jährige Staatsanleihen von Korea

Achse gekürzt201220142016201820201,3 %1234 %

Quelle: investing.com. Letzter Datenpunkt: 9. August 2019.

Wenn in Korea die Zinsen sinken, so hat dies also indirekt auch mit dem gut funktionierenden Wett­bewerb zu tun. In Bereichen wie der Elektronik wird dieser global geführt und ist sehr intensiv. Um führend zu bleiben, müssen koreanische Hersteller ihre Preise laufend anpassen. Trotzdem hat sich die koreanische Wirtschaft über die letzten Jahre mehrheitlich gut gehalten.

Populismus

Der letzte Faktor, den wir in diesem Beitrag diskutieren, führt uns wieder an den Ursprung zurück: in die USA, das Land, das die globale Leit­währung stellt und dessen Finanz­markt die weltweit grösste Bedeutung hat.

Vor knapp drei Jahren, am 8. November 2016, wurde in Amerika ein neuer Präsident gewählt: Donald Trump. An den Märkten passierte daraufhin das Gegenteil dessen, was manche befürchtet hatten: Statt zu einem Börsen­crash kam es zu einem Börsen­boom, statt talwärts gingen die Zinsen nach oben. Anleger sahen in Trump einen Hoffnungs­träger, der mit Steuer­senkungen und Infrastruktur­investitionen die Wirtschaft beflügeln würde. Trumps verbalen Stichen gegen China wurde damals keine Bedeutung beigemessen.

Katerstimmung statt Euphorie

Renditen auf 10-jährige Staatsanleihen der USA

Achse gekürzt201220142016201820201,7 %1234 %

Quelle: investing.com. Letzter Datenpunkt: 9. August 2019.

Inzwischen ist die Stimmung gekippt. Trumps Steuer­senkungen haben zwar die Gewinne von manchen Unter­nehmen und von deren Aktionärinnen erhöht. Doch die ohnehin gut ausgelastete US-Wirtschaft profitierte darüber hinaus nicht gross. Umgekehrt blieben die Infrastruktur­bauten grösstenteils leere Versprechen. Und Trumps Anti-China-Rhetorik hat sich zum schlimmsten denkbaren Ergebnis hochgeschaukelt: zu einem regelrechten Handelskrieg.

Dieser belastet die Welt­wirtschaft inzwischen schwer. Er gilt als Haupt­grund für den aktuellen Pessimismus und die verringerten Wachstums­aussichten, die praktisch auf der ganzen Welt die Investitions­bereitschaft schwächen. Vor allem die Industrie und der Handel leiden unter Trumps neuen Zöllen. Diese sind auch der wichtigste Grund dafür, dass die Federal Reserve zuletzt ihre Leitzinsen gesenkt hat: Die US-Notenbank will damit einer Rezession vorbeugen, die sich als Folge des Handels­kriegs mit China einstellen könnte.

Der Populismus, der mit einem kruden China-Bashing begann und in üblen Protektionismus ausartete, entpuppt sich damit als wesentliche Triebkraft hinter der jüngsten Zins­entwicklung. Indirekt, indem die verschlechterten Wirtschafts­aussichten die weltweiten Anleihen­renditen nach unten ziehen, aber auch direkt: Trump übt in seinen Kommentaren starken Druck auf die Fed und ihren Chef Jerome Powell aus, ihre Geld­politik weiter zu lockern.

Was all dies auf die lange Sicht bedeutet, wissen wir noch nicht. Möglich, dass der Anleger­stress in einigen Wochen oder Monaten wieder abnimmt und die Renditen dann wieder etwas steigen. Möglich aber auch, dass der Handels­krieg weiter eskaliert – und die Renditen sogar noch tiefer gehen.

So oder so wird es Zeit, der Realität ins Auge zu sehen. Und die Vorstellung eines nahenden Endes der Tiefzins­ära ad acta zu legen. Dass die Renditen in naher Zukunft wieder steigen würden, hat sich als Illusion entpuppt. Zu viele Faktoren sorgen dafür, dass diese weiterhin unter Druck bleiben werden.

Zur Debatte «Auf lange Sicht»

Wir haben die spezielle Debatte zur Datenkolumne «Auf lange Sicht» aufgehoben. Die alten Dialogbeiträge können Sie hier nachlesen.

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