Poesie & Prosa

Was heisst hier, ich bin zu schade dafür?

Doris Anselm: «Hautfreundin»

Ein Lebenslauf der anderen Art: Doris Anselm erzählt in ihrem neuen Roman eine «sexuelle Biografie».

Von Birthe Mühlhoff, 08.06.2019

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In «Hautfreundin» berichtet die Ich-Erzählerin episodisch von ihren Bekanntschaften. Ornella Cacace

Die Stimme dieses Kunden­dienst­mitarbeiters gefällt ihr am Telefon so gut, dass sie in den Tagen darauf gleich noch einige Male anruft: Das Problem mit ihrem neuen Kühlschrank bestehe weiterhin. Gemeinsam kommen sie zu dem Schluss, es helfe wohl nur ein persönlicher Besuch weiter, Treffpunkt: Lieferadresse.

Ein paar Tage später steht er dann vor ihrer Tür: «Ich glaube, er fand mich ein bisschen zu gross, und ich fand ihn ein bisschen zu dünn, aber das waren bloss Aufschriften, so kam es mir vor, Aufschriften, die wir kurz überflogen und zur Kenntnis nahmen.»

In Doris Anselms zweitem Buch «Hautfreundin», das soeben bei Luchterhand erschien, berichtet eine Ich-Erzählerin episodisch von ihren Bekanntschaften: Flirts, One-Night-Stands, Affären, ihr erstes Mal. Schwer einzuordnen, was dieser Text eigentlich ist: ein Erzähl­band, ein Roman (für Frauen?), eine fiktionale Biografie, gar ein Lebens­ratgeber? Die «sexuelle Biografie», wie das Buch im Untertitel heisst, ist jedenfalls nicht chronologisch erzählt, die einzelnen Geschichten, von denen auch eine in der Zukunft spielt, greifen ineinander, ergeben ein Kaleidoskop. Ein ganzes Leben, in Ausschnitten allerdings: eine tatsächlich rein sexuelle Biografie, weil die Leserin nichts erfährt über den Beruf der Porträtierten, ihren Alltag, über das, was sie sonst noch so tut ausser Sex haben oder ihn anbahnen.

Und gerade das bewirkt, dass der Sex hier gar nicht als das Zentrale erscheint. Der Leser ahnt, dass der Mittel­punkt ihres Lebens wahrscheinlich woanders liegt, ausserhalb dessen, was wir erfahren. Es ist also nicht mal ausgemacht, dass die Haupt­person ungewöhnlich viel Sex hat. Dafür aber hat sie ihn öfters unter witzigen Umständen.

Zum Beispiel um 7 Uhr morgens in einem weissen Van auf dem Lidl-Parkplatz. Ihren Bekannten Paul trifft die Erzählerin eigentlich immer nur, wenn es wieder darum geht, Leuten in ihrem Freundes­kreis beim Umzug zu helfen, wofür Pauls Van heiss begehrt ist. Sie sind ein gutes Team: «Es gibt gemeinsame Feinde (Wasch­maschinen, Treppen­häuser) und sichtbare Rückmeldung über Sieg oder Niederlage.» Dass es an diesem Morgen auch um anderes als gemeinsame Feinde geht, war nicht geplant, aber dank Anselms Erzähl­talent eskaliert die Situation nach jahre­langem gemeinsamem Kisten­tragen dann sehr zügig. «Pauls Finger streifen meinen Hosen­bund. Er öffnet die Knöpfe. Das bringt natürlich nichts, weil ich breitbeinig auf ihm sitze, aber Paul hat einen Sinn für Effizienz, also öffnet er zumindest gleich auch seine eigene Hose.»

Nicht alle Männer wirken so unmittelbar attraktiv wie Paul. Aber alle sind auf eigene Weise wunderbar weit entfernt von blödem Macho­gehabe; wenn das Patriarchale aus ihnen spricht, dann deshalb, weil sie es nicht besser wissen. Herr Neumann zum Beispiel ist ein ganz unscheinbarer Fachanwalt. Nach dem letzten Beratungs­termin drückt sie ihm einen Zettel mit ihrer Nummer in die Hand.

Sie treffen sich auf einen Drink in einer Bar, wo sie ihm sehr schnell zu verstehen gibt, worauf sie eigentlich hinauswill. Da fragt er, ob sie sich für so etwas nicht zu schade sei. Er ist dabei vielleicht nur überrumpelt und ungeschickt, vielleicht aber doch in dem Denken verhaftet, dass eine Frau, die selbst auf die Jagd geht, eher ein Reh sei, das vor die Flinte läuft. Das sind diese Momente, in denen die Autorin Doris Anselm Worte findet, von denen man wünschte, sie würden einem selbst im rechten Moment einfallen: «Wenn du glaubst, dass ich für etwas, das ich will, zu schade bin, glaubst du in Wirklichkeit, dass es egal ist, was ich will.»

So schwingt der Feminismus dezent durch dieses Buch, ohne sich als Thema aufzudrängen.

Ein anderes Hintergrund­rauschen: der Glaube. Manchmal ist das sehr schön: «Ich habe mal gehört, dass echte Nächsten­liebe meistens holprig daherkommt, wenig elegant, weil jemand, der sie gibt, vorher nicht lange überlegt.» Manchmal ist es ein kritischer Blick, wenn zum Beispiel die ältere, etwas esoterisch angehauchte Künstlerin Karen sich eine eigene Religion ausdenkt, eine Religion ohne einen Gott, denn «ein Gott übt Macht aus».

Dass das erste Kapitel programmatisch mit «Das Wort» überschrieben ist, während das zweite Kapitel «Der Anfang» heisst, ist auf den ersten Blick witzig, dann irritierend, und dann fragt man sich, ob das Konzept hier aufgeht. Um das Wort Gottes geht es bei Anselm nämlich nicht, sondern um das Wort «Scheide». Die Autorin will vermutlich die Verklemmtheit der (christlich geprägten) Gesellschaft aufs Korn nehmen, doch kommen dabei Sätze heraus, die selbst etwas verklemmt wirken: «Als kleines Mädchen verlangte man von mir, zu glauben, mein Wort sei etwas ganz Normales, und dabei erlebte ich überall, dass das nicht stimmte.» Wenn «Scheide» als Wort merkwürdig ist, dann ist es «mein Wort» erst recht.

Die weibliche Hauptfigur erscheint trotzdem offen und lebensfroh, schlagfertig, bei all dem nicht übermässig extrovertiert. Sie drängt ihr Begehren den Lesern nicht auf, schwingt es nicht wie ein Lasso über deren Köpfen, wie es sonst oft der Fall ist in Büchern, in denen es um Sex geht. An keiner Stelle sagt die Erzählerin: Schaut her, wie krass ich bin. Das wäre die Haltung der Erzählerin «M» aus dem gleichnamigen, ebenfalls kürzlich erschienenen Roman von Anna Gien und Marlene Stark – die, wenn sie nicht gerade in einem Club auflegt oder eine neue Ausstellung vorbereitet, Männer aus der Kunstwelt in den Arsch fickt.

Wer diesen rotzigen, angriffslustigen Ton bevorzugt, kann die Erzählungen von Doris Anselm als gemächlich abtun. Oder man findet darin eine Ehrlichkeit und unschuldige Direktheit, die den mit grossem Trara auftretenden Büchern wie «M» gerade fehlt.

Doris Anselms Buch hat durchaus etwas Ratgeberisches, aber im besseren Sinne des Wortes. Weder will die Autorin den Leser belehren, wie man sich Frauen gegenüber zu verhalten habe, noch macht die Haupt­figur immer alles richtig im Umgang mit Männern. «Hautfreundin» ist vielmehr ein Plädoyer dafür, seinen eigenen Weg zu finden, anstatt irgend­welchen Vorstellungen zu entsprechen.

«Ein Text», schreibt Anselm an einer Stelle, «könnte ein Raum sein, in dem man Erfahrungen macht.» Es ist offensichtlich, dass sie dabei primär an ihre Leserschaft denkt, nicht an sich selbst als Autorin. Das ist insofern bemerkenswert, als eine wachsende Zahl von Büchern, gerade wenn es um Geschlechter­rollen geht, wie Selbst­experimente der männlichen Autoren wirken. Ob ich mich wohl als Mann in die Rolle einer Frau hinein­versetzen kann? In eine Frau, die ihren eigenen Willen hat und viel Sex? Let’s find out!

Das muss sich Feridun Zaimoglu gedacht haben, als er sich an seine «Geschichte der Frau» gemacht hat. Einer ähnlichen Logik folgt auch Ulrich Woelk in seinem aktuellen Roman­projekt, für das er kürzlich den mit 15’000 Euro dotierten Alfred-Döblin-Preis bekam: ein Text, in dem die 13-jährige Lu zum ersten Mal einen Blick auf den Penis eines Mannes erhascht, den Penis ihres Nachbarn nämlich. Man kann sich da des Eindrucks nicht erwehren, dass der einzige Mensch, der beim Lesen eines solchen Textes irgendeine Art von Erfahrung macht, der Autor selbst ist. Die Frau als Haupt­figur – in diesem Falle wieder einmal nur irgend­etwas zwischen Haustier und Versuchskaninchen.

Bei Doris Anselm findet der, der sich fragt, wie Frauen ticken, nicht selten humorvolle Antworten. Und manchmal auch ganz konkrete: Wie befriedigt man eine Frau mit der Hand? Man stelle sich das Plätzchen­backen vor. Man hat den Teig ausgerollt und die Formen ausgestochen und nun ruckelt man vorsichtig daran, «streicht beharrlich über die Spitze einer Stern­schnuppe, bis sie sich ein Stück einrollt, nach oben ragt», sodass sie sich schliesslich unversehrt von der Arbeits­platte lösen lässt.

Man könnte sich fragen, ob «Hautfreundin» der richtige Titel ist für ein Buch, das auch Männer kaufen sollen. (Oder ob auf der Tisch­platte klebende Plätzchen die eingängigste Analogie sind.) «Hautfreund» wäre immerhin ein weniger schlechtes Wort für etwas, wofür es bislang nur richtig schlechte gibt: «Liebhaber», «Affäre», «friend with benefits» ... oder gar «Hausfreund».

Doris Anselm jedenfalls, das stellte sie schon mit ihrer ersten Kurz­geschichten­sammlung unter Beweis, ist eine Geschichten­erzählerin, die sich für die gesamte Bandbreite des Zwischen­menschlichen interessiert. Das umfasst das Pornografische genauso wie das Zärtliche. Das Peinliche und das Schmerzhafte.

Das Buch

Doris Anselm: «Hautfreundin. Eine sexuelle Biografie». Roman. Luchterhand, München 2019. 256 Seiten, ca. 32 Franken.

Zur Rezensentin

Birthe Mühlhoff, Jahrgang 1991, hat Philosophie in Hamburg und Paris studiert. Sie schreibt für «Zeit online», die «Süddeutsche Zeitung» und diverse Zeit­schriften, ausserdem übersetzt sie aus dem Englischen und Französischen, unter anderem für den Merve-Verlag und den «Merkur». 2018 erschien «Werbung für die Realität», ein literarischer Essay über das Internet im Mikrotext-Verlag. Zu ihrem Twitter-Account geht es hier. Für die «Republik» schrieb sie zuletzt über Maggie Nelsons «Bluets».

Disclaimer: Birthe Mühlhoff war Mitglied der Publikums­jury beim Alfred-Döblin-Preis 2019 (ohne Stimmrecht).

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