Kunst

Femme brute

Kunstforum Wien: «Flying High»

Eine Ausstellung zeigt erstmals umfassend die weibliche Seite der Art brut – jener Kunst, die zum Grossteil in psychiatrischen Anstalten entstanden ist. Sogar in dieser Aussenseiter­disziplin hatten Frauen eine Aussenseiterrolle inne.

Von Karin Cerny, 12.04.2019

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Aufgeklebte Bodybuilderin von Misleidys Francisca Castillo Pedroso: «Ohne Titel», um 2016. Sammlung Amr Shaker, Genf

An der Schweizerin Aloïse Corbaz (1886–1964) kommt man nicht vorbei. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen: 14 Meter umfasst ihr Rollbild, das im Kunst­forum Wien einen ganzen Raum einnimmt. In leuchtenden Farben schmiegen sich darauf Liebes­paare aneinander, weibliche Brust­nippel ragen spitz aus Décolletés oder formen sich zu dekorativen Elementen. So opulent und sinnlich diese Bilder auf den ersten Blick wirken, so unheimlich werden sie bei näherer Betrachtung: Die Figuren haben pupillenlose Augen, im Inneren ihrer Körper scheinen kleine Doppel­gänger ein Eigen­leben zu führen. Vulvaartige Schlitze sind an abstrusen Körper­stellen zu finden: Liebes­glück und bedrohliche Entfremdung liegen hier nah beisammen.

Corbaz war besessen von Kaiser Wilhelm II., an dessen Hof sie Gouvernante war, bevor sie in psychiatrische Anstalten kam, wo sie ab 1918 ihr Leben lang bleiben sollte – und ihre erotische Obsession mit Ölkreide und Buntstift auf Papier bannte. Der französische Maler Jean Dubuffet, begeistert von ihr, stellte ihre Werke erstmals 1948 im Kunst­kontext aus. Damals war Corbaz schon 62 Jahre alt und von der Anstalts­existenz gezeichnet. Dubuffet prägte auch den Begriff «Art brut», also rohe, naive Kunst, gemacht von Laien, Kindern, Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder Behinderung. Im englischen Sprach­raum sagt man outsider art.

Aloïse Corbaz war der weibliche Super­star einer Kunst­richtung, in der Frauen kaum eine Rolle zu spielen scheinen. Sie galten lange als die Aussen­seiterinnen unter den Aussen­seitern. In bisherigen Art-brut-Ausstellungen waren sie, wenn überhaupt, nur marginal vertreten. Statistisch ergibt das keinen Sinn: Im ersten Drittel des 20. Jahr­hunderts lebten mindestens ebenso viele Frauen wie Männer in psychiatrischen Anstalten. Es mag also zum Teil an der damaligen Praxis liegen, die Frauen weniger zum Kreativsein anregte als Männer, ihnen keinen Zugang zu Mal­utensilien ermöglichte. Corbaz war als Privat­patientin diesbezüglich bevorzugt.

Sexistische Klischees

Aber die Benachteiligung der Frauen hatte auch mit tief sitzenden Klischees zu tun, die gesamt­gesellschaftliche Haltungen widerspiegelten. Das zeigt sich gut anhand der nieder­österreichischen Institution Gugging, wo Art brut eine lange Tradition hat.

Erotische Obsessionen von Aloïse Corbaz: «Brevario Grimani», um 1950 (Ausschnitt). abcd/Sammlung Bruno Decharme, Bild: César Decharme

Der Psychiater Leo Navratil hatte in der Nachkriegs­zeit begonnen, seine rein männlichen Patienten in der Nerven­klinik zeichnen zu lassen. Da entstand Kunst nicht um ihrer selbst willen, sondern aus therapeutischen Überlegungen heraus. Damals nannte man Art brut ja auch noch «Kunst von Geistes­kranken». Navratils Nachfolger Johann Feilacher taufte 1986 das «Zentrum für Kunst und Psychiatrie» in «Haus der Künstler» um.

In der Galerie von Gugging wurden Stars wie August Walla, Johann Hauser oder Oswald Tschirtner bestens vermarktet. Seit den 1990er-Jahren stand das Atelier auch Frauen offen. Dass mit Laila Bachtiar lange nur eine einzige weibliche Vertreterin unter den Kreativ­köpfen war, rechtfertigte Feilacher 2006 in einem Interview damit, es läge weniger am Talent als an der «Psyche»: «Kunst zu machen basiert auf einem Willen zur Selbst­verewigung. Frauen müssen sich durch Kunst nicht reproduzieren, das geht bei ihnen auch über Kinder.»

Frauen bekommen also Kinder, Männer machen Kunst. So sexistisch war die Welt vor kaum mehr als zehn Jahren noch.

1997 kuratierte Ingried Brugger, eine österreichische Kunst­historikerin und mittlerweile Leiterin des Kunst­forums Wien, gemeinsam mit Peter Gorsen die Schau «Kunst und Wahn». Dass man die weiblichen Vertreter vergessen hatte, fiel damals weder den Kuratoren noch den Rezensenten noch den Besuchern auf. Der Kunst­markt, aber auch die Museen haben sich seitdem verändert. In den vergangenen Jahren wurden verstärkt Künstlerinnen ins Rampen­licht gerückt (wie die momentan im Wiener Belvedere stattfindende Schau «Stadt der Frauen» vor Augen führt).

Ein Akt der Wiedergutmachung

Brugger hat nun gemeinsam mit der Sammlerin Hannah Rieger die aktuelle Ausstellung «Flying High. Künstlerinnen der Art brut» im Kunstforum zusammengestellt. Für sie ist es eine Art von Wiedergut­machung, endlich auch die Höhen­flüge von Frauen zu präsentieren, die erstaunlicherweise bisher nie systematisch beleuchtet wurden.

Die Ausstellung fasziniert. Man fragt sich, warum es so lange gedauert hat, diese funkelnden Schätze zu heben: Gezeigt werden weltweit entstandene Arbeiten aus 150 Jahren. 93 Künstlerinnen sind mit über 300 Werken vertreten. Einige legen bahnbrechend moderne Werke vor, obwohl wir nicht einmal ihr genaues Todes­datum kennen.

Marie Lieb aus Deutschland (1844–?) etwa zerriss ihre Leintücher und legte Ornamente am Boden aus. Sie schuf damit bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine Raum­installation. Hedwig Wilms (1874–1915, Deutschland) häkelte ein Tablett mit einem Kännchen darauf. Das Arrangement sieht harmloser aus, als es ist. Wilms wurde zwangsernährt, ihr Kunstwerk bildet das Instrument ihrer Peinigung ab. Viele Künstlerinnen haben mit textilen Materialien gearbeitet, was wahrscheinlich daran liegt, dass in den Anstalten Frauen zur Handarbeit angehalten wurden.

Traumaverarbeitung von Hedwig Wilms: «Tablett mit Krug und Giesskännchen», vermutlich 1913–1915. Sammlung Prinzhorn, Universitätsklinikum Heidelberg

Gibt es grundlegende Unterschiede zu den Werken ihrer männlichen Kollegen? Die meisten Künstlerinnen sind sexuell weniger explizit. Ihre Fantasie­welten manifestieren, was ihnen das reale Leben vorenthielt: Sie träumten von einer bürgerlichen Existenz. Die einstige Schuh­verkäuferin Helene Reimann (1883–1987, Polen) schuf unzählige Zeichnungen von Schuhen und Kleidern. Bertha Wuilleumier (1907–1999, Schweiz) malte mädchen­hafte Modepuppen in wechselndem Outfit.

Queere Kunst des 19. Jahrhunderts

Kuratorin Brugger schreibt im Ausstellungs­katalog, dass viele der Frauen nach Schicksals­schlägen und einem harten Leben in Anstalten landeten. Unehelich geboren, ohne Schul­bildung, traumatisiert von Kindes­beinen an. Dienst­mädchen, Prostituierte. Oft sind ihre Arbeiten nur erhalten geblieben, weil sie klein genug waren, um in den Kranken­akten aufbewahrt zu werden.

In die Psychiatrie eingewiesen wurden die Frauen nicht selten, weil sie den gesellschaftlichen Rollen­erwartungen nicht entsprachen. Insofern ist auch der Katalog­text des Berliner Kunst­historikers Thomas Röske spannend, der eine neue Betrachtung der Werke anregt, gerade was das Geschlechter­bild angeht: Viele Art-brut-Künstlerinnen machten queere Kunst, wie man heute sagen würde. Die Fantasien einer Helen Meta Hannah Prager (1854–1929, Südafrika, Schweiz, Deutschland) erzählen von einer zweigeschlechtlichen Selbst­verdoppelung, mal als weibliche, dann als männliche Version. In den Zeichnungen von Meta Anderes (1874–1927, Schweiz) bestehen die Figuren aus einer weiblichen und einer männlichen Körperhälfte.

Viele Künstlerinnen haben sich lediglich als Medium gefühlt: Ein Geist aus dem Jenseits würde ihnen die Hand beim Malen führen, so ihre Überzeugung. Auch in Sachen «mediumistischer» Kunst stellt die Ausstellung aktuelle Fragen. War es diesen Frauen überhaupt möglich, sich als Künstlerinnen wahrzunehmen? War es nicht ein Zeitphänomen, dass man Frauen eigenständigen künstlerischen Ausdruck weitgehend absprach? Von den männlichen Kollegen der Art brut ist ein Grossteil namentlich bekannt, von Frauen bleiben einige anonym, als «Frau St.» oder «Katharina» markiert, die Lebens­daten weitgehend unbekannt.

Wahrscheinlich verstärkte sich in der Anstalt, was im realen Leben zur Tages­ordnung gehörte: Karriere machten Männer, die sich als Genies betrachteten – und als solche gefördert wurden.

Garn, Knochen, Muskeln

Die Ausstellung dokumentiert auch, wie sich die Art brut verändert hat. Sie entsteht längst nicht mehr vorwiegend in geschlossenen Anstalten. So arbeitete Judith Scott (1943–2005, USA), deren Werke 2017 auch auf der Biennale in Venedig zu sehen waren, im Creative Growth Art Center in Oakland, das Atelier­räume für Menschen mit Behinderung bietet. Scott wurde mit Trisomie 21 geboren und litt an eingeschränktem Hörvermögen. Sie umwickelte Gegenstände so lange mit Garn, bis sie abstrakt wucherten.

Dinosaurierskulptur von Julia Krause-Harder: «Nanotyrannus», 2013. Atelier Goldstein, Bild: Uwe Dettmar

Zu den tollsten Stücken in der Wiener Ausstellung gehören die riesigen Dinosaurier von Julia Krause-Harder (1973, Deutschland), die überzeugt ist, dass die Knochen der noch nicht ausgegrabenen Urzeit­giganten nach ihr rufen. Sie forscht lange, bevor sie ihre aus recycelten Materialien bestehenden Skulpturen kreiert. Und nicht zu vergessen: die aufgeklebten Bodybuilderinnen von Misleidys Francisca Castillo Pedroso (1985, Kuba), die mit ihrer Mutter in der Nähe von Havanna lebt und dort überlebensgrosse Muskel­figuren zeichnet. Sie sollen ihr wohl auch Schutz geben.

Kein Wunder, dass Outsider-Kunst seit einigen Jahren boomt (mittlerweile gibt es dafür eigene Kunst­messen). Die eigenwillig-expressiven Welten, welche sie eröffnet, ziehen einen sofort in ihren Bann. Der Wiener Ausstellung gelingt diesbezüglich eine gute Balance: Sie stellt nicht die Kranken­geschichten ins Zentrum, sondern das künstlerische Schaffen. Erst der Katalog informiert über die schwierigen Bedingungen, unter denen die Werke entstanden.

Man staunt einmal mehr, dass diese extrem starken Setzungen so lange warten mussten, bis sie das Licht der Öffentlichkeit erblicken durften.

Zur Ausstellung

Kunstforum Wien: «Flying High. Künstlerinnen der Art brut». Die Ausstellung dauert noch bis zum 23. Juni. Alle Informationen finden Sie hier.

Zur Autorin

Karin Cerny lebt in Wien. Sie schreibt regelmässig über Theater, Literatur und Kulturpolitik im Wochen­magazin «Profil» sowie Reise- und Modegeschichten für «Rondo», die Beilage der Tages­zeitung «Der Standard». Für die Republik schrieb sie bereits über eine Ausstellung von Wes Anderson und Juman Malouf, über das Wiener Burgtheater als komplizierte Institution sowie über die Wiener Ausstellung «Stadt der Frauen».

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