Kuriositätenkabinett mit einer Spitzmaus-Mumie im Sarg (unten Mitte). KHM-Museumsverband

Kunst

Postmoderne Wunderkammer

Kunsthistorisches Museum Wien: «Spitzmaus Mummy in a Coffin and other Treasures»

Der Filmemacher Wes Anderson hat gemeinsam mit seiner Partnerin Juman Malouf eine Ausstellung kuratiert, die uns staunen lassen möchte. Aber ist das so einfach?

Von Karin Cerny, 19.11.2018

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Man muss sich bücken, um das Meisterwerk zu betrachten. Links unten in der Ecke steht ein historisches Modell einer Qualle aus Glas. Feingliedrig leuchtet es, so lebensnah und filigran, als würde es davonschwimmen, wenn man ihm zu nahe käme. Ende des 19. Jahrhunderts wurden solche Modelle vom böhmischen Glasbläser Leopold Blaschka angefertigt. 45 der insgesamt 145 Glastiere, die sich im Besitz der Universität Wien befinden, sind als Dauerleihgabe im Naturhistorischen Museum Wien zu bewundern.

Aber, halt: Brauchen wir diese Hintergrundinformation überhaupt? Das Objekt wirkt doch auch so. Bloss keine Belehrung!

Oh my God!

Im englischsprachigen Audioguide des Kunsthistorischen Museums Wien (KHM) hören die Besucher die Stimme des US-Regisseurs Wes Anderson: «Oh my God!», sagt er im Gespräch mit KHM-Kurator Jasper Sharp, der erklärt, wie schwierig es war, gerade dieses Objekt für die Ausstellung «Spitzmaus Mummy in a Coffin and other Treasures» zu bekommen, die Anderson gemeinsam mit seiner Partnerin, der Autorin und Illustratorin Juman Malouf, kuratiert hat. Falls die Qualle beschädigt würde, gäbe es nämlich keine Möglichkeit, sie zu reparieren. Sie wäre für immer verloren.

«Wir haben uns sofort in dieses Objekt verliebt», erklärt Anderson. «Aber eigentlich möchte ich gar nicht mehr darüber sagen.» Schauen und staunen. Fühlen und sich begeistern lassen. Ein wenig später wird Anderson aufgeregt wie ein Kind fragen, ob der Kurator denn schon einmal im Museum übernachtet habe. Viele Museen bieten das inzwischen an, um auch junges Publikum anzulocken. Sharp antwortet etwas reserviert, er habe schon viele Überstunden gemacht, aber nie im Museum geschlafen.

Wes Anderson, bekannt für faszinierend schräge Welten – von «The Life Aquatic with Steve Zissou» («Die Tiefseetaucher», 2004) bis «The Grand Budapest Hotel» (2014) –, dreht ausstattungsneurotische Filme, in denen Erwachsene wie Kinder agieren und Kinder wie Erwachsene. Will er mit der Ausstellung im KHM das kindlich-augenreibende Schauvergnügen in uns wiedererwecken?

423 Objekte aus 14 Sammlungen

Die umfangreichen Sammlungen des KHM sind auf mehrere Gebäude verteilt, vom Schloss Schönbrunn bis zum Schloss Ambras in Innsbruck. Klar haben die prominenten Gäste nicht alles allein durchforstet, das Kuratorenteam des Museums hat assistiert. Der Arbeitsaufwand war trotzdem enorm: 423 Objekte wurden aus allen 14 Sammlungen des Hauses ausgewählt. Aus der Kunstkammer und der Kaiserlichen Schatzkammer, aus der Hofjagd- und Rüstkammer, dem Münzkabinett, dem Theatermuseum, dem Weltmuseum und auch aus der Kaiserlichen Wagenburg.

Schauen und staunen: Das Konzept hinter der von Wes Anderson und Juman Malouf kuratierten Ausstellung. KHM-Museumsverband

350 der ausgestellten Objekte kommen direkt aus dem Lager, 200 werden zum ersten Mal überhaupt öffentlich präsentiert. Bis zum 28. April 2019 im KHM Wien, danach in der Mailänder Fondazione Prada am Largo Isarco (deren Caffè-Bar Wes Anderson ausstattete). Allein der Starfaktor der Macher garantiert einen Publikumserfolg.

Kinderrüstungen und Handgranaten

Es ist die postmoderne Wiedergeburt des Museums als exotische Wunderkammer, in der es keine Trennung von Natur, Kunst und Kuriosem gibt. Ein Abenteuerspielplatz im Kopf, der beweisen soll, wie fantastisch unsere Welt war und ist. Die Dinge sollen in ihrer fremdartigen Schönheit direkt zu uns sprechen. Geordnet nach Farbe, Grösse oder Material. Aber nicht nach Herkunft, künstlerischem Wert oder Geschichte. Eine lustvolle Unterwanderung des gängigen Kunstkanons.

In einem Raum dominiert die Farbe Grün. In den Vitrinen stehen Schalen aus leuchtendem Smaragd neben einem Malachit aus Russland, ein grünes Kleid aus einer «Hedda Gabler»-Inszenierung von 1978 wurde aus dem Theatermuseum beigesteuert. Bizarr sind die Ritterrüstungen für Kinder, die einen anderen Raum füllen. Oder jener Teil, in dem die aberwitzigsten Miniaturen versammelt sind, von einer historischen Handgranate, der sogenannten Orsini-Bombe, bis zu einem kleinen Gemälde von Vlad Tepes, dem Vorbild für die Dracula-Figur.

Der grüne Raum endet mit einer roten Wand. KHM-Museumsverband

Keine Frage, die Ausstellung macht Spass. Es ist toll, was aus den übervollen Archiven – vier Millionen Objekte aus rund fünftausend Jahren – ausgegraben wurde. Trotzdem stellt sich, wie auch in den Filmen von Anderson, mittlerweile verstärkt die Frage: Wo kippt Begeisterung in kulturelle Aneignung? Unser Blick hat sich in den letzten Jahren diesbezüglich sensibilisiert. Sushi, Sumoringer und Kirschblüte: Andersons jüngster Film «Isle of Dogs» (2018) lässt kein Japan-Klischee aus. Ist das noch eine Hommage oder schon cultural appropriation?, fragte nicht nur «The Guardian» in seiner Filmkritik. Darf man sich wirklich überall bei schönen, möglichst exotischen Oberflächen bedienen?

Erklärungsbedarf

Museen setzen sich schon länger mit dieser Frage auseinander. Was früher naiv als Exotikum in den Völkerkundemuseen stand, bedarf mittlerweile einer Erklärung. Ein gutes Beispiel dafür ist das Wiener Weltmuseum, das sich direkt neben dem KHM auf dem Heldenplatz befindet und nach einer Renovierungsphase 2017 neu aufgestellt wurde.

Viele Schätze der ethnologischen Sammlungen kamen durch Eroberungsfeldzüge nach Europa, sind mit blutiger Kolonialgeschichte verbunden. Ein Saal im Weltmuseum thematisiert den blinden Sammlerwahn der Habsburger: Drei junge Erzherzöge bereisten im 19. Jahrhundert die Welt, rafften an sich, was sie fanden. Franz Ferdinand goss seinen imperialen Machtanspruch in die Worte: «Ich leide an Museomanie!»

Heute würde man ihn als Shopaholic bezeichnen. In den Vitrinen stehen unzählige Objekte, manche lapidar als «Kultgegenstand aus Polynesien» bezeichnet. Aber ist dieser eurozentrische Blick nicht genauso problematisch? Würde man einen Rembrandt mit «Gemälde aus Europa» beschriften? Jedes Objekt ist schliesslich eine Welt für sich, erzählt von einer komplexen aussereuropäischen Hochkultur, für die man sich doch mindestens genauso interessieren sollte wie für die Frage, wie unsere Museen entstanden sind.

Die Herausforderung ist, den Artefakten jene Bühne zu geben, die sie verdienen, und trotzdem ihre koloniale Aneignung zu erzählen.

Der «edle Wilde» und andere Kuriosa

Man kann koloniale Gewalt nicht mehr ausblenden, da sind sich die Sammlungen einig. Unfassbar, dass Angelo Soliman, der als afrikanischer Sklave im 18. Jahrhundert nach Europa verschifft wurde und als Kammerdiener und Freimaurer in Wien Karriere machte, nach seinem Tod zehn Jahre lang, als «edler Wilder» präpariert, in einer Vitrine im Kaiserlichen Naturalienkabinett stand, einem Vorgänger des heutigen Naturhistorischen Museums. Der österreichische Regisseur Markus Schleinzer erzählt in seinem jüngsten Film «Angelo» von dieser bizarren Geschichte. Und Soliman soll kein Einzelfall gewesen sein.

In den Wunderkammern und Kuriositätenkabinetten der Spätrenaissance und des Barocks gingen Magisches und Exotisches Hand in Hand: Narwalzähne wurden da als Hörner von Einhörnern ausgestellt, Spielautomaten begeisterten mit ihrer ausgeklügelten Mechanik, Tierpräparate standen neben Gemälden, Elfenbeinschnitzereien neben Strausseneiern und Mumien. Die Aufklärung machte Schluss mit diesem Hokuspokus. Ende des 18. Jahrhunderts galten Wunderkammern als «eine Menge unnützen Plunders», wie es der Mathematiker und Naturforscher Georg Christoph Lichtenberg formulierte.

Die Maus im Rampenlicht

Geblieben ist sie trotzdem bis heute, die Sehnsucht zu staunen. Die Schau «Spitzmaus Mummy in a Coffin and other Treasures» richtet den Blick auf Gegenstände, die man sonst übersieht. Etwa den ägyptischen Sarg jener mumifizierten Maus, die der Ausstellung den Titel gegeben hat.

Das Objekt stand in einem Seitentrakt der Ägyptisch-Orientalischen Sammlung in einer Vitrine mit vielen anderen Gegenständen. Anderson und Malouf haben die Maus ins Rampenlicht gerückt. «Das ist wahrscheinlich eines der unwichtigsten Objekte des Museums», schwärmt Kurator Sharp. «Es ist wie eine Ballerina mit zwei linken Füssen, die plötzlich für eine Nacht lang die Hauptrolle in ‹Schwanensee› tanzen darf.»

Grüner Malachit und Kostüm aus «Hedda Gabler». KHM-Museumsverband
Die Mumie der Spitzmaus im Zoom. KHM-Museumsverband

Ein anderer Raum zeigt nur die Behältnisse, in denen Kunst- und Kultgegenstände gelagert werden. Wundersame Schachteln, aufwendig verziert. Gegenstände, die durch ihre funktionale Schönheit bestechen. Aber die man sonst nie zu sehen bekommt.

«Hier begegnen sich Objekte, die sich 400 Jahre nicht getroffen haben», sagt der Kurator im Audioguide und erklärt, wie schwierig die Präsentation sei – Stein, Holz und Elfenbein brauchen eine andere Luftfeuchtigkeit.

Traurige Schicksale

Postmoderne Wunderkammern sind wie früher eine wilde Mischung: In der Ausstellung ist ein Gemälde von einem Riesen, der neben einem Zwerg steht, ebenso zu sehen wie die berühmten Bilder der «Haarmenschen» aus der Ambraser Kunst- und Wunderkammer. Die drei Gemälde stellen Vater, Sohn und Tochter dar, allesamt weisen die Personen eine Ganzkörperbehaarung auf. Es handelt sich aber nicht um Fabelwesen, wie die Ausstellung suggerieren könnte, sondern um reale Menschen mit traurigen Schicksalen.

Der Vater der Familie, Petrus Gonsalvus, geboren 1556, wurde am Hof König Heinrichs II. von Frankreich erzogen und als Kuriosität ausgestellt. Und später wie eine Ware dem Statthalter der Niederlande, Alessandro Farnese, zum Geschenk gemacht. Davon erfährt man weder in der Ausstellung noch im Katalog.

Wes Anderson und Juman Malouf reisten übrigens zur Ausstellungseröffnung Anfang November an und brachten die befreundete Schauspielerin Tilda Swinton mit, die in einem Wiener Gasthaus recht unprätentiös ihren 58. Geburtstag feierte. Instagram, die Wunderkammer unserer Tage, war voll mit Fotos, die zeigten, wie Swinton ihre beiden Kuchen anschnitt. Und ganz Wien staunte.

Zur Autorin

Karin Cerny lebt in Wien. Sie schreibt regelmässig über Theater, Literatur und Kulturpolitik im Wochenmagazin «Profil» sowie Reise- und Modegeschichten für «Rondo», die Beilage der Tageszeitung «Der Standard». Für die Republik verfasste sie «Einfach kompliziert» über den Wechsel des Kärntner Regisseurs Martin Kušej zum Burgtheater in Wien.

Zur Ausstellung

Die von Wes Anderson und Juman Malouf kuratierte Sammlungspräsentation mit dem Titel «Spitzmaus Mummy in a Coffin and other Treasures» ist im Kunsthistorischen Museum Wien noch bis zum 28. April 2019 zu sehen. Infos dazu finden Sie hier.

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