«Es geht uns historisch extrem gut – und trotzdem fühlen wir uns bedroht»

Politökonomin Stefanie Walter erklärt, wieso die Ungleichheit fast überall auf der Welt zugenommen hat, was Donald Trump für Europa bedeutet und wieso die Schweiz das Rahmen­abkommen annehmen sollte.

Von Andrea Arezina und Mark Dittli (Interview), 05.02.2019

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«Ob ich Ihnen die Welt erklären kann, weiss ich nicht», sagt Stefanie Walter. Was die Professorin für politische Ökonomie definitiv kann: schnell denken und schnell reden. Und die richtigen Fragen stellen.

Stefanie Walter fragt, weshalb es in wohlhabenden westlichen Industrie­staaten in den vergangenen Jahren zu populistischen Revolten gegen die Eliten gekommen ist. Sie untersucht, welchen Einfluss die Globalisierung und der technische Fortschritt auf die Gesellschaft haben. Wie Statusangst zum Aufstieg rechtsnationaler Parteien führt. Und sie erforscht, welchen Gestaltungs­raum kleine Staaten wie die Schweiz in Verhandlungen mit grossen Akteuren wie der Europäischen Union haben.

Stefanie Walter, 41, Professorin an der Universität Zürich, ist mal Optimistin, mal Pessimistin. Je nachdem, ob sie über Amerika, Europa oder die Schweiz spricht.

Frau Walter, wir sehen momentan das Chaos rund um den Brexit, Trump im Weissen Haus, die Gelbwesten in Frankreich – alles Formen einer Revolte gegen die Eliten und das liberale, regelbasierte Wirtschafts­system, das die USA in der Nachkriegszeit aufgebaut haben. Stehen wir am Ende dieser Ära?
Ich schreibe zu diesem Thema gerade ein Papier mit zwei Kollegen, in dem ich die Pessimistin bin und sie die Optimisten sind. Meine pessimistische Seite ist, dass wir noch nie so viele Angriffe, so viel Unbehagen gegenüber dem internationalen Regime gesehen haben wie jetzt. In so vielen Ländern und gleichzeitig gegen so viele Institutionen. Wir laufen zum Beispiel Gefahr, dass Washington die Welthandels­organisation WTO an die Wand fährt, weil sich die US-Regierung weigert, neue Mitglieder des Schieds­gerichts zu bestätigen. Das hat langfristige Folgen. Insofern: Ja, das ist ein fundamentaler Wandel.

Stefanie Walter über die zunehmende Ungleichheit: «Den Armen geht es etwas besser, aber die Reichen ziehen oben davon. Und hier gibt es nun eine heftige Gegenbewegung» (Bild von der Gelbwesten-Demonstration am 12. Januar in Paris). Stéphane Lagoutte/MYOPM.Y.O.P./laif

Und was sagt die Optimistin in Ihnen?
Krisen gibt es immer, und viele internationale Institutionen sind an Krisen gewachsen. Wir hatten beispielsweise den Zusammen­bruch des Systems von Bretton Woods, aber Institutionen wie der Internationale Währungs­fonds und die Weltbank haben ihre neue Rolle gefunden. Auch die EU hat schon viele Krisen überlebt und sich immer wieder aufgerappelt.

Das Symbol des Wirtschafts­systems der vergangenen Jahrzehnte war die Globalisierung. Ging sie zu weit?
In der Diskussion geht manchmal vergessen, dass es vielen Leuten weltweit viel, viel besser geht als noch vor dreissig Jahren. Es gab noch nie so einen Wohlstand und so wenig Armut. Die Kinder­sterblichkeit und die Analphabetismus­rate gingen stark zurück. Was aber zugenommen hat, ist die Ungleichheit. Den Armen geht es etwas besser, aber die Reichen ziehen oben davon. Und hier gibt es nun eine heftige Gegenbewegung.

Meinen Sie die Ungleichheit auf globaler Basis oder innerhalb einzelner Länder?
Es gibt die sogenannte Elefanten­grafik des ehemaligen Weltbank-Ökonomen Branko Milanović, die zeigt, welche Einkommen am meisten von der Globalisierung profitiert haben. Die Verschiebung der Produktion in Entwicklungs­länder liess dort die Einkommen ansteigen. Ausserdem haben die reichsten Menschen massiv profitiert. Kaum gewachsen sind die Einkommen derjenigen, die global gesehen zu den zwanzig Prozent reichsten Leuten gehören – das sind die unteren Schichten in den Industrie­staaten. Die eigentliche Frage ist: Was ist für die Leute die Vergleichs­kategorie? Jemandem, der in der Schweiz seinen Job verloren hat, bringt es nichts, sich mit jemandem in Vietnam zu vergleichen. Der relevante Kontext ist das eigene Land. Und da sehen wir, dass die Ungleichheit nahezu überall zugenommen hat.

Woher kommt die Ungleichheit?
Die Globalisierung spielt schon eine Rolle. Modelle zeigen, dass der Handel zwar insgesamt den Wohlstand steigert, aber gleichzeitig die Ungleichheit verstärkt. Im Moment wird stark auf die Globalisierung gezielt, aber andere Faktoren wie die Automatisierung spielen eine mindestens so wichtige Rolle. Viel von diesem schnellen Wandel, den wir gegenwärtig erleben, hat mit Technologie zu tun – und dank der Globalisierung sind Neuerungen sofort weltweit verfügbar. Diese schnelle Entwicklung verunsichert viele Menschen. Was dazukommt: Jahrzehntelang ging es der nächsten Generation immer besser. Das ist heute nicht mehr so. Viele junge Menschen können sich kein eigenes Haus mehr leisten. Unsere Renten werden niedriger sein als die von den Leuten, die jetzt in Rente gehen. All das schafft Verunsicherung.

Man hört oft, in den vergangenen drei Jahr­zehnten seien die Verlierer der Globalisierung in der westlichen Welt vergessen worden. Ist es so einfach?
Es gibt Verlierer dieser Entwicklung, ohne Zweifel, und die wurden mancherorts auch vergessen. In den USA verliert jemand seinen Job, seine Kranken­versicherung und lebt dann am Schluss im Auto. Doch auch hier in Europa, wo der Sozialstaat besser ausgebaut ist und die Risiken der Globalisierung besser abgefedert werden, ist die Unzufriedenheit gross. Selbst in Ländern wie Schweden.

Wieso?
Die Abfederung durch das soziale Netz reicht nicht aus. Das Gefühl, sich vom rasanten Wandel abgehängt, sich nicht mehr zugehörig zu fühlen, ist stärker.

Über die Globalisierung: «Es gibt Verlierer dieser Entwicklung, ohne Zweifel, und die wurden mancherorts auch vergessen» (Bild: Obdachloser in Los Angeles). Jae C. Hong/AP Photo/Keystone

Die Verlierer der Globalisierung bilden den Nähr­boden für den Aufstieg rechts­populistischer Parteien. Stimmt das?
Ja und nein. In Regionen, die unter dem strukturellen Wandel leiden, weisen populistische Parteien tatsächlich einen hohen Wähler­anteil auf. Interessant wird es jedoch auf der individuellen Ebene: Die tatsächlichen Verlierer, also jene Menschen, die direkt von der Globalisierung betroffen sind, strömen nicht unbedingt zu den rechtspopulistischen Parteien. Sie wählen oft entweder gar nicht oder eher links.

Woher stammt denn der Zulauf für die rechtspopulistischen Parteien?
Wir wissen heute immer noch viel zu wenig über die Leute, die rechtspopulistische Parteien wählen. Aber viel deutet darauf hin, dass es die Mittelklasse ist, die sich bedroht fühlt. Menschen, die noch nicht effektiv von Globalisierung und Automatisierung beeinträchtigt sind, die in ihrer subjektiven Wahrnehmung aber in einem Zustand der Bedrohung leben.

Was können Regierungen machen, um diesen Trends entgegenzuwirken?
Es ist schwierig, einem subjektiven Gefühl von «uns geht es schlechter als Generationen vor uns» entgegenzuwirken. Die zwei Generationen vor uns haben in Europa einen oder zwei grosse Kriege erlebt. Unser Vergleichs­raster ist dagegen eine Zeit von Frieden und Wohlstand. Das ist das Schwierige an der subjektiven Wahrnehmung: Uns geht es im historischen Vergleich wahnsinnig gut, und trotzdem haben viele Menschen das Gefühl, ihr Status sei bedroht. Für die Politik ist es schwierig, das zu beeinflussen. Wir möchten Wohlstand haben, Souveränität, Unabhängigkeit und Frieden sowieso. Die Frage ist: Sind wir auf einem Plateau und ahnen, dass es nun abwärtsgeht?

Es ist mittlerweile breit anerkannt, dass die Ungleichheit in vielen Ländern gefährlich hoch gestiegen ist. Trotzdem ist das Thema Umverteilung weiterhin weitgehend ein Tabu.
Ja, das sah man in der Schweiz eindrücklich bei der Debatte zu den Sozial­detektiven. Man hätte sagen können: Wir machen das mit den Sozial­detektiven, aber wir bauen auch Kapazitäten bei den Steuer­detektiven aus. Sozialversicherungs­betrüger und Steuer­hinterzieher machen im Grunde ja das Gleiche: Sie bereichern sich auf Kosten der Allgemeinheit. Aber diese Diskussion gab es kaum. Dabei ist völlig klar, dass Steuer­hinterziehung vor allem den oberen Schichten nützt. Eine härtere Gangart ihnen gegenüber würde automatisch einen Beitrag zur Verringerung der Ungleichheit liefern. Hinzu kommt, dass viele Staaten den Sozialstaat zurückbauen oder nicht mehr in genügendem Ausmass in die Infrastruktur investieren. Schauen Sie sich mal Frankreich ausserhalb der urbanen Zentren an. In Deutschland lernen viele Kinder gar nicht mehr schwimmen, weil es in den Schulen keine Schwimmbäder mehr gibt. Solche Dinge tragen zum Gefühl des Abstiegs bei.

Investieren wir genug in die Bildung?
Das ist ein komplexes Thema. Als Antwort auf Globalisierung, technologischen Wandel und steigende Ungleichheit ist Bildung wichtig. Aber es reicht auch nicht aus. Hier in der Schweiz zum Beispiel schaffen wir uns selbst ein Problem, indem wir an den Universitäten zu wenige Leute ausbilden für die Bedürfnisse des Arbeits­marktes. Das führt dazu, dass die Schweiz Hochschul­abgänger importiert und in den Positionen der Topkader immer mehr Ausländer sitzen. Das schafft Frustration in der Bevölkerung, aber gleichzeitig ist der Wille nicht da, mehr Kinder ans Gymnasium zu schicken und gut ausgebildeten Frauen mit Kindern die Rückkehr in den Arbeits­markt zu erleichtern. Es gäbe da schon Stell­schrauben, die man drehen könnte.

Gerade in der Frage der Frauen in der Arbeitswelt tut sich momentan ja einiges. Stimmt Sie das nicht zuversichtlich?
Na ja, man sieht auch, dass sich eine Gegenbewegung formiert. Steve Bannon war hier und hat in den Saal gerufen: Männer, wir müssen wieder männlich sein! Oder dieser Backlash gegen den neuen Gillette-Werbespot. Lange Zeit war es politisch korrekt zu sagen, die Frauen müssten bessergestellt werden. Aber es blieb viel beim Verbalen. Jetzt fordern die Frauen konkrete Mass­nahmen. Und nun kommt der Widerstand.

Wo sehen Sie die grossen Schlachtplätze?
Zum Beispiel bei den Quoten in Verwaltungs­räten und Geschäfts­leitungen. Da geht es um Macht und um Einfluss. Und jetzt hört man oft Männer sagen, dass jetzt endlich Schluss sein soll mit diesem Genderquatsch.

Vielleicht ist in zwei Jahren das Phänomen Trump vorbei, in Grossbritannien gibt es möglicherweise ein zweites Referendum, und die Stimmung dreht. Vielleicht durchleben wir eine Phase von vier Jahren Verrücktheit und kehren dann zurück in die «alte» Welt. Halten Sie das für ein plausibles Szenario?
Wir sehen momentan vor allem, wie die Welt aussieht, wenn sich wichtige, demokratische Mächte von der Bühne zurückziehen. Und was für Chaos daraus folgen kann. Man kann aber übrigens auch feststellen, dass viele Menschen in Europa seit der Wahl von Trump eine positivere Einstellung zur EU haben. Als ob ihnen vor Augen geführt worden wäre, was in einer Demokratie alles schiefgehen kann. Aber es ist überhaupt nicht klar, dass das alles so positiv endet.

Hat das Verhältnis zwischen den USA und Europa durch Trump einen bleibenden Schaden erlitten?
Ich denke, ja. Im Moment hoffen viele, dass Trump im November 2020 abgewählt wird. Doch ich bin mir da gar nicht so sicher. Und wenn: Wie kann die Welt­gemeinschaft sicher sein, dass 2024 nicht wieder so jemand gewählt wird? Man hat Bush junior gehabt, da hat die Welt­gemeinschaft schon einmal tief Luft geholt. Dann kam Obama, und alle waren erleichtert. Und dann: Trump. Die Glaubwürdigkeit der USA in der Welt­gemeinschaft hat gelitten. Das ist relevant, denn die USA sind der Hegemon der westlichen, liberalen Nachkriegs­ordnung. Und wenn sich dieser Hegemon zurückzieht, dann hat das langfristige Folgen. Es wird von nun an immer dieses Frage­zeichen bleiben: Wen wählen die Amerikaner als Nächstes?

Sie denken, nach Trump wird es kein Zurück mehr geben?
Trump macht Dinge, die bisher kein Präsident getan hat. Er legt seine Steuer­erklärung nicht offen, er macht, was er will, und signalisiert, dass ihn niemand in die Schranken weisen kann. Das war früher undenkbar. Wir sprechen hier von Normen, die zwar nicht gesetzlich festgeschrieben sind, aber an die man sich gehalten hat. Trump zeigt, dass man sich über Normen hinwegsetzen kann. International basieren viele Kooperationen auf Normen: Man verlässt sich aufeinander, man vertraut sich. Wenn das zerstört wird, hat das Konsequenzen.

Zum Beispiel?
Schauen Sie die Nato an: Trump lässt die Alliierten der USA im Zweifel, ob das Bündnis noch hält. Das macht etwa die Menschen im Baltikum nervös. Die fragen sich: Was, wenn die Amerikaner sich zurückziehen? Und dann beginnen sie, Alternativen ohne die Amerikaner zu denken.

Der Hegemon, der das System geprägt hat und sich zurückzieht: Der Wirtschafts­historiker Charles Kindleberger sah in diesem Phänomen die Ursache für die Katastrophe der 1930er- und 1940er-Jahre.
Ja, und Kindleberger zeigt auch schön, wie schnell das weite Kreise ziehen kann. Die Amerikaner haben in der Welt­wirtschafts­krise mit den Smoot-Hawley-Gesetzen hohe Handelszölle eingeführt und damit eine Spirale in Gang gesetzt. Überall auf der Welt wurden protektionistische Mauern hochgezogen, der Welthandel brach zusammen. Die Staaten hatten dadurch weniger Anreize, friedliche Beziehungen aufrechtzuerhalten.

Treffen denn die Parallelen zu heute zu?
Das ist schon eine Gefahr, auch weil die Strafzölle der USA zum Teil weit über China hinausgehen. Ich frage mich aber manchmal, ob wir nicht eher in der Situation wie 1913/1914 sind: Alle denken, es wird schon nichts Schlimmes geschehen, vielleicht muss das System einfach etwas durchgeschüttelt werden, und danach ist alles wieder gut. Und dabei hat niemand so richtig auf dem Schirm, dass es wirklich schlecht ausgehen könnte.

Die andere Parallele ist der Aufstieg des Autoritarismus. Oft demokratisch legitimiert.
Ja, Orbán, Bolsonaro …

Über den Aufstieg des Autoritarismus: «Die Menschen leiden unter dem schnellen Wandel. Vielleicht ist es dann attraktiv, wenn jemand kommt und sagt: Es ist alles nicht so kompliziert, ich zeige den Weg» (Bild: Jair Bolsonaro, rechts, mit Klaus Schwab am WEF 2019 in Davos). Gian Ehrenzeller/Keystone

Der Wunsch einer verunsicherten Bevölkerung nach der autoritären Hand?
Natürlich bestehen da Parallelen zu Deutschland in den frühen 1930ern. Wir müssen aber vorsichtig sein mit allzu simplen Parallelen. Die Situation heute ist anders. Es geht uns, wie erwähnt, eigentlich gut, aber die Menschen leiden unter Orientierungs­losigkeit und dem schnellen Wandel. Vielleicht ist es dann attraktiv, wenn jemand kommt und sagt: Es ist alles nicht so kompliziert, ich zeige den Weg.

Was machen denn die etablierten Parteien falsch?
Gewisse Dinge, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Eurokrise, dem Brexit oder der Globalisierung, werden von den Mainstream-Parteien als alternativlos dargestellt: Wir müssen das so machen, es gibt keine Alternative! Aber das ist natürlich nicht so. Man hätte den Euro vor die Hunde gehen lassen können. Es ist auch eine Alternative, die Briten aus der EU austreten zu lassen und ihnen trotzdem alle Vorteile des gemeinsamen Wirtschafts­raums zu geben. Man müsste einfach ehrlich diskutieren, dass mit diesen Entscheiden Trade-offs verbunden und Kosten zu tragen sind. Die Populisten treten derweil auf und bieten die Alternativen. Sie suggerieren dabei, dass diese Alternativen ohne Kosten zu haben seien. Das ist zwar nicht realistisch, aber weil die etablierten Parteien die Dinge als alternativlos darstellen, haben die Populisten ein offenes Feld.

Für die Nachkriegs­generation war die EU das Friedens­projekt. Immer, wenn die Union in eine Krise geriet, war der politische Wille gross genug, die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Für die heutige Generation ist die Vorstellung von Krieg in Europa abstrakt, entsprechend wird die EU zu einem abstrakten Projekt. Wird der politische Wille auch künftig gross genug sein, um Krisen zu überstehen?
Das wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Wir haben zum ersten Mal die Situation, dass in einigen EU-Staaten klar euroskeptische Regierungen an der Macht sind. Das ist ein Novum. Italiens Regierung hat angekündigt, dass sie sich sehr wohl fühlt mit den EU-kritischen Osteuropäern, wenn es um Europa geht. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob diese nationalistische Internationale wirklich so gut funktioniert.

Woran denken Sie?
Die Lega in Italien und die FPÖ in Österreich sind eigentlich verbrüdert in ihrer Sichtweise über Europa. Aber es waren die Österreicher, die sich als Erste über die Haushalts­defizite aus Rom aufgeregt haben. Und die Italiener regen sich darüber auf, dass die Österreicher Pässe in Südtirol verteilen. Internationale Kooperation mit nationalistischer Agenda ist nicht so einfach.

Über innereuropäische Konflikte wie die Verteilung von Flüchtlingen: «Heute haben wir nicht mehr verschiedene Parteien, die über die Ausgestaltung der Details streiten, sich aber im Ziel einig sind» (Bild: gerettete Migranten in Malaga). Jesus Merida/SOPA Images/LightRocket/Getty Images

Wir sehen heute diese innereuropäischen Konflikte, zum Beispiel in der Frage der Verteilung von Flüchtlingen. Und dies, obwohl das wirtschaftliche Umfeld momentan ja recht stabil ist. Wie wird es sein, wenn die Eurokrise wieder aufflammt?
Der politische Spielraum ist deutlich kleiner als vor sieben, acht Jahren: Heute haben wir nicht mehr verschiedene Parteien, die über die Ausgestaltung der Details streiten, sich aber im Ziel – zum Beispiel dem Erhalt des Euro – einig sind. Die euroskeptische Opposition ist fundamentaler: Da geht es nicht mehr um Fragen der Gestaltung, sondern nur noch um die Frage, ob die EU gut oder schlecht ist. Das wird übrigens auch im Europa­parlament gelten, falls die Euro­skeptiker nach den Wahlen im Mai die grosse Opposition werden. In der Politik geht es um den Umgang mit Trade-offs. Wenn das die Leute nicht sehen, wirds schwierig.

Für die Schweiz dreht sich momentan alles um das Rahmen­abkommen mit der EU. Was halten Sie von der aktuellen Diskussion im Land?
Wenn man die Berichterstattung hier liest, hat man das Gefühl, man stehe am Anfang der Verhandlungen. Aber die EU und die Schweiz haben ganz lange verhandelt, die EU will seit fast zehn Jahren ein Rahmen­abkommen. Die Schweiz hat es erfolgreich geschafft, das lange hinauszuzögern – und sie hat am Ende mehr rausgeholt, als ich gedacht hätte. Ich finde es immer absurd, wenn es heisst, wir hätten nichts bekommen. Der Lohnschutz wird ja nicht abgeschafft, es soll einfach das europäische Prinzip gelten: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Und die EU hat der Schweiz zugebilligt, dass einige ihrer Massnahmen bestehen bleiben.

Der Streitpunkt sind die flankierenden Massnahmen und insbesondere die Lohn­kontrollen. Hier fürchten sich die Gewerkschaften vor Dumping­löhnen. Zu Recht?
Das Thema Lohnkontrollen spielt ja nur in ausgewählten Sektoren eine Rolle, zum Beispiel im Bau. Es geht nicht um das generelle Lohn­niveau in der Schweiz. Auch innerhalb der EU wird heute intensiver darüber diskutiert, dass die Personen­freizügigkeit nicht zu Dumping führen darf. Doch auch hier gilt: Es geht um Trade-offs. Wir müssen uns überlegen, was uns der Lohn­schutz in den betroffenen Berufen wert ist. Und das müssen wir aufwiegen mit den Jobs, die die Schweiz verliert, wenn wir das Abkommen nicht abschliessen. Es ist problematisch, dass das kaum angesprochen wird.

Sie finden, die Schweiz sollte das Rahmen­abkommen annehmen?
Persönlich? Ja. Ich glaube auch nicht, dass die nächste Kommission der Schweiz positiver gesinnt sein wird als die aktuelle. Wenn in den Europa­wahlen die Euro­skeptiker zulegen, wird es für die Kommission schwieriger, Zugeständnisse zu machen. Denn sie wird sich hüten, Nicht-Mitgliedsländer besser dastehen zu lassen als die EU-Mitglieder.

Wie viel Verhandlungs­spielraum hat ein kleiner Staat überhaupt gegenüber der EU?
Wenn die EU zusammensteht, nicht viel. In Wirtschafts­fragen gilt die Regel: Der grössere Markt braucht den kleineren Markt weniger. Selbst so ein grosser Markt wie Grossbritannien stellt jetzt fest, dass er im Vergleich zur EU klein ist. Das gilt genauso für die Schweiz. Die Schweiz ist als Markt wichtig für die EU, aber die EU ist für die Schweiz noch viel wichtiger. Die EU-Kommission ist gewählt, um die EU-Bürger zu repräsentieren. Das ist etwas, was die Briten plötzlich lernen müssen. Brüssel schaut nicht mehr, dass es den Briten gut geht, sondern dass es den Iren gut geht. Das ist unverständlich für London: Wieso die Iren? Weil die Teil eines grösseren Gefüges sind.

Eine These der Brexit-Befürworter ist, dass die Welt wieder fragmentierter wird und dass man sich mit bilateralen Freihandels­abkommen genauso erfolgreich bewegen kann.
Handelsminister Liam Fox hat gesagt, zum Zeitpunkt des Ausstiegs aus der EU werde Grossbritannien vierzig neue bilaterale Handels­abkommen haben. Und wie viele hat er bisher zustande gebracht? Null. Damit ist, glaube ich, alles gesagt.

Stefanie Walter

UZH

Die 41-Jährige ist Professorin am Institut für Politik­wissenschaft der Uni Zürich. Ihre Forschung im Bereich internationale Beziehungen und politische Ökonomie beschäftigt sich vor allem mit Globalisierung, internationaler Desintegration sowie der Politik internationaler Wirtschaftskrisen.

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