Siegesparade im Slum: Die frisch gekürte Miss Venezuela wird durch Petare in Caracas gefahren.

Showdown in Caracas

Alles scheint in diesen Tagen möglich in Venezuela. Zwei Präsidenten ringen um die Macht, Hunderttausende demonstrieren. Unter ihnen: die amtierende Miss Venezuela. Ja, die Zeiten ändern sich. Auch beim legendären Schönheitswettbewerb.

Von Barbara Bachmann mit Ariel Hauptmeier (Text) und Adriana Loureiro Fernández (Fotos), 30.01.2019

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Eines der bekanntesten Lieder in Venezuela, jedes Kind kann es mitsummen, geht so:

In einer wunderbaren Nacht wie dieser
könnte jede von uns triumphieren
und zur Miss Venezuela gekrönt werden,
in einer wunderbaren Nacht wie dieser.

Was für ein herrlicher Wettbewerb das ist,
alle Mädchen hier sind betörend schön.
Jede von uns könnte triumphieren,
und unsere Träume könnten wahr werden.

Wobei. Das stimmt ja alles gar nicht. Das Lied war immer auch eine schöne Lüge. Jede könne triumphieren und Miss Venezuela werden? Keineswegs.

Schuld daran waren die venezolanische Klassen­gesellschaft und Osmel Sousa, ein Kubaner, der zuletzt an Hape Kerkeling erinnerte, ein wenig aufgeschwemmt, mit blond gefärbten Haaren und blau gefärbten Kontaktlinsen.

40 Jahre dominierte Osmel Sousa den Miss-Venezuela-Wettbewerb und prägte das Schönheits­ideal im Land: schmale Nase, pralle Brüste, kleiner Hintern, weisse Haut. So sollte die schönste Venezolanerin aussehen, und nicht schwarz, nicht indigen, nicht kurvig.

Doch dann musste Sousa sein Amt niederlegen. Weil manche «Sponsoren» für ihr finanzielles Engagement sexuelle Gefälligkeiten verlangten, mit vollem Wissen der Organisatoren. Unter den «Sponsoren»: Bankiers, Unternehmer, Politiker.

Das Image der Misswahl war erst mal ruiniert. Ein Drama für das Land. Noch eines.

Dass die Venezolanerinnen die schönsten Frauen der Welt sind, daran glauben hier alle. Es ist ein nationaler Mythos, er erfüllt die Menschen mit Stolz, und sie können seine Gültigkeit belegen: Sieben Mal wurde eine Venezolanerin zur Miss Universum gekrönt, sechs Mal zur Miss World, sieben Mal zur Miss International. Wie beim Boxen gibt es mehrere miteinander konkurrierende Verbände, und wer sie ernst nimmt, könnte behaupten: Kein Land hat mehr internationale Schönheits­titel gewonnen als Venezuela.

In Venezuela ist die Misswahl eine Konstante, die das gespaltene Land eint.

Was für Aussen­seiter nach Unterhaltung auf Kosten getrimmter Frauen­körper aussieht, ist für die rund 30 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner viel mehr: ein Anker. In Venezuela ist die Misswahl eine Konstante, die das gespaltene Land eint, das jedes Jahr tiefer im Chaos versinkt.

Ein Land, in dem 1961 die Malaria ausgerottet wurde – und in dem es bald wieder so viele Malariakranke wie vor hundert Jahren geben wird.

In dem 7 Prozent der Bevölkerung in den vergangenen fünf Jahren die Flucht ergriffen haben.

In dem die Müttersterblichkeit explodiert und Schwangere zur Geburt oft Plastikhandschuhe, -kittel und Antibiotika mitbringen müssen.

In dem der mittlerweile verstorbene Präsident Hugo Chávez Preis­obergrenzen für Lebens­mittel einführte, um den Armen zu helfen. Doch stattdessen erstickte er die einheimische Produktion. Nun, da die Kassen leer sind, können kaum noch Nahrungs­mittel importiert werden, und so hungern die Menschen im Land mit den grössten bekannten Erdöl­reserven der Welt.

Im Mai 2018 liess sich Nicolás Maduro, Nachfolger des 2013 verstorbenen Chávez, in einer manipulierten Wahl im Amt bestätigen. Die Republik berichtete damals ausführlich, hier und hier. Wer nachlesen will, wie das Land in den Abgrund taumelte, wie der kubanische Geheimdienst im Hintergrund die Fäden zieht, wie die korrupten Generäle in den Drogen­handel mit Kolumbien verwickelt sind, wie alles begann und wie es enden könnte, dem seien diese beiden Texte empfohlen.

Anfang 2018, nach wochenlanger Ungewissheit über die Zukunft der Misswahl, übernahmen drei ehemalige Schönheits­königinnen das Kommando, stellten einen Moral­kodex auf und betonten: Sie würden es nicht zulassen, dass den Venezolanerinnen und Venezolanern auch noch diese Freude genommen werde.

Und bestimmten das Motto für den Wettbewerb des Jahres 2018: «Miss Venezuela ist Venezuela.»

Die Schöne und das Biest

Da stolzieren sie herein, 24 junge Frauen auf High Heels und in glitzernden Hosen­anzügen, und singen, im Gleichschritt schreitend, ihre Hymne: «In einer wunderbaren Nacht wie dieser könnte jede von uns triumphieren», wohl wissend, dass nur eine von ihnen triumphieren wird.

1300 Frauen hatten sich beworben, 24 haben es in die Endausscheidung geschafft.

Die gut 150 Zuschauerinnen, in Anzug und Galakleid, klatschen und jubeln und singen mit, an diesem Donnerstag­abend, 13. Dezember 2018, in einem TV-Studio im Norden von Caracas. Acht Minuten dauert der Aufmarsch, mehrmals wechselt die Musik, die 24 Kandidatinnen lächeln und posieren, tanzen und drehen Pirouetten, stemmen die Faust in die Hüfte und lehnen den Ober­körper zurück, Po und Brust raus, so, wie sie es gelernt haben.

An die vier Monate lang sind sie auf diesen Moment vorbereitet worden, wurden geschult in Schönheits­pflege, Fitness und sozialer Verantwortung, eine Miss braucht schliesslich auch ein grosses Herz, jeden Tag unterrichtete man sie in «La Quinta», dem Landhaus, jede im Land kennt es, ein rosa­farbenes Gebäude unweit des TV-Studios.

1300 Frauen hatten sich beworben, diese 24 haben es in die letzte Runde geschafft, allesamt betörend schön und ziemlich dünn. Zwei von ihnen sollen hier im Mittelpunkt stehen: Juliette Lemoine und Isabella Rodríguez. Die Favoritin und die Aussenseiterin.

Juliette Lemoine, die als Favoritin galt, in ihrem Penthouse in den smogfreien Hügeln im Süden von Caracas.
Lemoine modelt, seit sie Kind ist, man kennt ihr Gesicht von riesigen Werbe­plakaten.

Juliette Lemoine ist 20 Jahre alt und 1,73 Meter gross, hat hohe Wangen­knochen, lange, braune Haare und porzellan­weisse Haut. Sie studiert Psychologie, hat französische Wurzeln und lebt in einem Penthouse in den smogfreien Hügeln im Süden von Caracas. Einer ihrer Verwandten hat einen der Polar-Türme entworfen, eine Hälfte des wohl berühmtesten Gebäudepaars in Caracas. Sie modelt, seit sie Kind ist, man kennt ihr Gesicht von riesigen Werbe­plakaten. Sie ist die klassischere Schönheit. Aber wenn sie redet, wirkt sie unsicher, und ihre Stimme wird brüchig.

Ganz anders Isabella Rodríguez. Sie ist 25 Jahre alt und 1,78 Meter gross, studiert Industrie­sicherheit und stammt aus Petare, dem grössten Slum des Landes, er gilt als eine der gefährlichsten Gegenden der Welt. Ihre Haut ist dunkler als die der anderen, sie ist die Älteste und Grösste unter den Kandidatinnen und hatte einmal krause Haare, die sie auf Dauer geglättet hat. Sie besticht durch ihren Charme und ihre Natürlichkeit, sie liebt die Bühne, ist extrovertiert und einnehmend.

Doch dann gewann Isabella Rodríguez, die aus dem Slumviertel Petare stammt.

Juliette Lemoine wird später sagen: Ihr schönste Kindheits­erinnerung sei ihr sechster Geburtstag gewesen, ein «magisches und riesiges Fest», auf dem sie zusammen mit ihren Gästen ihren Lieblingsfilm «Die Schöne und das Biest» nachgespielt habe. Sie selbst war die Belle, «ich trug ein wunder­schönes gelbes Kleid und eine Krone, und ich fühlte mich wie die Prinzessin aus dem Märchen».

Isabella Rodríguez wird später sagen, ihre schönste Kindheits­erinnerung sei ein Sommertag gewesen, «wir wollten ans Meer fahren, aber uns fehlte das Geld. Also hat meine Mutter eine Decke auf dem Boden ausgebreitet und den Ventilator eingeschaltet.»

An die fünf Stunden wird der Wettbewerb dauern.

Die Show

Drei Moderatoren führen durch den Schönheits­wettbewerb und werden nicht müde, seine Bedeutung zu beschwören, betonen, dass «die Wahl zur Miss Venezuela eine der schönsten Traditionen» ist, die das Leben aller erfrische.

Der zweite Aufmarsch der Aspirantinnen ist in gelbem Rüschenrock mit Bein­ausschnitt, darunter ein mit Blumen bestickter Badeanzug. Die Band stimmt karibischen Merengue an, der Sänger jauchzt «Spritz mir deine Liebe wie Insulin», männliche Tänzer kommen auf die Bühne und wirbeln die Frauen umher; eine verliert kurzzeitig ihren Rock.

Danach Stille. Jede betritt nun einzeln den Laufsteg, in Badeanzug und High Heels, steht da, Oberkörper nach hinten, Brust raus, ein Bein weit abgespreizt, während im Hintergrund ihre Masse eingeblendet werden und die Kameras langsam ihren Körper abtasten, von den Füssen bis zum Kopf.

Juliette Lemoine: 83 – 60 – 90.

Isabella Rodríguez: 82 – 62 – 90.

Das ist dann wohl ein Unentschieden.

In der Werbepause vertreten sich Gäste und Verwandte der Kandidatinnen vor dem Studio die Füsse.

Die 24 Kandidatinnen werden nur selten bei ihren Namen genannt. Zwei Monate vor der Show, als alle vorgestellt wurden, wurden sie einem Bundesstaat zugelost, den sie jetzt repräsentieren. Damit Menschen im ganzen Land mitfiebern können, ob «ihre» Kandidatin gewinnt.

Werbepause. Die Moderatoren­nasen werden nachgepudert, die Missen verschwinden im Backstage­bereich, das Publikum vertritt sich die Füsse.

Die Hoffnung stirbt langsam

An die 400’000 Menschen wohnen in Petare, dem riesigen Slum im Osten von Caracas. Dreckige Strassen, Verbrecher­banden, leere Bäuche, das Elend das Landes unter einem Brennglas. Hier ist Isabella Rodríguez zusammen mit ihren beiden Geschwistern aufgewachsen, mit Blick auf Häuser aus rotem Backstein, ineinandergeschachtelt wie Tetrisklötze.

Petare ist der grösste Slum des Landes, er gilt als eine der gefährlichsten Gegenden der Welt.
Dass eine Frau aus diesem Quartier Miss Venezuela wird, war bisher unmöglich.

Auch dieses Armen­viertel war einmal eine Hochburg von Hugo Chávez, auch hier hoffte man, dass sein «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» der Armut und der bedrückenden Ungleichheit ein Ende bereiten würde. Heute findet man hier kaum noch Leute, die sich zum Chavismus bekennen. Wobei man auch fast keine findet, die die Regierung offen kritisieren. Venezuela ist eine Diktatur, überall könnten Spitzel sein, und alle fürchten die colectivos, die paramilitärischen Truppen der Chavisten.

Seit Wochen gibt es kein fliessend Wasser mehr in Petare. Aber wer jetzt keinen Wasser­tank hat, kauft sich auch keinen mehr. Der Mindestlohn liegt bei 9 US-Dollar pro Monat, ein Wassertank kostet rund 20 Mal so viel.

In Petare davon zu träumen, einmal zur Miss Venezuela gekürt zu werden? Ein kühner Traum. Aber Mary, die Mutter von Isabella Rodríguez, hat nie aufgehört, daran zu glauben. «Ich habe immer gewusst: Eines Tages wird meine Tochter Miss Venezuela sein», sagt sie einige Tage nach der Wahl bei sich daheim.

Trotzdem hat Mary Rodríguez immer daran geglaubt, dass ihre Tochter einmal die Misswahl gewinnen wird.

«Der schmale Gang zwischen Küche und Wohn­zimmer war Isabellas Laufsteg», erzählt sie, «ich habe Tisch und Stühle beiseitegeräumt und Platz gemacht», und dann habe ihre Tochter den Gang eines Models geübt: einen Fuss vor den anderen zu setzen, als balanciere sie auf einem Drahtseil, das Kinn nach oben gereckt, die Arme natürlich schwingend, leicht auf den Ballen gehend, noch mit den Augen lächelnd.

Und nie habe Isabella sich irgendwelche Pfunde herunterhungern müssen, alles habe sie essen können, sogar Arepas, die gebackenen Maisfladen, die zu fast jeder Mahlzeit serviert werden.

Mit 17, fährt Mutter Mary fort, habe Isabella zum ersten Mal an einem Schönheits­wettbewerb teilgenommen; das also erklärt ihre Präsenz auf der Bühne. Sie war Miss ihres Viertels, Miss eines Karneval­vereins, Miss eines Kaufhauses. In einer alten Schuh­schachtel bewahrt ihre Mutter jeden Artikel auf, in dem sie erwähnt wird, und hat die Sieger­trophäen gut sichtbar im Wohnzimmer platziert.

Für die Mädchen und jungen Frauen in Petare ist Isabella Rodríguez ein Vorbild.

Schön sein, auffallen, ist den Venezolanerinnen besonders wichtig, auch hier im Armenviertel. Man erkennt seinen Niedergang nicht nur an Restaurants, in denen nur ein Gericht auf der Karte steht, an Supermärkten ohne Waren, sondern auch an verfilzten Haaren und schmutzigen Fingernägeln.

Und an den endlos langen Warte­schlangen. Die Menschen stehen an für Kleider aus zweiter Hand oder für Reinigungs­mittel, die jemand selbst gebraut hat. Und immer wieder begegnet man Männern, die Angehörige auf Stühlen in die «Strasse der Magier» tragen, wo Wunder­heiler all jene Kranken versorgen, die sich keinen Arzt mehr leisten können.

Frauen sind in den schmalen Gassen unterwegs, auf der Suche nach etwas, das ihre Kinder satt macht, nach Reis oder Bohnen oder Eiern. Dünn sind diese Frauen. «Maduro-Diät» nennen die Venezolanerinnen sarkastisch ihre Fastenkur, nach ihrem noch immer fülligen Präsidenten. Die Menschen haben 2017 deutlich abgenommen, im Schnitt fast neun Kilogramm, fanden Forscher heraus.

Und selbst mit der Missshow geht es bergab. Früher fand sie in einem Stadion vor 20’000 Menschen statt, und 90 Prozent der TV-Zuschauer sahen zu; heute hält man die Einschalt­quote geheim. 1952 fand die Veranstaltung zum ersten Mal statt, als man eine Kandidatin für Miss Universum suchte. Schnell wurde sie zur nationalen Obsession. Aber wie alles in diesem eigentlich reichen Land, mit all den Diamanten, Gold und seltenen Erden, vermag selbst die Kür der schönsten Frau der Krise nicht zu trotzen.

An der Misswahl ist selbst der Glamour nur Show: Statt Sekt und Häppchen gibts für die Gäste eine kleine Flasche Wasser.

2018 findet die Veranstaltung im einzigen klimatisierten TV-Studio mit HD-Technologie statt, das der Sender Venevisión noch hat. Auf dem WC fehlt das Klopapier, aus dem Hahn tropft kein Wasser, weder Seifen­spender noch Hand­trockner funktionieren. Die Sponsoren sitzen inmitten der Gäste und Journalisten, statt Sekt und Häppchen gibt es für sie einen halben Liter Wasser in einer Plastikflasche, und während fünf Minuten fällt an diesem Abend in Caracas der Strom aus.

Reiz und Diktatur der Schönheit

«Mama, das ist meine Krone», hat Juliette Lemoine einige Tage vor der Show zu ihrer Mutter gesagt, so sicher war sie sich, dass sie gewinnen würde. Jetzt steht Juliette auf der Bühne, aufrecht, die Arme und die Finger durch­gestreckt, den Kopf nach hinten gelehnt. «Miss Vargas» wird Juliette von den Moderatoren genannt, sie repräsentiert die Region an der Karibik­küste, die kennt sie gut: Ihre Familie besitzt dort einen Privatstrand.

Höhepunkt der Show ist jener Augenblick, in dem die Frauen in ihren Gala­kleidern auf die Bühne treten und zu «flüchtigen Göttinnen» werden, wie ein venezolanischer Autor schreibt. Es ist der letzte Akt. Andächtig liest die Moderatorin die eingewirkten Materialien vor: Swarovski-Steine, Seide, Perlen, Kristalle, Pailletten aus Gold. Dazu plätschert sanfte Musik.

Juliette Lemoines Décolleté ziert ein schweres Halsband aus Diamanten, ihre Haut ist weiss, ihre Lippen sind so rot wie ihr schulterfreies Kleid aus Seide mit Ärmeln aus Tüll. Aufgewachsen ist sie in einem der Nobelviertel auf den Hügeln im Süden, wo es immer ein paar Grad kühler ist als im Zentrum.

Hier wohnt die Oberschicht. Sie hasst Hugo Chávez und dessen Zögling Maduro. Seit bald zwanzig Jahren arbeitet die Oligarchie darauf hin, mit Hilfe aus Washington, den Chavismus zu beenden; bislang ist man stets gescheitert, und es ist völlig offen, ob es ihr dieses Mal gelingen wird, das Regime zu stürzen.

Die Oberschicht hat sich den Sozialismus in ihrem Land selbst zuzuschreiben. Bis 1999 haben sie sich nicht weiter gestört an der krassen Ungleichheit, haben nach Miami geschielt und Petare ignoriert und mussten danach mit ansehen, wie es den Armen dank der Geschenke von Hugo Chávez zwar besser ging, zugleich aber das ganze Land herunter­gewirtschaftet wurde.

Jetzt hat die bittere Realität auch die Reichen­viertel eingeholt: Viele Villen stehen leer, ihre Besitzer sind längst fort. Juliette Lemoines Mutter ist noch da. Sie ist Immobilien­maklerin, aber die Geschäfte laufen nicht.

Die Oberschicht, aus der Juliette Lemoine stammt, kämpft seit Jahren gegen den Chavismus.

Stolz erzählt die Mutter am Telefon, warum sie sich während der Schwanger­schaft überlegt hat, ihrer Tochter einen französischen Vornamen zu geben. «Weil ich wusste, dass sie einmal berühmt wird.»

Ihr Kinderarzt gab ihr später recht: «Juliette hat Glamour, sie wird einmal Miss Venezuela werden», sagte er zu ihr.

Und die Lemoines haben Glück. Sie sind gross und schlank und haben helle Haut; die meisten Venezolanerinnen sehen ganz anders aus.

Die Soziologin und Feministin Esther Pineda sagt, dass die Misskultur in Venezuela ein Heer unzufriedener Frauen hervorgebracht hat, die niemals dem offiziellen Schönheits­ideal entsprechen werden. Viele seien von ihrer Veranlagung her klein und kurvig. Esther Pineda sagt: Die venezolanische Gesellschaft ist zutiefst ungleich, sexistisch und rassistisch, und das werde sich noch lange nicht ändern. Nicolás Maduro hin, Juan Guaidó her.

Du bist Venezuela

Im TV-Studio wird nun die Krone hereingetragen, auf einem roten Polster. Kamera­zoom: gelber und blauer Saphir und Bernstein. «Die Krone hebt das Majestätische der Frau hervor», säuselt die Moderatorin.

Ganz hinten sitzen die Familien­mitglieder der Kandidatinnen, die Eltern unserer beiden Missen nur wenige Meter voneinander entfernt. Juliette Lemoines Mutter, mit glattem, platinblondem Haar, trägt ein violettes Kleid, das ihre Tante Carolina Herrera designt hat. Isabella Rodríguez’ Mutter hat ihre grau schimmernden Haare hochgesteckt und trägt ein rotes Kostüm; was hat sie sich krummgemacht, um es zu kaufen.

Mary Rodríguez (im roten Kleid) hat sich für die Misswahl extra ein neues Kleid gekauft.

Seelenprüfung. «Wenn du heute Miss Venezuela wirst, verwandelst du dich automatisch in ein Vorbild für viele. Wie würdest du die Macht deiner Stimme nutzen, um das Leben anderer zu verbessern?», fragt ein Moderator.

Juliette Lemoine antwortet, sie wolle allen jungen Leuten mitgeben: dass sie, ganz gleich, wie schlecht es ihnen gerade geht, um Gottes willen nicht aufhören zu studieren. Niemand könne Grosses erreichen ohne Bildung. Ein erstaunlicher Satz in einem Land, in dem Kinder während des Unterrichtes ohnmächtig werden, weil ihre Mägen leer sind.

Ganz Petare feiert Isabella Rodríguez wie einen Star.

Isabella Rodríguez sagt auf die gleiche Frage, wie sie ihren Einfluss als Miss Venezuela nutzen würde, selbstbewusst: «Ich denke, dass ich diesen Einfluss bereits habe, wenn man bedenkt, woher ich komme. Dort bin ich Vorbild für viele junge Mädchen.» Und sie sagt es so warmherzig und strahlend, dass ihr die Herzen im Studio zufliegen.

Bereits einige Minuten zuvor hat sie einen Satz gesagt, der tagelang durchs Land donnern wird wie eine Staffel Kampf­flugzeuge: «Von Petare in die Welt.»

Und der Moderator wiederholt strahlend: «Ja, von Petare in die Welt!»

Eine Journalistin im Publikum flüstert wie zu sich selbst: «Ich hoffe, Petare gewinnt.» Eine Kollegin nickt. Längst geht es nicht mehr nur um die Schön­heit der Kandidatin, es geht um Haltung. Um Moral. Um Ehrlichkeit. Und ja, es ist auch ein Klassen­kampf. Sie weiss, was im Land los ist. Juliette Lemoine, so wirkt es, hat davon keine Ahnung.

Und dann sind nur noch fünf Kandidatinnen übrig, drei Jurys beraten im Hintergrund, in einer sind all jene Firmen vertreten, für die Miss Venezuela bald Werbung machen wird.

Und es ist klar: Geht es nach dem Aussehen, dann könnte Juliette Lemoine gewinnen, die Perfekte. Geht es nach der Ausstrahlung, dann könnte Isabella Rodríguez gewinnen, die Liebenswürdige. Worauf wird die Jury mehr Wert legen in diesen unsicheren Zeiten, im Jahr eins nach dem Skandal?

Die Entscheidung

Die fünf Frauen stehen auf der Bühne und halten einander an den Händen. Spot auf den Moderator, dem nun ein Mann ein Kärtchen mit dem Urteil der Jury reicht.

«Miss Venezuela ist …»

Trommelwirbel. Licht aus. Scheinwerfer an.

«… Miss Portuguesaaa!» Isabella Rodríguez! Die mit dem zu dunklen Teint, den eigentlich krausen Haaren und der falschen Herkunft, sie ist die schönste Frau des Landes.

Juliette Lemoine umarmt sie, die Mund­winkel straff strahlend nach oben gezogen. Und dann tritt sie nach hinten und ihr Gesicht friert ein, und im Publikum wird ihre Mutter zischen, «que horrible, era la más fea, y encima es de un barrio, no tiene clase, no tiene estilo», wie kann diese hässliche Frau aus dem Armen­viertel, die weder Klasse noch Stil besitzt, Miss Venezuela sein, und nicht ihre Tochter?

Isabella Rodríguez posiert als neue Miss Venezuela – Favoritin Juliette Lemoine hat es nur in die Top Five geschafft.

Nur Minuten später wird in den sozialen Netzwerken ein Sturm der Entrüstung losbrechen, unflätig und beleidigend. Zu dunkel! Zu arm! Wie soll so eine ihr Land repräsentieren?

Isabella Rodríguez aber tritt nach vorn, einer der Moderatoren legt ihr eine Schleife um den Hals, und mit der Krone kommen die Tränen.

Der Moderator sagt: «Jetzt bist du Venezuela.»

Ein Triumphzug

Mitte Dezember, einige Tage nach der Wahl, rollt ein beigefarbener Chevrolet durch die engen Strassen von Petare. Die Mutter führt den Zug an, Hunderte folgen ihm, begleitet vom Hupen der Autos, von den Abgasen der Motorräder, vom Geruch nach Urin.

Nach der Show säumen die Menschen in Petare die Strassen und rufen im Chor: «I-sa-bel-la. I-sa-bel-la. I-sa-bel-la.»
Die Botschaft von Isabella Rodríguez: Jede und jeder kann alles erreichen. Auch hier in Petare.

Tausende säumen die Strassen, strahlen und jubeln. Auch sie haben an diesem Tag gewonnen, wie stolz sie sind, die Königin vertritt jetzt ihr Reich, und dann rufen sie im Chor: «I-sa-bel-la. I-sa-bel-la. I-sa-bel-la.»

Aus dem Schiebe­fenster des Chevrolets schaut Isabella Rodríguez, lächelt, winkt, wirft Kussmünder zu, und manchmal steigt sie aus, macht Selfies und gibt Autogramme. Und klettert schliesslich auf eine improvisierte Bühne und hält eine kleine Rede.

Dass jede und jeder alles erreichen könne. Auch hier in Petare. Auch hier in Venezuela. Und obschon das eine schöne Lüge ist, jubeln alle noch lauter.

Ein Monat ist seither vergangen. Und nun ist alles anders, und alles ist offen.

Am Mittwoch vor einer Woche rief sich Juan Guaidó zum Präsidenten aus. Und irgendwo in der Menge stand auch Isabella Rodríguez, in eine venezolanische Flagge gehüllt. Und schrieb später auf Instagram, dass ihr das Herz geblutet habe an jenem Tag, in Venezuela, wo «die Demokratie in Latein­amerika geboren wurde».

Heute, an diesem Mittwoch, 30. Januar 2019, findet die nächste grosse Demonstration in Caracas statt. Hunderttausende werden kommen, unter ihnen Isabella Rodríguez.

Es ist völlig offen, was passiert.

Die Recherche

Reporterin Barbara Bachmann war im Dezember zehn Tage in Caracas, die venezolanische Fotografin Adriana Loureiro Fernández begleitete sie. Bachmann wollte über Venezuela jenseits der Tagespolitik berichten und wusste, dass sie rund um die Misswahl viel über die Menschen und ihre Sehnsüchte erfahren würde. Nie wird sie vergessen, wie eine junge Frau in einem der Slums sie im Ballkleid und auf zwölf Zentimeter hohen Absätzen empfing; ihre Eltern investierten all ihre Ersparnisse in die Schönheit ihrer Tochter, in der Hoffnung, dass auch ihr eines Tages die Krone der Miss Venezuela aufgesetzt werde.

Die Recherche war dann komplizierter als erwartet. Nach dem Sexskandal hatten die Organisatoren Angst vor schlechter Presse und löcherten Bachmann mehrfach, wer denn die Republik und was Ziel und Zweck ihres Artikels sei. Sie erlaubten ihr nicht, die Misswahl vom Backstage-Bereich aus zu beobachten. Was den Vorteil hatte, dass sie im Publikum die Eltern der Kandidatinnen traf und sie mehrfach besuchen und am Telefon interviewen konnte.

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