Menschen stehen Schlange
Ein Land am Abgrund: Menschen stehen Schlange vor einem Supermarkt in Caracas. Ariana Cubillos/AP/Keystone

Der Weg in die Tragödie

An diesem Sonntag wählt Venezuela. Der Gewinner steht jetzt schon fest: Präsident Nicolás Maduro, der das Land endgültig an den Abgrund brachte. Aber wie begann alles, diese hemmungslose Korruption? Warum ertrinkt Venezuela in Schulden?

Von Andreas Fink, 18.05.2018

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Im Hauptteil des Artikels wurde der Zustand des Landes beschrieben, am Vorabend der als sicher geltenden Wiederwahl von Präsident Nicolás Maduro. In der Folge lesen Sie als Bonustrack die Vorgeschichte.

Die Radikalisierung des Hugo Chávez

Caracas, Abend des 6. Dezember 1998: «Und wenn in ein paar Stunden die Morgenröte anbricht, dann wird sie die Geburt einer neuen Heimat ankündigen!», ruft der junge Mann im weissen Hemd in die Menge. 56 Prozent der Venezolaner sind die Korruption, die Klüngel, die Misswirtschaft leid – und haben für den ehemaligen Fallschirmjäger und Putschisten Hugo Chávez gestimmt. Im Wahlkampf hatte dieser für den «dritten Weg» des britischen Premierministers Tony Blair geschwärmt, für eine Sozialdemokratie, die aus den Fehlern von Kapitalismus und Sozialismus gelernt hat.

Chávez verspricht mehr Demokratie, mehr Bildung, eine Landreform und die Umverteilung der Gewinne des viertgrössten Ölexporteurs der Welt zugunsten der armen Bevölkerung. Die venezolanische Oligarchie hasst ihn – und organisiert 2002, mit Rückendeckung der USA, einen Putsch. Dieser bricht nach nur 22 Stunden kläglich zusammen.

Siegerpose: Hugo Chávez während der erfolgreichen Präsidentschaftskampagne 1998. John van Hasselt/Sygma/Getty Images

In den Jahren darauf radikalisiert Chávez seinen Diskurs. Und ruft 2007, befeuert von satten Rohstoffgewinnen, den «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» aus. Der Staat übernimmt die Kontrolle über Telekommunikation, Stromversorgung und wichtige Industrien. Ausländische Ölkonzerne müssen höhere Abgaben zahlen und werden zum Juniorpartner der staatlichen Ölfördergesellschaft PDVSA gemacht. Drei Millionen Hektar Ackerland werden «nationalisiert». Insgesamt verstaatlicht Chávez zwischen 2007 und 2009 fast 1200 Unternehmen – und zahlt dafür 23,4 Milliarden Dollar an Entschädigungen.

Es ist der Todesstoss für die venezolanische Wirtschaft.

Heute, ein Jahrzehnt später, liegen Stahl-, Zement- und Bergbauindustrie lahm. Viele Felder sind verwildert, weil es an Saatgut, Dünger und Ersatzteilen fehlt – und es sich nicht lohnt, zu den staatlich verordneten Festpreisen zu produzieren. Telefon- und Stromnetze sind zerfetzt, Wasserleitungen marode. Auch in Caracas fliesst gelbliches, stinkendes Nass nur noch unregelmässig aus den Hähnen.

Selbst die Ölindustrie, die Lebensader des Landes, ist am Ende, die Bohrtürme rosten. US-Ölkonzerne haben Venezuela auf Entschädigung verklagt, Conoco-Phillips bekam kürzlich von der International Chamber of Commerce (ICC) zwei Milliarden Dollar zugesprochen und hat daraufhin venezolanische Anlagen auf Curaçao, Bonaire und Sint Eustatius besetzen lassen. Als Nächstes, so heisst es, wolle man venezolanische Öltanker beschlagnahmen lassen.

Jahrzehntelange Fehlentscheidungen

Motorfahrzeug-Zulassungsstelle, Caracas, 23. Dezember 2009: Es gibt ein Missverständnis. «Was für eine Anzahlung?», fragt Hugo Chávez die Managerin der Banco de Venezuela. Am nächsten Tag ist Heiligabend, der Comandante spielt den Weihnachtsmann. Zur besten Sendezeit übergibt er feuerrote Neuwagen an Bürger, die diese Autos mit einem günstigen Kredit gekauft haben, von der kürzlich verstaatlichten Bank. Was Chávez nun vor laufender Kamera erfährt: Die stolzen Autobesitzer müssen mindestens ein Fünftel der Summe anzahlen.

Ja, der Finanzierungsrahmen umfasse maximal achtzig Prozent, bestätigt die Managerin. «Aber warum?», fragt Chávez mit einer Stimme, deren gespannte Ruhe ein unheilvolles inneres Grollen nur mühsam überdeckt. «Ich bitte doch um einen Kredit, um eine Hilfe. Und du baust mir eine Mauer auf? Victoria, wie lange bist du schon bei dieser Bank?» «15 Jahre, Comandante.» «Gut, dann werde ich dir jetzt mal was erklären.»

Chávez blickt in die Kamera. «Vor dem ganzen Land und mit meinem grössten Respekt und meiner grössten Zuneigung für dich. Hör zu: Die Banco de Venezuela hat einen neuen Besitzer. Das ist jetzt keine Privatfirma mehr, jetzt ist diese Bank öffentlich und gehört dem Staat. Und Ihr Angestellten müsst auch einen Beitrag leisten und ein bisschen Herz zeigen.» «Aber das tun wir doch, Comandante.» «Dann verdoppelt euren Beitrag und zeigt doppelt so viel Herz. Denn das, was du mir da erzählst, Victoria, das gefällt mir überhaupt nicht.» Und so geht die Schuldenorgie erst richtig los.

Nun, acht Jahre nach Chávez’ öffentlicher Instruktion über das Kreditwesen, scheint der Staat am Ende seiner Zahlungsfähigkeit angekommen. Am 2. November 2017 gibt Nicolás Maduro bekannt, dass Venezuela seine Verbindlichkeiten «reformatieren» müsse. Ausgerechnet am Tag der Toten Lateinamerikas, dem «día de los muertos», ist das Land quasi pleite.

Man schätzt, dass Venezuelas Wirtschaftsleistung seit 2013 um etwa vierzig Prozent geschrumpft ist. Niemals zuvor hat ein Land, das nicht in einen Krieg verwickelt war, einen solchen Absturz erlebt. Ricardo Hausman, Harvard-Professor für Entwicklungsökonomie, hat errechnet, dass dies die «schlimmste ökonomische Katastrophe in der westlichen Hemisphäre aller Zeiten» sei. Weit dramatischer als die Weltwirtschaftskrise der 1920er-Jahre. Der Grund? «Fehlentscheidungen, die in Venezuela getroffen wurden.»

Sie reichen weit zurück. In den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts ist das dünn besiedelte Venezuela Südamerikas grösster Produzent von Kakao und Kaffee. Als um 1930 die Weltmarktpreise für Kaffee verfallen, werten alle lateinamerikanischen Kaffeenationen ihre Währungen ab – nur Venezuelas Bolivar bleibt hart. Die Regierung verlässt sich auf das seit einigen Jahren aus dem Maracaibo-See sprudelnde Erdöl. Jahrzehntelang bleibt der Bolivar überbewertet. Bis in die 1980er-Jahre exportiert Venezuela mehr Erdöl als Saudiarabien. Und bleibt ein Rentenstaat ohne eigene Entwicklung. Immer wieder versuchen Präsidenten und Militärs, eine heimische Industrie aufzubauen, landwirtschaftliche Grossprojekte zu etablieren oder den Tourismus anzukurbeln, im Land mit dem längsten Karibikstrand. Sie alle scheitern am starken Bolivar: Ein Gut zu importieren, ist billiger, als es selbst herzustellen.

2003, da herrscht schon Chávez, werden Devisenkontrollen eingeführt, samt festgeschriebenen Wechselkursen. Das soll Kapitalflucht verhindern – und nährt einen absurden Schwarzmarkt. Die Inflation explodiert, die Kurse auf den Schwarzmärkten explodieren – doch der offizielle Wechselkurs bleibt bis vor wenigen Monaten fest: 10 Bolivar für 1 Dollar.

Die Folge: gigantische, unfassbare Korruption. Importeure, Militärs und Günstlinge bekommen Dollars weiterhin zum lächerlich niedrigen offiziellen Kurs. Sie kaufen für 10 Bolivares einen Dollar – und verkaufen ihn für 10’000, 50’000, 100’000 Bolivares. Nie gab es ein besseres Geschäft. Selten wurde ein Land so hemmungslos ausgesaugt.

In den ersten Jahren der bolivarischen Revolution fällt das nicht auf. Die Milliarden fliessen ja, den explodierenden Rohstoffpreisen sei Dank, gerade zwischen 2004 und 2008. 2005 lässt Hugo Chávez die Statuten der Zentralbank ändern und kann nun direkt auf die Einnahmen der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA zugreifen. Es folgen: eine Konsumfiesta für die Mittelschicht und Sozialprogramme für die Armen. Linke Politiker und Aktivisten aus aller Welt pilgern nach Caracas, Chávez wird zum wohl meistbiografierten Mann der Welt.

Die Lebensader des Landes: Ölfelder bei Maracaibo, im März 1927. Interfoto/Zill/Keystone

2008, mit der Finanzkrise, crasht auch der Ölpreis. Venezuela hat nun zwei Probleme: Die Einnahmen sinken, die Kredite werden teurer. Chávez retten vorerst Kredite von chinesischen Entwicklungsbanken, mit ultrakurzen Rückzahlfristen von drei Jahren. Mehr als sechzig Milliarden Dollar bekommt Venezuela aus China. Schon 2011 verschlingt der Schuldendienst dafür den Gegenwert von knapp zwanzig Prozent aller Ausfuhren. 2015 sind es 55 Prozent.

Da ist schon Nicolás Maduro an der Macht. Er steht am Scheideweg. Soll er umschulden? Dazu hätte er vor dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank den Kotau machen müssen. Niemals.

Stattdessen beschliesst er, die Importe drastisch zu reduzieren. Von 66 Milliarden Dollar im Jahr 2012 auf 12,3 Milliarden Dollar 2017. Lebensmittel, Arzneien, Ersatzteile – gibt es nun nicht mehr. Damit besiegelt Maduro den endgültigen Kollaps des Gesundheitssystems, der Landwirtschaft, der Ölindustrie. Bedient seine Schulden in New York und Peking – und verurteilt sein Volk zu Hunger und Hoffnungslosigkeit.

Die Predigt des Präsidenten

Bundesstaat Miranda, Mai 2009: Der Mann, schmächtig, gebeugt, kann nicht antworten, er kann nur nicken zu der Suada, die da auf ihn einprasselt. «Hör zu, ein Reicher ist kein Mensch, er ist ein Tier in Menschengestalt!», deklamiert der Präsident im grünen Uniformhemd in einem der vielen Armenviertel um die Metropole Caracas. Hugo Chávez legt beide Hände auf die Schultern des Schmächtigen. «Reich sein, das ist schlecht! Nein, das sage nicht ich, ich leihe mir nur diesen Satz von Christus, unserem Herrn, an den ich glaube. Der Prophet Jesaja verteufelte die Reichen. Christus und die Propheten waren Sozialisten, denn sie kämpften gegen die Reichen wie wir in dieser Revolution.»

Präsidiale Predigten wie diese gehören zum Tagesprogramm auf dem Staatskanal Venezolana de Televisión. Immer wieder zitiert der Comandante die Bibelstelle Markus 10,25: «Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.» Es ist seine Botschaft an sein Volk, das ihn verehrt, weil es glaubt, dass er einer von ihnen ist. Jeder weiss, dass Chávez in einem Elternhaus aufwuchs, dessen Boden aus gestampfter Erde bestand.

Chávez’ Geburtshaus im Ort Sabaneta brennt im Mai 2017 ab, angezündet von wütenden Demonstranten, nachdem die Nationalgarde einen 19-jährigen Demonstranten erschossen hat. Und auch sonst hat die Moritat von Arm und Reich erhebliche Risse bekommen, nicht nur wegen der Patek-Philippe-Uhren, die der Comandante so gern am Handgelenk trug. Sondern wegen des Lebenswandels, den Chávez’ Verwandte, Vertraute und Günstlinge schamlos zur Schau stellen, während die Regierung den Sozialismus des 21. Jahrhunderts predigt.

In den Hollywood-Villen rund um das Golf-Grün des Caracas Country Club siedeln nun Revolutionäre. Einer davon heisst Rafael Salazar Carreño, man nennt ihn den «goldenen Roten». In der Adventszeit 2012 fährt er auf Shoppingtour nach Paris. Er kauft 694 Flaschen 1990er Château Pétrus Pomerol zu 5560 Euro la bouteille, dazu Champagner und andere feine Tropfen; die Weinhandlung Lavinia am Boulevard de la Madeleine berechnet 493’573 Euro. Dazu kauft Salazar Carreño Uhren und Schmuck für 3 Millionen und Kunst für 2 Millionen Euro ein. Es ist ja bald Weihnachten.

Und ja, er hat ein Herz fürs Volk. Dem Concierge im Hotel Crillon überlässt er ein Trinkgeld von 99’000 Euro. Der Beschenkte meldet das erschreckt an seine Vorgesetzten. Die informieren die französischen Finanzbehörden.

Eine internationale Ermittlung läuft an. Nicht lange, da entdecken die Steuerfahnder eine Waschmaschine für ölige Milliarden in Andorra – venezolanische Funktionäre unterhalten hier Konten, um Schmiergelder zu reinigen. Die Gelder kommen über Panama und wandern weiter in ein weitverzweigtes Netz von Konten, auch in die Schweiz, selbstredend, wo die Genfer Compagnie Bancaire Helvétique SA CBH ihre Fertigkeiten in der diskreten Vermögensverwaltung anbietet. Das zeigt eine am 11. Mai 2018 in Venezuela und Spanien publizierte Recherche. Über Jahre haben die korrupten Compañeros eine Provision von 10 und 15 Prozent berechnet, ehe sie einen Auftrag vergaben. Ein grosser Teil des Schmiergeldes stammt aus China.

2015 gelingt es Salazar Carreño auf wundersame Weise, dass die andorranische Justiz ihm 200 Millionen Euro freigibt. Dabei hatten US-Ermittler gebeten, das Geld einzufrieren. So kann Salazar Carreño daheim weiter pressen. Im zerbröckelnden Caracas hält er sich ein Salsa-Orchester mit hundert Musikern, zu dessen Auftritten er ziemlich schief singt.

Am 1. Dezember 2017 wird Salazar Carreño dann doch verhaftet. Sein Cousin ist beim Präsidenten in Ungnade gefallen. Sein Cousin Rafael Ramírez. Ramírez war Chef der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA, Energieminister und seit 2014 Venezuelas Botschafter bei der Uno. Dort knüpfte er Kontakte zu US-Behörden, offenbar, um Anschub für eine Kandidatur gegen Maduro zu gewinnen. Im vorigen Herbst begann er, Maduro öffentlich zu kritisieren. Ein Fehler. Prompt liefen Ermittlungen wegen Korruption an.

Inzwischen wirft Venezuelas Generalstaatsanwalt Ramírez das Verschwinden von 45 Milliarden Dollar aus der Ölkompanie vor. Das entspricht dem Zehnfachen der aktuellen Devisenreserven des Landes. In einem «Feldzug gegen die Korruption» haben die Behörden inzwischen 70 ehemalige Ölmanager festgenommen.

Rafael Ramírez ist derweil aus den USA geflohen – wo er ebenfalls gesucht wird – und abgetaucht. Es heisst, er besitze inzwischen einen monegassischen Pass. Der hat ein feines Feature: Es besteht kein Auslieferungsabkommen zwischen Monaco und den USA.

Sein Fiesta-Vetter Salazar Carreño sitzt weiterhin im Geheimdienstgefängnis von Caracas. Wo er offenbar eifrig weitersingt – über seinen Cousin, genauso korrupt wie er selbst.

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