Nach dem Massaker

Vor genau vier Jahren fand das Attentat auf «Charlie Hebdo» statt. Wie geht ein Land mit diesem Trauma um? Eine Übersicht über Versuche der Verarbeitungen.

Von Marc Zitzmann, 07.01.2019

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Wie verarbeitet man Terror künstlerisch? Aus «La Légèreté» von Catherine Meurisse. © Catherine Meurisse/Dargaud, 2016

Am Morgen des 7. Januar 2015 überfallen zwei Vermummte die Redaktions­räume von «Charlie Hebdo» im 11. Pariser Arrondissement und ermorden zehn Personen. Auf dem An- beziehungsweise Abmarsch töten sie ausserdem einen Wartungsmann und einen Polizisten. Derweil die beiden auf der Flucht sind, erschiesst ein Komplize an den zwei folgenden Tagen in und bei Paris eine Polizistin sowie vier Kunden eines jüdischen Supermarkts. Am 9. Januar finden die drei Terroristen bei koordinierten Sturmangriffen den Tod.

Der Anschlag auf «Charlie Hebdo» war ein epochales Ereignis. Obwohl weitaus weniger opferreich als die Attentate vom 13. November 2015 in Paris (130 Tote) und vom 14. Juli 2016 in Nizza (86 Tote), rief das Massaker eine beispiellose Resonanz hervor. So gingen am 11. Januar 2015 landesweit gut vier Millionen Demonstranten auf die Strasse – die grösste Massenkundgebung in Frankreichs Geschichte.

Wie lässt sich die Intensität dieser Schockreaktion erklären? Eine etwas simple These lautet, im Januar 2015 sei Frankreich aus einer fast zwanzigjährigen «Friedensphase» ohne mörderische Attentate grösseren Ausmasses herausgerissen worden (eine dem algerischen Groupe islamique armé zugeschriebene Anschlagserie hatte 1995 in Paris acht Todesopfer gefordert). Daher die Fassungslosigkeit, die sich in Massen­demonstrationen Luft machte – während spätere Attentate von der breiten Öffentlichkeit bereits mit Bangen erwartet und deshalb wohl auch mit mehr Fassung ertragen wurden.

Allerdings geht diese Erklärung über die Anschlagsserie von Mohammed Mehra (März 2012, sieben Todesopfer) und über das Attentat von Mehdi Nemmouche (Mai 2014, vier Todesopfer) hinweg. Schon diese beiden Massaker hatten die dschihadistische Terrordrohung jäh ins öffentliche Bewusstsein zurückgerufen; die Reaktionen, die sie zeitigten, waren aber bei weitem nicht zu vergleichen mit der durch den Anschlag auf «Charlie Hebdo» ausgelösten Schockwelle.

Mehra und Nemmouche hatten es allerdings auf Juden abgesehen; Mehra ermordete zudem drei muslimische (beziehungsweise in seinen Augen «muslimisch» aussehende) Soldaten. Vertreter beider Konfessionen mutmassten im Rückblick nicht ohne Bitterkeit, die Zugehörigkeit der Opfer zu einer religiösen Minderheit dürfte für die verhältnismässig gedämpften Reaktionen auf beide Anschläge verantwortlich sein.

Auch die am 9. Januar 2015 ermordeten vier Juden wurden – und werden bis heute – zugunsten der getöteten Journalisten gern vergessen (wenn in diesen Zeilen bündig vom «Anschlag auf ‹Charlie Hebdo›» die Rede ist, so sollen damit ausdrücklich nicht nur die acht am 7. Januar 2015 ermordeten Redaktionsmitglieder des Satireblatts gemeint sein, sondern auch die neun übrigen Todesopfer der dreitägigen Anschlagsserie sowie die 185 an Leib und/oder Seele Versehrten, die behördlicherseits als Opfer anerkannt wurden).

Die These, dass es der Überraschungseffekt war, der die beispiellose Reaktion auf den «Charlie»-Anschlag hervorrief, steht also auf wackligen Füssen. Unbestreitbar ist hingegen, dass viele Menschen sich damals betroffen fühlten, weil der Name mehrerer Opfer, ihr Werk, ihr Gesicht, womöglich gar ihre Stimme ihnen vertraut war. Charb, Honoré, Bernard Maris, Tignous, Wolinski waren bekannte Pressezeichner und Publizisten; Cabu erlangte dank seiner Teilnahme an der populärsten TV-Sendung für Kinder in den 1980er-Jahren gar den Status eines Stars. Es ist allzu menschlich, dass einem die Ermordung von Menschen, die man irgendwie zu kennen glaubt, näher ans Herz geht als jene von Unbekannten.

Schliesslich bildete der Anschlag auf «Charlie Hebdo» auch einen frontalen Angriff auf die Pressefreiheit. Am Anfang der Attentatsserie stand der beispiellose Versuch, eine ganze Redaktion auszulöschen. Und das in der Hauptstadt jenes Landes, das seit 1789 das Recht auf freie Meinungs­äusserung auf dem Banner trägt. Der weltweite Aufschrei des Entsetzens hat deshalb sicher auch mit der verbreiteten Assoziation von «Freiheit» und «Frankreich» zu tun.

All diese Gründe mögen mit erklären, warum der Anschlag auf «Charlie Hebdo» eine Reaktion zeitigte, die jene auf alle anderen Attentate in Frankreich bei weitem übertraf. Diese Vorrangstellung schlägt sich auch in der Zahl der französischen Publikationen zum Thema nieder. Fast fünfzig Bücher beschäftigen sich in der einen oder anderen Form ausschliesslich mit der Anschlagserie vom Januar 2015. Aber lässt sich ein so schweres kollektives Trauma publizistisch überhaupt sinnvoll bewältigen? Wie hat Frankreich die schrecklichen Ereignisse verarbeiten können? Eine Bestandsaufnahme zum vierten Jahrestag des Attentats.

Minute für Minute

Was ist damals wirklich geschehen? Lassen sich jenseits des Schocks die Tatsachen überhaupt erfassen? Eine erste Kategorie von Publikationen versucht genau das: die Fakten minutiös zu rekonstruieren.

Die vollständigste Schilderung des Tathergangs findet sich in «Et soudain, ils ne riaient plus» von Marie-France Etchegoin, Marie-Amélie Lombard-Latune, Dorothée Moisan und Thierry Lévêque. (Die Angaben und Links zu allen erwähnten Titeln und die deutschen Übersetzungen finden Sie am Ende des Textes.) Die vier Journalisten erzählen den Gang der Ereignisse Stunde für Stunde, ja Minute für Minute nach, gestützt auf die Befragung von gut hundert Zeugen und auf die Lektüre Tausender von Seiten offizieller Dokumente. Der Detailreichtum ist beeindruckend und geht bis hin zum sechsstelligen Türcode der Redaktion, den die Terroristen im Treppenhaus einer Mitarbeiterin mit der Kalaschnikow an der Schläfe entrissen hatten.

Fragen über Fragen

Dennoch sind es nicht unbedingt die detailversessenen, objektiven Rekonstruktionen, die einen Zugang zu den Geschehnissen vermitteln. Schon eher leisten das die Publikationen von Überlebenden wie Philippe Lançon und von Angehörigen ermordeter Redaktionsmitglieder. Sie verbinden bewusste Subjektivität mit der Authentizität des Direkt­betroffenen.

In «Chérie, je vais à Charlie» etwa erzählt Maryse Wolinski, die Ehefrau des ermordeten Zeichners Georges Wolinski, in spannungsförderndem Präsens «ihren» 7. Januar nach. Dabei wirft die Journalistin und Romanautorin auch zahlreiche, kritische Fragen auf, die bis heute nicht wirklich befriedigend beantwortet sind:

  • Was hat es mit dem dritten Mann auf sich, den mehrere Zeugen (auch Polizisten) am Steuer des Terroristenautos gesehen haben wollen?

  • Warum war das Satireblatt, auf dessen Mitarbeiter es seit dem Nachdruck der dänischen Mohammed-Karikaturen Anfang 2006 Todesdrohungen hagelte und auf dessen Redaktionssitz 2011 ein Brandanschlag verübt worden war, 2015 in nur schwach geschützten Räumlichkeiten untergebracht?

  • Warum war der Polizeischutz wenige Wochen vor dem Massaker gelockert worden (bis November 2014 stand ein Polizeiwagen vor dem Hauseingang)?

  • Warum waren die Ordnungskräfte erst so spät zur Stelle, wo in den fünfzehn Minuten, während deren die amateurhaft vorbereiteten Mörder erst das Gebäude, dann das Stockwerk und endlich den Türcode der «Charlie»-Redaktion suchten, nicht weniger als elf Notrufe eingegangen waren, die von vermummten Männern mit Sturmgewehren sprachen?

Zeichnungen

Ein Bild, heisst es, sagt mehr als tausend Worte. Das trifft zumal dann zu, wenn – wie im Fall mehrerer Überlebender der «Charlie»-Redaktion – Zeichnen die natürliche Ausdrucksform darstellt. Es kann nicht verwundern, dass der Anschlag auch in mehreren Graphic Novels verarbeitet wurde.

Doch was ist nach einem solchen Schock noch natürlich? Schon der Griff zum Malstift gerät mitunter zur scheinbar unüberwindlichen Hürde. Entsprechend gleichen die Publikationen von Überlebenden, die ihr Trauma in gezeichneter Form verarbeitet haben, weniger Erlebnisberichten denn Psychografien. Sie sind Zeugnisse verzweifelter Versuche, die innere Zerrissenheit zu flicken.

So namentlich zwei Bände von Catherine Meurisse und Luz. Beide «Charlie»-Zeichner trafen am 7. Januar 2015 mit Verspätung am Redaktionssitz ein. Bei Nachbarn versteckt, hörten sie die 34 Schüsse der Terroristen. «La Légèreté» führt in Comicform vor Augen, was Catherine Meurisse an jenem Tag geraubt wurde: die Leichtigkeit – zu zeichnen, zu lieben, zu leben. Ihre monatelange Betäubung überwand die Zeichnerin dank «der Schönheit» – einer Landschaft, eines Musikstücks, eines Gemäldes.

Noch bezwingender ist «Catharsis», der Versuch von Luz, das erlittene Trauma zeichnend zu exorzieren. Den besten dieser dreissig streiflichtartigen Kurzgeschichten gelingt es, Wirkung und Folgen des Grauens auf den, der ihm ohne jeden psychischen Schutzschild ausgesetzt war, mit genuin bildkünstlerischen Mitteln nacherlebbar zu machen.

In «Rouge à lèvres» zeigt sich Luz unterwegs zu den Redaktionsräumen. Alles in Schwarz-Weiss, nur auf den Treppenstufen etwas wie Lippenstift­spuren. Im zweiten Stock öffnet der Zeichner die Tür. Der Leser wendet die Seite – und jäh springt ihn ein seitenbedeckender Farbklecks an, rot wie der Tod.

© LUZ/Futuropolis, 2015
© LUZ/Futuropolis, 2015
Die blutige Spur des Terrors: Luz, «Catharsis».© LUZ/Futuropolis, 2015

Später dann zeichnet Luz für den Polizisten, der wissen will, was er vor Ort gesehen habe, sich selbst als Strichmännchen. Es besteht fast nur aus Augen. Aus kreisrunden, starr aufgerissenen Riesenaugen.

Charb

Eine weitere Kategorie von «Bewältigungsliteratur» besteht aus nachgelassenen Schriften. Die Aura des Testamentarischen haftet ihnen an – im Guten wie im Schlechten. Einerseits mag die Nachwelt als in Marmor gemeisselt ansehen, was lediglich dem Moment entsprungen ist. Anderseits mögen solche Schriften den Schlusspunkt hinter ein Lebenswerk setzen, indem sie seine Geschlossenheit und Folgerichtigkeit herausstreichen.

Wirbel rief eine postume Veröffentlichung des Zeichners Charb hervor. Sein «Brief an die Heuchler: Und wie sie den Rassisten in die Hände spielen» («Lettre aux escrocs de l’islamophobie qui font le jeu des racistes») ist ein Pamphlet, das der damalige Chefredaktor von «Charlie Hebdo» zwei Tage vor seiner Ermordung fertiggestellt hat. Das Unwort «Islamophobie» ist für Charb eine scheinheilige Moralkeule gegen jene Art von als «Blasphemie» verschriene Aufklärung, die sein Satireblatt betreibt, wenn es beissende Kritik am Islam als Religion übt, vor allem aber schonungslos die Untaten aufdeckt, die im Namen dieses Glaubens begangen werden.

Charbs «Brief» bildet auch eine streitbare Replik auf den seit gut zehn Jahren immer wiederkehrenden Vorwurf, «Charlie Hebdo» hacke obsessiv auf den Muslimen herum – auf allen Muslimen. Triftige Argumente dafür und dawider wurden vorgebracht, zwei Soziologen nahmen sogar über fünfhundert Titelseiten unter die Lupe – und sprachen das Satireblatt von dem Vorwurf frei. Aber im Kontext der Diskussion über die Attentate ist es letztlich müssig, ob sich in den Spalten von «Charlie Hebdo» Spuren von Hass auf Muslime finden lassen oder nicht. Wenn dem so wäre, hätte das Blatt eine gerichtliche Strafe verdient (alle entsprechenden Klagen wurden abgewiesen), nicht eine Blutrache.

Und die Intellektuellen?

Wie in Frankreich nicht anders zu erwarten, haben sich auch Scharen von Intellektuellen mit dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» befasst. Bedauerlicherweise sind professionelle Denker dem Ereignis bis jetzt nicht wirklich gerecht geworden.

Die am meisten diskutierte Analyse zum Thema stammt von Emmanuel Todd: «Qui est Charlie?» Der Titel nimmt Bezug auf den Slogan «Je suis Charlie», mit dem nicht nur Franzosen unmittelbar nach dem Anschlag in Scharen ihre Solidarität mit den Opfern bekundeten.

Statt mit dem Anschlag befasst sich Todd also mit den Massen­demonstrationen der Tage danach. Bei diesen habe ein «hegemonialer Block» aus Senioren, Vertretern der Mittelklasse und dem, was der Autor so griffig wie respektlos «Zombie-Katholiken» nennt, seine Dominanz über die Arbeiter und die Bewohner der sozial benachteiligten Banlieues behauptet. Was wie ein Protestmarsch für die Ausdrucksfreiheit aussah, sei in Wirklichkeit eine Demonstration für eine ungerechte, egoistische Gesellschaft gewesen. Untermauert wird diese These durch demografische Landeskarten aus vier Jahrhunderten, die Todd miteinander vergleicht. Die Methodologie von «Qui est Charlie?» wurde jedoch angefochten.

Immerhin stimuliert dieser Essay zu Widerspruch auf hohem Niveau. Derweil die Beiträge im Sammelband «Penser le 11 janvier» oft nur Achselzucken, wo nicht gar Kopfschütteln hervorrufen. Die üblichen Verdächtigen – Rony Brauman, Jacques Julliard, Alain Touraine et al. – entwickeln ihre sattsam bekannten Thesen zum islamistischen Terrorismus. Alain Badiou will diesen durch die «Reaktivierung des kommunistischen Gedankenguts» bekämpft sehen; Peter Sloterdijk befindet, Frankreich sei nach den Anschlägen in psychopolitisch besserer Verfassung, und leitet aus dieser Diagnose ein einfaches Mittel gegen die «Lauheit» der modernen Gesellschaften ab: «Es genügt, die Temperatur unserer Überzeugungen zu erhöhen. Wir müssen also für eine etwas weniger träge Lebensform votieren.»

Nichts von alldem zeichnet sich durch Tiefe oder zumindest – wie Todds Essay – durch einen originellen, querdenkerischen Ansatz aus.

Fiktion

Kommt man dem heiklen Thema mit den Mitteln der Belletristik vielleicht besser bei als mit jenen der Essayistik? Fördert die Fantasie profundere Einsichten zutage als der Verstand? Wer immer ein Attentat als Stoff für ein Gedicht oder für einen Roman wählt, sieht sich fast automatisch den Vorwürfen des Opportunismus, der Pietätlosigkeit, ja der Sensationsgier ausgesetzt. Doch Literatur darf – grundsätzlich – alles: Unter dem Strich zählt einzig das Ergebnis.

Wenig überraschend scheitern die meisten Fiktionen, die den Anschlag auf «Charlie Hebdo» thematisieren, am Unvermögen, dem realen Ereignis ein Stück Literatur von vergleichbarer Wucht entgegenzustellen. «J’étais la terreur» von Benjamin Berton indes entpuppt sich als lesenswert. Zwar scheint dem halsbrecherischen Thema das Scheitern eingeschrieben: Einer der drei Attentäter steigt im Mai 2015 aus einem grabartigen Versteck und beginnt inkognito ein neues Leben als geläuterter Mensch.

Man reibt sich die Augen. Aber lediglich drei Kapitel spielen in der Zeit nach dem Anschlag; der grösste Teil des Romans zeichnet differenziert und mit direktem Bezug auf den Lebenslauf des realen Täters nach, wie der Ich-Erzähler vom Waisenkind zum Massenmörder wurde. «J’étais la terreur» ist kein bedeutender Roman, bringt aber den Mut auf, zu bekräftigen, dass noch im abgestumpftesten Verbrecher ein empfindungs­begabter, besserungs­fähiger Mensch schlummert. Behauptet Literatur solcherart die Komplexität des Daseins gegen Gemeinplätze wie die Behauptung, Terroristen seien keine Menschen mehr, erfüllt sie zumindest einen Teil ihrer Daseinsberechtigung.

Aufstieg und Niedergang

Von dem Attentat und seinen Opfern wandert der Blick einiger Beobachter weiter zu der Gemeinschaft von Menschen und von Werten, die den Namen «Charlie Hebdo» trägt. Eine letzte Kategorie von Publikationen beschreibt so, wie die Redaktion des Satireblatts als Zusammenspiel (beziehungsweise Zusammenprall) höchst unterschiedlicher Temperamente im Lauf der Jahrzehnte (dis)funktioniert hat. Und zeichnet nach, welche Metamorphosen das gedruckte Produkt in dieser Zeit durchlief. Erstaunlicherweise gehören gerade diese Erzählungen zu den fesselndsten Dokumenten unserer Auswahl.

«Charlie Hebdo, le jour d’après» von Marie Bordet und Laurent Telo berichtet minutiös, wie sich die Redaktion des Satireblatts in den Monaten nach dem Anschlag zerfleischte. Der Erzählduktus ist arg theatralisch, aber der Plot wirkt in jeder Zeile echt und hart wie das Leben. Unter dem Druck des erlittenen Traumas, der unmöglichen Trauerarbeit, der inquisitorischen Neugier der Weltöffentlichkeit, der permanenten Einmischungen von Politikern, Rechtsanwälten und PR-Profis, nicht zuletzt der in die Redaktionskassen niederprasselnden Millionen bricht das fragile «Charlie»-Häuschen bald zusammen.

Der Schaden scheint irreparabel – aber vielleicht war das Fundament ja schon lange marode. In «Mohicans» beschwört Denis Robert mit den Mitteln des Gonzo-Journalismus die Geschichte einer Handvoll Zeitschriften herauf, die zwischen 1960 und 1970 gegründet wurden. «Charlie Hebdo» ist die jüngste von ihnen. Blätter, die einst «nach Wichse, Schweiss, Alkohol und Freiheit rochen und die, wies der Ungeist der Zeit will, seitdem zu Marken geworden sind». Ein packender Hintergrundbericht über eine «tumultreiche, prächtige, traurige und schmachvolle» Entwicklung, die der Autor für beispielhaft hält.

Tatsächlich sagen Aufstieg und Fall von «Charlie Hebdo» viel über den Wandel der Zeiten aus. So wie Denis Robert es schildert, sprengten die satirische Zeitschrift und ihre Schwesterblätter – die grossteils von denselben Autoren geschaffen wurden – einst mit libertärer Chuzpe, ätzendem Humor und sanfter Tollheit alle Tabus in die Luft.

Es war eine verrückte Zeit, doch sie währte nicht lange. Faktoren wie die gesellschaftliche Liberalisierung unter Giscard d’Estaing, die Übernahme des «Charlie»-Tons durch andere Zeitungen (namentlich «Libération») und die zweite Ölpreiskrise, welche die Konsum- und Wachstumskritik des Satireblatts als überholt erscheinen liess, führten 1982 zu dessen Einstellung.

1992 neu lanciert, stand «Charlie Hebdo» dann primär im Dienst der Karrierepläne des ambitiösen Chefredaktors Philippe Val. Dieser entliess Aufmüpfige, knebelte Vorlaute und beförderte Handzahme. Glaubt man Robert (und vielen anderen), hielt es Val mit der Maxime «nach oben buckeln, nach unten treten». Was ihm unter Sarkozy, der ein Faible für linke Überläufer mit Höflingsmentalität hatte, den Direktorenposten eines staatlichen Radiosenders einbrachte. «Charlie Hebdo» – daran besteht seit der blutigen Tragödie kein Zweifel – ist eine Heldengeschichte. Aber es ist wie immer: Die Akteure sind Menschen und agieren nicht immer heldenhaft.

Und das Fazit?

Die Erinnerung an den Anschlag auf «Charlie Hebdo» ist nach vier Jahren nicht verloren, aber verblasst. Attentate jüngeren Datums haben seinen Platz auf dem Palimpsest des Terrors überlagert. Wie hat das Land als Ganzes die Attacke zu verarbeiten vermocht? Will man hierzu nicht Mutmassungen und Küchenpsychologie bringen, sondern differenzierte Fakten, ist eine breit angelegte Forschungskampagne nötig, bei der ein repräsentatives, vielhundert­köpfiges Bevölkerungspanel über Jahre hinweg befragt wird.

Ein solches Programm existiert tatsächlich – aber nicht für den Anschlag auf «Charlie Hebdo», sondern für die Pariser Attentate vom Herbst desselben Jahres. «13-Novembre» dürfte das ambitiöseste transdisziplinäre Forschungs­projekt zum Terrorismus sein, das es je gegeben hat – weltweit. Es nimmt die komplexen Wechselbeziehungen zwischen individuellem und kollektivem Erinnern unter die Lupe, und das über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg.

Letztlich sucht «13-Novembre» genau die Frage zu beantworten, deren Facetten die hier zitierten Buchpublikationen streiflichtartig beleuchten: Wie geht eine Gemeinschaft mit dem massiven Trauma eines Massakers um? Dass ein derart kosten- und zeitintensives Programm keine fünf Monate nach der betreffenden Anschlagserie starten konnte, war allein deshalb möglich, weil wenig zuvor der Anschlag auf «Charlie Hebdo» das Bewusstsein für die Terrorproblematik drastisch geschärft hatte.

Die im Text erwähnte Literatur

Marie-France Etchegoin, Marie-Amélie Lombard-Latune, Dorothée Moisan, Thierry Lévêque: «Et soudain ils ne riaient plus». Les Arènes 2016, 415 S., ca. 21 Euro.

Maryse Wolinski: «Chérie, je vais à Charlie». Seuil 2016, 144 S. ca. 15 Euro. Deutsch: «Schatz, ich geh zu Charlie!». Residenz Verlag 2017, 144 S., ca. 19 Euro.

Catherine Meurisse: «La Légèreté». Dargaud 2016, 136 S., ca. 20 Euro. Deutsch: «Die Leichtigkeit». Carlsen 2016, 144 S., ca. 29 Franken.

Luz: «Catharsis». Futuropolis 2015, 128 S., ca. 15 Euro. Deutsch: «Katharsis». S. Fischer 2015, 128 S., ca. 24 Franken.

Charb: «Lettre aux escrocs de l’islamophobie qui font le jeu des racistes». Editions Les Echappés 2015, 96 S., ca. 14 Euro. Deutsch: «Brief an die Heuchler: Und wie sie den Rassisten in die Hände spielen». Tropen Verlag 2015, ca. 17 Franken.

Emmanuel Todd: «Qui est Charlie?». Seuil 2015, 252 S., ca. 18 Euro. Deutsch: «Wer ist Charlie?». C.H. Beck 2015, 236 S., ca. 22 Franken.

Nicolas Truong (Hrsg.): «Penser le 11 janvier». Editions de l’Aube, La Tour d’Aigues 2015. 208 S., ca. 12 Euro.

Benjamin Berton: «J’étais la terreur». Edition Christophe Lucquin 2015, 220 S., ca. 18 Euro.

Marie Bordet, Laurent Telo: «Charlie Hebdo, le jour d’après». Fayard 2017, 285 S., ca. 35 Franken.

Denis Robert: «Mohicans». Julliard 2015, 306 S., ca. 20 Euro.

Zum Autor

Marc Zitzmann lebt in Paris, er ist als freier Journalist unter anderem für die FAZ und die «NZZ am Sonntag» tätig. Für die Republik hat er bereits über die französische Internetzeitung «Mediapart» geschrieben und über eine Gruppe, die weltweit mit ihrem Feuerwerk für Aufsehen sorgt.

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